17 | Schmerzende Herzen
Ich begutachtete das Armband, das ich inzwischen schon seit einem Monat um mein Handgelenk trug. Seit zwei Wochen mussten wir zwei Tage die Woche eine Schuluniform tragen. Das war lästig, aber Bash hatte sich wenigstens dafür durchgesetzt, dass Schülerinnen keinen Rock, sondern ebenfalls Hosen tragen durften. Das hatte mich überrascht, aber es war sein offizielles Friedensangebot an mich gewesen. Ich fand zwar, dass eine Entschuldigung vielleicht nicht unbedingt der richtige Grund war, um sich für so etwas durchzusetzen, aber er hatte es getan und das war alles, was zählte. Beweggründe konnten sich noch immer ändern.
Mittlerweile war es nicht mehr so heiß und die ersten sahen das schon als Möglichkeit, sich in überdimensionalen Pullis und Jogginghosen zur Schule zu begeben. Ich fand das amüsant, denn River und ich waren praktisch die einzigen, die noch immer in T-Shirts zur Schule kamen. Zu ihm hatte sich mein Verhältnis irgendwie verändert, denn ich unternahm viel mehr mit ihm. Ich mochte seine Gesellschaft, vor allem, weil er mich immer zum Lachen brachte. Das Schönste war, dass er selbst viel mehr lachte. Er kam zwar noch immer nicht mit zu unseren Beachvolleyball-Sonntagen, aber ich hatte gemerkt, dass da mehr dahintersteckte, also ließ ich ihn mit dem Thema einfach in Ruhe. Genau wie wir generell nur selten über seine Familie sprachen. Sie war ein Tabuthema.
»Am Samstag musst du deine Zeit für mich einplanen«, informierte mich Deli, als ich über Mittag wieder an unserem Tisch saß. River hatte es sich neben mir gemütlich gemacht und las irgendeine Lektüre, weil er schon fertiggegessen hatte. Er saß nicht immer bei uns am Tisch, meistens waren wir beide nämlich draußen. Teilweise leisteten meine Freunde uns Gesellschaft, aber ihnen war es mittlerweile einfach zu kalt draußen. Ich aß mindestens zwei Mittage die Woche mit ihnen, einfach weil ich unsere Freundschaft nicht vernachlässigen konnte. Irgendwie hatte ich es geschafft, dass River sich auch wieder zu uns gesellte uns seitdem herrschte nicht mehr so eine feindselige Stimmung zwischen ihm und meinen Freunden. Er hielt sich zwar noch immer ein wenig zurück, aber das lag daran, dass er sie nicht wieder so provozieren wollte. Frankie nannte er zwar noch immer Frankenstein, aber nach der Geschichte mit Emmet war sie auch nicht mehr so streng mit ihm, weil sie dankbar war, dass nicht sie zu seinen Eltern hatte gehen müssen. Denn sie wäre womöglich noch schlechter aufgenommen worden als River und das hatte etwas zu bedeuten.
»Wieso denn?«, wollte ich wissen. Sogar River sah von seinem Buch auf. Samstage waren unsere Tage. Es war zum Ritual geworden, dass wir dann immer etwas zusammen machten, auch wenn wir meistens nur irgendwo auf einer Wiese saßen, picknickten und lernten.
»Weil ich eine Pyjama-Party mache. River, du bist auch eingeladen. Addie hat Geburtstag und da muss ich beinahe schon etwas für sie planen.«
Weil Deli und Addie irgendwie zusammengekommen waren, sobald klar wurde, dass Addie auf Mädchen – ja sogar ganz spezifisch auf Delilah – stand. Denn wieso sollte man mit einer Beziehung warten, wenn man wusste, dass man verliebt war?
»Und das organisiert sie nicht selbst?«, wollte River stirnrunzelnd wissen. Was ein riesiger Fortschritt war, weil es bedeutete, dass er sich von sich aus in eine Konversation verwickelte.
»Nein, natürlich nicht! Ich habe ihr gesagt, dass ich das für sie machen möchte. Wie kommst du darauf?«, entgegnete Deli. Ihr Ton hatte etwas Defensives angenommen und ich betete inständig, dass sie nicht mit River zu streiten begann. Ich wollte nicht schon wieder einen Rückschritt verzeichnen.
»Weil Adley Partys liebt. Und noch mehr liebt sie es, die selbst zu veranstalten.«
»Was? Ehrlich? Woher weißt du das?«
River zuckte mit den Schultern. »Ich war auf unzähligen Partys von ihr. Das Mädel war echt eine Partymaus, als wir noch auf die andere Schule gegangen sind.«
Ich war definitiv nicht die Einzige, die River nach dieser Aussage mit offenem Mund anstarrte. Das war auch eine Sache, an die man sich gewöhnen musste: Es gab so viele Dinge, die ich noch immer nicht über den wunderschönen Jungen mit den kupferbraunen Augen wusste, und er erzählte sie immer in den Momenten, in denen ich es am wenigsten kommen sah. Natürlich hätte man eins und eins zusammenzählen können, denn ich erinnerte mich noch an den Tag, an dem Bash zu dieser Schule gewechselt hatte und ich ihn zum ersten Mal gesehen und etwas länger angestarrt hatte, als vielleicht angemessen war. Wenn Bash hierhin gewechselt hatte, musste River es logischerweise auch getan haben. Addie war erst ungefähr ein Jahr später an die Callisto High gewechselt. Das erklärte auch, wieso Addie so gut mit Bash befreundet war, obwohl man sie kaum zusammen sah, wenn sie nicht gerade im Unterricht saßen. Sie kannten sich von früher.
»Echt? Das wussten wir gar nicht! Addie hat mal erwähnt, dass sie mit dir und Bash auf eure alte Schule gegangen ist, aber nicht, dass sie sich seit dieser Zeit so sehr verändert hat«, gab Deli perplex von sich, worauf River ironisch auflachte.
»Sie ist definitiv nicht die Einzige, die sich verändert hat. Nur ist sie die Einzige, die es sich auch ausgesucht hat.« Ein Tabuthema. River wollte nicht mehr darüber erzählen. Ich sah Illian an, dass er River darüber ausquetschen wollte, selbst Frankie sah ausnahmsweise einmal neugierig aus. Also musste ich das Thema wechseln.
»Aber River und ich feiern am Samstag den das Ende des ersten Monats!«, platzte es aus mir heraus, weil mir nichts Besseres einfiel. Damit lagen wohl alle Blicke auf mir.
»Wovon?«, wollte Frankie wissen. »Bist du etwa schwanger geworden, ohne uns etwas zu sagen?«
Meine Wangen fingen Feuer, während ich vehement den Kopf schüttelte. »Natürlich nicht, du Dummerchen! Es geht dabei um unseren offiziellen Freundschaftsbeginn.«
Ausdrücklich schüttelte ich mit meinem Armband, an welchem noch alle Perlen befestigt waren. Das war etwas, worauf ich stolz war. Weder River noch ich hatten Perlen weggenommen – nicht etwa, weil wir das nicht wollten und zu wenig streng mit uns selbst waren, sondern weil wir uns in dieser Zeit wirklich gut verstanden hatten.
»Warte mal, ihr habt deshalb diese Armbänder an? Ich möchte auch so ein schickes Teil! Außerdem ertrage ich dich schon seit Jahren!«, meckerte Illian, der den ganzen vergangenen Monat wohl auf dem Schlauch gestanden hatte. Er zerrte an seiner Krawatte, die er eigentlich nicht einmal tragen musste. Irgendwie machte er sich das Leben damit selbst schwer, weil er sie nicht binden konnte, aber es trotzdem jedes Mal versuchte und sich dabei selbst jedes Mal ein wenig abwürgte. Ich blickte wieder zu River, den ich dank den Hemden zum ersten Mal in etwas anderem als schwarzer Kleidung sah. Ich konnte auch zum ersten Mal nachvollziehen, wieso er der Welt den Gefallen tat und von sich aus nur dunkle Sachen trug. Helle Sachen ließen sein markantes Gesicht und die dunklen Augen nur noch mehr hervorstechen.
»Du starrst«, neckte mich River, der sich ganz nahe zu mir gelehnt hatte, so leise, dass nur wir beide es hörten. Ich wurde augenblicklich rot wie eine Tomate, was ihm nur ein Glucksen entlockte. »Es ist aber süß.«
Ich rollte mit den Augen. »Das habe ich gar nicht getan!«, log ich.
»Hört auf zu flirten, Leute!«, nörgelte Frankie, die uns ein wenig angewidert ansah. Ich konnte sie vollkommen verstehen. Ich selbst hätte vermutlich auch so reagiert, wenn sich jemand in meiner Gegenwart so verhalten hätte. Aber gleichzeitig verstand ich es auch nicht, weil wir gar nicht flirteten. Oder?
»Ja, genau. Hört auf, denn diese Diskussion hier ist wirklich wichtig. Kommt ihr etwa nicht zur Party?«, wollte Deli ein wenig verzweifelt wissen, worauf ihr Zwilling nur mit den Augen rollte.
»Sie beginnen jetzt mit den Kindern, Del. Ein Monat auf Sex-Entzug und jetzt die volle Portion«, meinte er, während er sich für besonders lustig hielt. Frankie verschluckte sich so hart, dass sie Illian ihr Wasser quer über den Tisch ins Gesicht spuckte. Was er mehr als nur verdiente, wenn man mich fragte. Alle hielten Illian immer für den netten, süßen, blonden Kerl von nebenan, aber er hatte es mit seinen Kommentaren in sich. Vor allem sagte er alles mit einem Lächeln oder Grinsen, sodass die meisten seine Sprüche nicht ernst nahmen. Meistens erging es mir ebenfalls so, aber das war wirklich ein unangebrachter Satz von ihm gewesen.
»Das ist nicht witzig!«, zischte ich, während Illian darüber lachte, dass meine Wangen Feuer gefangen hatten. Selbst Rivers Wangen waren rötlich gefärbt, allerdings sagte er nichts dazu. Ich hatte schon öfter beobachtet, dass River sich in unangenehmen Situationen bis aufs Äußerste anspannte, allerdings kein Wort verlor. Er sprach nicht viel, wenn er verschiedene starke Emotionen aufs Mal fühlte.
»Beruhig dich. War nur ein Witz. Die beiden werden schon kommen, vielleicht einfach ein wenig später, nicht wahr?«, mischte sich Illian besänftigend wieder ein. Er war absolut nicht witzig. Trotzdem nickten River und ich synchron und damit war die Situation geklärt.
»Erläutere mir deine Pläne, werte Lady«, frotzelte River, als ich ihm einen Regenmantel zuwarf. Okay, vielleicht war es nicht wirklich ein Regenmantel, sondern vielmehr ein Plastikanzug, den man sich über den Kopf ziehen konnte, damit man vor dem Regen geschützt war.
»Auf gar keinen Fall, holder Chauffeur«, entgegnete ich lächelnd und zog mir meinen eigenen über den Kopf. Zum ersten Mal seit langem hatte ich meine Kamera wieder dabei. Ich hatte seit meinem Streit mit Bash keine Fotos mehr gemacht, weil ich kaum mehr früh genug aufstand, um es zu einem Training zu schaffen. Die Fotos hätten sich angefühlt wie Lügen und ich hielt nichts von Lügnern, also beließ ich es lieber dabei, keine Fotos zu machen. Und weil ich von Bash keine Bilder mehr schoss, hatte ich kaum mehr einen Anlass gehabt, ein neues Projekt zu finden.
Ich hatte aber vor, das zu ändern. Da war es mir als eine gute Idee erschienen, meine Kamera zu meinen Ausflügen mit River mitzunehmen. Denn mir war aufgefallen, dass Bilder nicht die perfekte Beleuchtung haben mussten, sie mussten nicht einmal eine besonders gute Kulisse haben. Aber es war nicht schlecht, wenn sie Momente festhielten. Es war nicht schlecht, wenn sie für Erinnerungen standen, für die bedeutendsten Augenblicke. Ich fand nämlich auch, dass ich dringend neue Bilder an die Wand kleben musste – wofür ich in erster Linie mal neue Bilder machen musste. Womit ich heute beginnen würde.
»Diese Plastiksäcke in Menschen-Größe sind die hässlichsten Dinge, die ich jemals gesehen habe«, beklagte sich River, der anscheinend verstanden hatte, dass er das Plastik anziehen musste.
»Gar nicht wahr! Du siehst großartig aus«, meinte ich und schenkte ihm dabei ein breites Grinsen. Für mich selbst hatte ich eine Jacke in Knallpink ausgewählt, River hatte leider ein sehr ausgeprägtes Kotzgrün erwischt. Zu meiner Verteidigung musste ich aber sagen, dass die Farbe auf der Verpackung mit Kleeblattgrün angeschrieben war. Es war schlussendlich nicht meine Schuld, dass ich River eine Glücksjacke hatte besorgen wollen. Jetzt musste er sich halt als wandelnde Kotze damit zufriedengeben. Ich versuchte nicht zu lachen, als er den Regenmantel verurteilend ansah, aber es war süß, wie er versuchte, dankbar zu sein, obwohl der Mantel potthässlich war. Aber am Ende des Tages spielte das ohnehin keine Rollte, solange er dafür sorgte, dass River nicht schon wieder krank wurde.
»Das glaubst du doch selbst nicht«, seufzte er, ehe er ausstieg und die Tür hinter sich zuschlug. Ich stieg ebenfalls aus. River hielt mir meine Autotür auch diesmal nicht auf. Er tat es nie. Mittlerweile fragte ich mich, ob das einen Grund hatte, denn sonst hielt er mir alle Türen auf. Die Tür zur Cafeteria. Die Tür zur Bibliothek. Die Tür zu Diners.
»Wenn du dir jetzt eine Zigarette anzündest, nehme ich dir die Regenjacke weg!«, drohte ich River, als ich zu ihm sah und entdeckte, dass er eine Zigarettenschachtel zur Hand genommen hatte. Ich hatte es mir vor einigen Wochen zu meiner persönlichen Aufgabe gemacht, ihn vom Rauchen wegzubringen. Riv hielt meine halbherzigen Drohungen zwar immer für sehr unseriös, äußerte sich oftmals allerdings nicht dazu und gehorchte mir. Was momentan empfehlenswert war, weil der Regen unglaublich stark auf uns einschlug und wir ohne die Plastikmäntel, die praktischerweise Kapuzen hatten, schon nach wenigen Sekunden nass gewesen wären.
»Meinetwegen. Wehe wir verpassen die Einhörner-Party von Delilah«, gab er zurück, worauf ich meine Augenbrauen in fragend in die Höhe zog. Er klang beinahe, als würde er sich auf diese Party freuen. Oder vielleicht mochte er Einhörner einfach. Es würde zu ihm passen. Ich stellte mir gerne vor, dass River praktisch nur schwarze Kleidungsstücke besaß, weil er zuhause einen Haufen Kleidung aus seiner Kindheit hortete, die allesamt mit kitschigen Motiven wie Einhörnern oder Wölkchen bedruckt waren.
»Ich dachte, dass du Delilah nicht magst?«
»Habe ich nie gesagt. Sie ist einfach genauso anstrengend und energiegeladen, wie der Rest deiner Freunde und manchmal fehlt mir die Energie dafür, mich damit auseinanderzusetzen.«
»Ich bin auch energiegeladen!«, protestierte ich, weil ich ihm dieses Argument nicht ganz glaubte.
»Du schläfst mir im Auto beinahe jedes Mal ein, Süße. Unter energiegeladen verstehe ich da etwas anderes«, erklärte er, worauf ich nur schmollen konnte. Er hatte zu einem gewissen Grad schon Recht. Leider. Aber sonst hatte ich viel Energie.
»Was auch immer. Hast du schon eine Idee, was wir heute tun?«, fragte ich ihn, um auf unseren Ausflug zu sprechen zu kommen.
»Weil du mir so viel verraten hast?«, schoss er ironisch zurück, worauf ich meine Augen verdrehte.
»Du wärst ja wohl kaum mitgekommen, wenn ich dir verraten hätte, dass wir heute Schnecken suchen.«
River sah mich an, als würde er sterben. Entsetzen hatte sich noch nie so offensichtlich auf seinem Gesicht gespiegelt. »Ich schwöre dir, dass du die Hälfte deiner Perlen verlierst, wenn du das ernst meinst«, hauchte er. Er klang dabei so heiser, dass mir mein Herz in die Hose rutschte. Oh oh. Irgendwie war mir nicht aufgefallen, dass er mittlerweile so nahe vor mir stand.
»Das war nur ein Witz...indirekt«, versuchte ich ihn in einem vorsichtigen Ton aufzumuntern. Darauf wechselte sein Entsetzen zu Wut. River schloss seine Augen und atmete einige Male tief ein und aus. Ich hielt währenddessen die Klappe. Ich hatte offenbar schon genug Mist angestellt, obwohl das eigentlich nur ein paar harmlose Worte gewesen waren. Es war schwierig einzuschätzen, was River dachte, wenn er sich so verschloss.
»Okay. Ich bin nicht wütend auf dich, bevor du das falsch verstehst«, seufzte er nach ein paar Minuten, die er gebraucht hatte, um sich zu sammeln und mir fiel sofort ein Stein vom Herzen, denn er klang tatsächlich so, als würde er es ernst meinen. Er war nicht wütend auf mich. Es hörte sich vielmehr danach an, als wäre er wütend auf die ganze Welt, was eigentlich noch viel schlimmer war.
»Willst du darüber reden?«
»Nein.«
»Wirst du es trotzdem machen?«
»Ja.«
Wieder seufzte River, lachte dann aber ironisch. »Es kann sein, dass ich dir damit den ganzen Abend verderbe, Darling.«
Ich seufzte. Er war viel zu hart zu sich selbst. Ich hatte das Gefühl, dass er sich nicht erlaubte, emotional oder insbesondere traurig zu sein, weil er für eine lange Zeit niemanden gehabt hatte, der ihm zuhörte. Es war so, als wäre er es sich gewohnt, dass seine Sentimentalität eine Belastung für andere war und dass er sie deswegen so selten offenbarte. »Du verdirbst mir nicht den Abend, indem du über deine Probleme redest, River. Ich bin gerne für dich da.«
Weil ich dich jetzt schon viel lieber habe, als gut für mich ist. Das sagte ich nicht laut, aber teilweise waren Gedanken die lautesten Begleiter, die man haben konnte. »Wenn du meinst. Ich habe dir schon einmal erzählt, dass Bash und ich bei verschiedenen Eltern wohnen. Und ich habe auch gesagt, dass er bei unserem Dad wohnt. Dieser Kerl ist genau genommen aber nur sein Dad. Ich bin ein Jahr älter, aber im Gegensatz zu Bash habe ich meinen Vater nie kennengelernt. Ich hatte nie das Glück dazu. Deshalb habe ich ihm auch das gute Leben überlassen und gebe mich stattdessen mit meiner Mutter ab.«
Er gab sich mit seiner Mutter ab? War das nicht ein wenig hart formuliert? Die Frau war doch nur krank, was sie nicht automatisch zu einem schlechten Menschen machte. Ich konnte nichtwirklich nicht nachvollziehen, wieso River mit solcher Verachtung über sie sprach. Aber ich sagte nichts, sondern ließ ihn fortfahren. Vermutlich war da mehr dran, als ich mir vorstellen konnte.
»Bevor sich die beiden getrennt haben, hatten wir eigentlich ein gutes Leben. Stell dir vor, wir waren eine richtige Familie. Hättest du uns vor dem Umzug kennengelernt, würdest du uns jetzt kaum wiedererkennen. Aber das ist sowieso eine andere Geschichte. Jedenfalls hatten wir eine großartige Kindheit. Ich erinnere mich nicht an viel, aber wir hatten eine echte Obsession, was das Sammeln von Schnecken betraf. Wir hatten so viele gesammelt, dass wir zuhause sogar ein Terrarium für die Teile bauten.«
Ein trauriges Lächeln umspielte Rivers Lippen. Für ihn schien die Erzählung schon fertig zu sein, aber ich verstand es noch immer nicht. »Wieso hast du also was gegen das Schneckensammeln?«, wollte ich ein wenig verwirrt wissen. Das waren doch eigentlich positive Erinnerungen, nicht?
»Weil ich nicht an diese Zeit erinnert werden will. Es schmerzt zu wissen, dass es gute Zeiten gegeben hat.«
»Weil jetzt alles so schlimm ist?«
River nickte knapp und mied meinen Blick. »Weil ich keine Ahnung habe, wie alles dermaßen aus dem Ruder laufen konnte. Ich wünsche mir teilweise, wieder ein Junge zu sein, denn ich weiß echt nicht, wie lange ich den ganzen Mist noch ertrage.«
Das klang...schlimm. Und ich hatte keine Ahnung, was ich tun konnte, um ihm zu helfen. »Hat sich denn wirklich so viel verändert?«, fragte ich vorsichtig nach, auch wenn ich beinahe glaubte, dass River mich nicht gehört hatte. Inzwischen war der Regen so stark, dass er uns – in Kombination mit dem Wind – die Kapuzen von den Köpfen gefegt hatte und man sich über den Lärm kaum mehr verstehen konnte. Es wirkte fast so, als würde der Himmel ebenfalls um Rivers Vergangenheit weinen, was mir mein Herz ein wenig brach. Es war verrückt, wie viel man in einen Regen hineininterpretieren konnte, wenn man traurig für jemanden war.
»Alles hat sich verändert, Darling. Und während Bash überall die Sonne abkriegt, herrsche ich über die Dunkelheit. Oder die Dunkelheit herrscht über mich, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob das überhaupt einen Unterschied macht. Irgendwer hat mir einst gesagt, dass wir wie Ying und Yang sind. Ich kann dir versprechen, dass ich noch nie etwas Zutreffenderes gehört habe. Vor allem, weil wir früher nur ein einziger, weißer, positiver Kreis gewesen sind. Dann sind die Probleme gekommen und irgendwer musste die Verantwortung übernehmen. Irgendwer kriegt immer die schwerere Last ab. Teilweise wünsche ich mir, dass ich das alles meinem Bruder überlassen hätte. Aber der weiß vermutlich nicht einmal, wie sich das Wort Probleme buchstabieren lässt.«
Ich schluckte. »Wieso teilt ihr euch die Sorgen und Probleme nicht? Die Last ist doch viel leichter zu ertragen, wenn ihr sie zu zweit übernehmt.«
River schnaubte. »Der Idiot hat das auch schon vorgeschlagen. Weißt du, was meine Antwort war?« Es klang wie eine rhetorische Frage, dennoch schüttelte ich den Kopf. »Unsere Probleme würden sich nicht halbieren, sondern verdoppeln. Ich hatte alles. Wir hatten alles. Ich dachte einfach nie, dass ich es verlieren würde und deshalb stecke ich jetzt so tief in der Scheiße. Bash da mit mir hereinzuziehen wäre moralisch nicht verkraftbar. Es ist schon so schlimm genug, dass ich mir um mich selbst kümmern muss, da brauche ich mir nicht auch noch um meinen Bruder Sorgen zu machen.«
Das konnte ich nachvollziehen, obwohl das ganze Thema nur schwammig in meinem Kopf Sinn machte. Ich wusste noch lange nicht alles, auch wenn er mir bereits viel erzählt hatte. Es steckte noch viel mehr dahinter. Rivers Schmerz war so tief verborgen und vergraben, dass alle Geheimnisse unter der Oberfläche brodelten, weil sich die Probleme bei ihm anscheinend nur noch anhäuften. Und es war klar, dass die ganze Sache irgendwann aus ihm hervorbrechen würde, einfach weil jeder Vulkan irgendwann ausbrach. Die Kunst war danach nur noch, aus der Lava etwas Schönes zu formen, statt sich davon verkohlen zu lassen.
»Du musst nicht allein gegen die Welt kämpfen, River. Ich werde dir dabei helfen. Ich bin für dich da«, sagte ich, um ihm zu zeigen, dass er sich wenigstens auf mich verlassen konnte. Die Worte fühlten sich an wie ein Mantra, weil ich sie ihm so oft in einer ähnlichen Variation sagte, aber er nahm sie immer auf, als wären sie etwas Kostbares. »Sag mir, was ich tun soll, und ich werde es machen, um dir zu helfen.«
River sah aus, als würde er gleich weinen, während ich es schon tat. Er sah er vermutlich nicht, weil er es für Regen hielt, aber ich spürte, dass mir Tränen aus den Augen quollen. Es war beinahe unerträglich, ihn so leiden zu sehen, ohne zu wissen, wie ich ihm seine Probleme wenigstens ein bisschen erleichtern konnte.
»Ich glaube nicht, dass du mir helfen kannst, Dar«, meinte er irgendwann, zwischen den verlangsamten Herzschlägen meines stechenden Herzens. »Einfach, weil es kaum mehr etwas gibt, das mir helfen könnte.«
Hat River da wohl recht?
Glaubt ihr, dass man ihm nicht helfen kann?
Habt ihr eigentlich Vermutungen, woher sein ganzes Familiendrama stammt und was da genau passiert ist?
Vermutungen, wie Delilahs/Addies Party laufen wird?
Ich wünsche euch auf jeden Fall noch ein schönes Wochenende (naja ab morgen Abend) ❤️
Read ya soon, racoons 🦝
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