Kapitel 5
Wenn ich noch ein Wort über das steigende Osteoporose-Risiko höre, bekomme ich vasomotorische Beschwerden. Und Thalia andere Probleme, und zwar mit Gerda, der Gereiztheit. Die ganze Taxifahrt über habe ich mein Leid heldenhaft ohne ein einziges Wimmern ertragen, aber jetzt reicht es.
Ich öffne gerade den Mund, als der Wagen hält. »Wir sind da«, sagt der Fahrer. Erleichtert steige ich aus und schnappe mir mein Gepäck, dann sehe ich mich um. Einige Meter von mir entfernt sehe ich ein Eisentor. Es ist klein, nicht viel größer als ein normales Gartentor, aber mit den schmiedeeisernen Schnörkeln und der gepflegten Hecke an beiden Seiten hat es etwas Zauberhaftes.
»Einfach dem Kiesweg nach«, erklärt uns der Taxifahrer ungefragt. »Und immer schön lächeln!« Mit diesen Worten fährt er davon und lässt mich mit dem Krümelmonster alleine. Kurz entschlossen stoße ich das Tor auf und gehe los. Mein alter Rollkoffer ächzt und stöhnt und wirkt, als würde er bald auseinander fallen, aber ich achte nicht auf ihn. Bei dem Anblick, der sich mir bietet, hat sich mein Ärger verflüchtigt. Ich fühle mich wie in einem kleinen Schlossgarten.
Smaragdgrünes, gepflegtes Gras wächst neben dem Weg. Alte Bäume strecken ihre Äste in den Himmel, als wollten sie nach den Wolken greifen. Weiter hinten glitzert ein Teich. Einige gepflegte Büsche und alte Bänke sind zu sehen. Wer genau hinsieht, könnte bestimmt kleine Herzchen in meinen Augen aufploppen sehen. Oder Scones, denn ich sehe mich schon in einem altmodischen Kleid im Garten sitzen und Tee trinken. Mein Grinsen wirkt wahrscheinlich grenzdebil, aber es ist mir egal. Das hier ist mein persönlicher Walk of Fame.
Mein Blick gleitet bewundernd von Jasmin zu Rittersporn (glaube ich zumindest), von Mohn zu einer Ente, die malerisch zwischen den Pflanzen watschelt und mich aus ihren gruseligen Augen beobachtet, von Flieder zu- Warte, was? Spulen wir nochmal ganz kurz zurück.
Meine Augen finden sie, die Ausgeburt der Hölle, das Geschwisterkind des Teufels. Hinterlistige, kleine Augen starren mich berechnend an, ruhen auf mir, blicken bis in die Tiefen meiner Seele.
Ab diesem Moment wird es zu meinem Walk of Shame. Agnes Angst lässt mich erstarren wie eine Salzsäule und meine Finger den Griff meines Koffers umklammern, bis sie weiß werden.
»Ruby?«, drängt sich eine Stimme in mein Bewusstsein, die ebenso unangenehm ist wie die blitzenden Augen des Enterichs.
Noch nie war ich so dankbar für die Existenz des Krümelmonsters. »Alles gut«, antworte ich. »Schau mal, eine Ente.« Ich lächle tapfer und setze mühsam einen Fuß vor den nächsten. Der Blick des Vogels bohrt sich in meinen Rücken. Er liest meine Gedanken, durchstöbert mein Gehirn nach dunklen, alten Erinnerungen wie die Schlaftabletten-Affäre (auch bekannt als die Nacht, in der meine Oma bewies, dass sie eigentlich unsterblich ist), lässt sie gewaltsam an die Oberfläche sickern und sichert mir einen Platz in der Hölle zwischen Stalin und der Jury von Deutschland sucht den Superstar zu.
Thalia atmet aus. »Oh, alles ist gut. Ich dachte schon, du kannst dich nicht mehr bewegen. Bewegungsunfähigkeit ist eines der ersten Anzeichen für Parkinson.«
Ich habe schon nach dem etwas etwas zu enttäuscht klingendem »Oh« aufgehört zuzuhören und gehe weiter den Kiesweg entlang auf das Herrenhaus zu. Der Enterich ist verschwunden, wie ich bei einem verstohlenen Blick über die Schulter feststellen kann. (Hoffentlich taucht er nicht plötzlich hinter dem Rundbogeneingang des Hauses wieder auf- oder noch schlimmer: In meinem Rollkoffer.)
Ich sollte das vielleicht erklären. Ich leide an einer sogenannten Anatidaephobie, der Angst, von Enten beobachtet zu werden. Glücklicherweise hat es mich nur leicht getroffen, und nein, wenn ich tagelang nicht aus dem Haus gehe, liegt es nicht daran, dass ich Angst habe, eine Ente könne hinter der nächsten Ecke lauern, danke der Nachfrage.
Apropos Haus: Inzwischen habe ich mein Ziel erreicht. Bedächtig klopfe ich an die schwere Holztür. So müssen sich die Engländer im 19. Jahrhundert gefühlt haben. So herrlich britisch und - ich mache quickend einen Sprung nach hinten- geradewegs in Thalia, die wiehernd nach links hüpft und dabei aufgrund ihrer imaginären Osteoporose mit dem Knöchel umknickt- als sich die Türe wie durch Geisterhand öffnet und jemand von drinnen erscheint.
»Wer... Oh, ich habe gerade die letzten Teilnehmer gefunden! Auf Gustavo 2.0 ist aber auch kein Verlass. Das nächste Mal engagiere ich einen richtigen Taxifahrer... Ruby Roth und Thalia Ficht, richtig?« Ich kneife die Augen zusammen. Diese braunen Augen, der leichte Bartschatten und die lockigen, kastanienbraunen Haare... Der Mann in der Tür kommt mir bekannt vor.
Irgendetwas rumort in den Tiefen meines Hirns. Ich versuche, die Erinnerung zu greifen, aber manche meiner Erlebnisse sind wie Ben&Jerrys: Nach kurzer Zeit nicht mehr existent.
Wie durch ein Wunder bekomme ich dennoch einen Fetzen zu fassen.
Der flirtunfähige Typ. Hundert Prozent. Zwar sieht er im Tageslicht nur noch halb so gut aus wie im schwachen (Was trotzdem noch gut genug ist!), aber ich erkenne es vor allem an der Art, wie er meinen Namen ausspricht. Rübie. (Da fühle ich mich mit meinen roten Haaren ja gleich wie eine Karotte.) Diesen komischen Akzent hat nämlich auch der Mann gehabt, mit dem ich vor drei Wochen über die ganze Sache hier telefoniert habe, um klarzustellen, dass ich auf keinen Fall Jaquline Sparrow genannt werden wollte. Daraufhin habe ich erklären müssen, wie dieser Name überhaupt auf die Anmeldung gekommen ist. Das ist vielleicht peinlich gewesen.
Und ebenjener Typ schaut mich jetzt erwartungsvoll an und wartet auf eine Antwort.
»Äh, ja.« Ich werfe ihm noch einmal einen Blick zu und trete ein.
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Von innen sieht das Haus ganz anders aus als von außen- und das meine ich nicht positiv. Meine leichte, angenehme Aufregung über das britische Flair des Gartens hat sich spätestens nach den vielen unbestrichenen Ziegelwänden, den unfertigen Böden und den schmutzigen Fenstern, an denen vorbei wir in den Essraum gegangen sind, in Luft aufgelöst. Von dem Glücksgefühl wollen wir gar nicht erst anfangen. Das ist schon beim Enterich verschwunden.
Zwar sehen nicht alle Räume unfertig aus- manche sind sogar ziemlich schön und ich könnte mir vorstellen, gemütliche Regentage in ihnen zu verbringen- aber das gesamte Haus macht einen eher düsteren Eindruck. Obwohl es Mittag ist und die Sonne sehr hoch am Himmel steht, liegen manche Zimmer genau so, dass sie den ganzen Tag lang im Schatten sind und man das Gefühl hat, man befände sich in einer Höhle. Das würde ja kein Problem sein, wäre das Haus mit genug Lampen ausgestattet. Was es nicht ist. Bis jetzt habe ich nur das Untergeschoss besichtigt und hier war nur jeder zweite Raum komplett eingerichtet und vielleicht die Hälfte davon hat funktionierende Lichter. Nein, da wäre Guadalupe wirklich besser gewesen.
Thalia und ich sind genau richtig zum Mittagessen gekommen. Gustavo- flirtunfähig und Franzose (Man bemerke den Widerspruch!) ,was die Artikulation meines Namens erklärt, hat uns während der Führung erzählt, dass dieser Teil des Hauses sowieso nicht gefilmt werden würde und die Zuschauer somit keinen blassen »Schümmer« von der Gesamtverfassung des Hauses hätten. Die gesamten Szenen würden sich entweder im zweiten Stock, Keller oder Garten abspielen.
Vor der Tür des Speiseraums hat er uns stehen lassen. Wenn man Gustavo Glauben schenken darf, ist dieses Zimmer das schönste im ganzen Untergeschoss. Keiner von uns macht Anstalten, sich zu bewegen. Aus dem Raum hört man leise Stimmen und es riecht nach Schweinsbraten. (Welcher hoffentlich Beilagen für mich hat, schließlich bin ich kein Allesfresser.) Der Flur, in dem wir stehen gelassen wurden, ist sonnenlicht- und lampenlos. Die Dunkelheit scheint uns beide ein wenig apathisch zu machen. Ich bin hungrig und müde von der Fahrt, Thalias Erzählungen und der ersten Führung durchs Haus. Zusätzlich tut meine Schulter von der schweren, rosafarbenen Umhängetasche weh, die ich die letzte Dreiviertelstunde pausenlos getragen habe.
Seufzend schiebt Thalia die schwere Schiebetür zur Seite. Ich glaube, sie ist genauso enttäuscht und erschöpft wie ich. Gleichzeitig quetschen wir uns durch die Tür, was keine gute Idee ist, da Gustavo uns nicht erzählt hat, wo wir unser Gepäck abstellen können und wir das Zeug folglich immer noch mit uns rumschleppen. Stirn an Stirn, Bauch an Bauch und Umhängetasche an Rucksack versuchen wir, uns möglichst grazil durch den kleinen Spalt zwischen Schiebetüre und Wand nach innen zu bewegen. Ich versuche, die Situation noch zu retten, indem ich zurücktreten will, um Thalia den Vortritt zu überlassen, aber die Türr klemmt. Verdammtes Ding! Wieso ist in einem alten Herrenhaus überhaupt eine Schiebetüre inkludiert?! Ächzend versuchen wir, wieder in den Flur zu treten, aber mein Rollkoffer zwischen uns macht das unmöglich. Wir werden erst erlöst als jemand es schafft, die Tür weiter nach hinten zu schieben und uns somit mehr Raum zu geben. Ich mache einen Schritt in den Raum und lasse meine Umhängetasche fallen, wobei ich Thalias Fuß treffe. Die schnaubt vorwurfsvoll.
Ich wage einen Blick in den Raum. Er ist in einem zarten Orangeton gestrichen und mit gemalten Bildern von Seen und Bergen dekoriert. In der Mitte hängt ein riesiger (mit Strom versorgter) Kronleuchter. Nicht so meins, aber auf jeden Fall besser als das, was ich bisher vom Haus mitbekommen habe.
In der Mitte des relativ großen Zimmers steht eine lange Tafel, an der ungefähr fünfzehn Leute sitzen. Sie alle starren uns an. Ich werde rot. Aller Anfang ist schwer will mir Pia, die als einzige positive Emotion noch nicht aufgegeben hat, weismachen. Sprichwörter kann ich jetzt nicht gebrauchen knurre ich gedanklich.
Als wollte das Universum mich verspotten, ergreift jetzt der Typ, der gerade eben Thalia und mir aus unserem Dilemma geholfen hat, das Wort.
»Das wird einen riesigen blauen Fleck geben. Wenn sie nicht aufpasst, wird deine Freundin auf großem Fuß leben. Auf großem, geschwollenem Fuß.«
Thalia gibt einen entnervten Laut von sich. »Freundin? Sie hat mich vorhin fast erdrückt. Außerdem hat sie Parkinson.« Sie lässt sich auf einen freien Platz am Tisch fallen. Ich stelle mein Gepäck neben Thalias ab und setze mich ebenfalls an den Tisch. Dummerweise ist der letzte freigebliebene Stuhl direkt neben dem Krümelmonster. Ein paar der am Tisch sitzenden Leute starren uns immer noch an, aber die meisten haben wieder ihre Gespräche aufgenommen. Ich beuge mich nach rechts zu meiner anderen Sitznachbarin. »Hey, ich bin Ruby. Ich nehme mal an, der Auflauf hier besteht aus allen Teilnehmern der Show?« Sie lächelt mich an und drückt meine Hand, die ich ihr hinstrecke.
»Clementya. Ja, heute ist unser erster und letzter Abend, den wir ohne Kamera verbringen sollen. Morgen lernen wir uns offiziell kennen.«
Das habe ich nicht gewusst.
»Und wo werden wir denn schlafen? Im Keller? Der kam mir ziemlich groß vor.«
Sie streicht sich eine dunkle Haarsträhne hinter das Ohr. »Jeder hat sein eigenes Zimmer und die liegen hier im 2. Stock. Hat Gustavo euch die Schlafräume nicht gezeigt?«
»Nein, hat er nicht. Er hat es für nötiger empfunden, uns durch die Räume zu führen, die wirklich aus dem 20. Jahrhundert stammen. Und seitdem nie wieder betreten wurden. Außer von ihm vielleicht, er kannte nämlich jedes Spinnennetz auswendig. Vielleicht schläft er ja im Keller.«
Sie lacht. Es ist ein aufrichtiges, unverfälschtes Lachen. Orange ist mir sofort sympathisch. Vielleicht wird es gar nicht so schlimm hier, wenn die Leute in Ordnung sind. Ich lächle zurück, bis mein Blick auf das Tischset vor mir auf meinem Platz fällt. Innerhalb weniger Sekunden weiten sich meine Augen und meine Mundwinkel finden ihren Weg nach unten. Erschrocken springe ich auf und wische die Tischunterlage mit Donald Ducks aufgedrucktem Gesicht weg. Dass ich dabei Clementyas Suppenteller gleich mit vom Tisch katapultiere, fällt mir gar nicht auf. Auch Thalias Schrei entgeht mir völlig.
Was zu viel ist, ist zu viel.
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