Wir sind nur Material

  Nun schlug ich meine Augen auf und sah ihm eisern in das braune Auge. „Er ist weder Mensch noch Tier. Er ist etwas ganz Besonderes. Etwas, das nur einmal existieren wird."

Der Schäferhund seufzte auf einmal, während seine starke Haltung schlaffer wurde. Sein Blick senkte sich zum Boden hinab, bedrückt und irgendwie mit Sorgen, deren Herkunft ich nicht wissen wollte. Mir war bewusst, dass ich einer der Gründe war.

„Ich weiß nicht, wer von uns beiden mehr blind ist. Du oder ich. Dabei versuche ich alles mögliche, dich im Klaren zuhalten. Dich bei mir zu behalten, aber irgendwie glaube ich... dass du mir gerade entweichst. Und ich habe Angst, dass deine Blindheit dich in das Schicksal führen wird, das für meist jeden Fuchs bestimmt ist", flüsterte er sorgenvoll und holte tief Luft.

„Welches Schicksal?", fragte ich unruhig und musterte ihn besorgt. Seine Sorgen wurden deutlicher mehr zur Angst und diese Angst schien ihn langsam aufzufressen.

„Dass der Mensch dich tötet. Nicht unbedingt deiner, sondern irgendeiner, weil du ihnen vertraust, den Menschen. Das ist ein großer Fehler. Menschen sind grausam. Sie können nur nehmen, aber nicht geben. Sie können etwas lieben, aber stärker verletzen und hassen. Sie können breit lächeln, aber weinen am lautesten. Sie kümmern sich um unsere Welt, aber sie zerstören sie bloß, weil sie nicht mit dieser große Aufgabe umgehen können. Wir Tiere sind für sie nur zum Nutzen, aber mit Liebe verbinden sie uns sehr selten. Wenn wir ihnen nichts nutzen oder es aufgrund bestimmter Tatsachen oder Verletzungen nicht können, werfen sie uns weg. Entweder auf die Straße oder in den Tod. Wie bei ihnen wollen sie nur das Schöne und das Hässliche ignorieren sie. Wir sind für sie nichts außer Material." Er winselte zum Schluss und sein verlorener Blick verschwand irgendwo im Dorf vor uns. Er verlor sich dort, wo er mal hingehört hatte und nicht mehr würde, und er verlor sich in seiner Trauer und Sorgen, weil er nicht anders konnte.

Jonghyun war schon immer der schwächere von uns beiden gewesen.

Ich hörte die Stille auf einmal, weil man konnte sie hören, die Stille. Das wusste ich.

Sie war von der unangenehmen Sorte, vermischte sich mit Jonghyuns tiefer Sehnsucht nach seinem Zuhause und den Hass auf seinen Menschen, und ich starrte einfach in die Ferne, weil ich mein Ziel irgendwo vergessen hatte und hoffte, es irgendwo wieder zu finden.

„Wir sind es nicht wert, Füchsin. Wir sind mehr als bloß Material, und deshalb sollten wir uns nicht unterwerfen." Bei seinen Worte vergrub ich mein Gesicht tief ausatmend in seinem weichen Fell und sog seinen vertrauten Geruch von Tanne und nasser Erde ein.

„Ich weiß, ich weiß...", flüsterte ich mit Schwermut und ich wusste, dass es Jonghyuns Gedanken waren, die er gerade aussprach, und dass ich mit ihm einer Meinung war. Andererseits hatte ich einen ganz anderen Eindruck von den Menschen als er, weil er wurde von einem schon mal verletzt, ich aber nicht.

Vielleicht wollte ich das.

Von einem Menschen verletzt werden.

Ich schmiegte mein Gesicht tiefer in sein Fell, denn meine Augen brannten wieder und ich wollte diesem fürchterlichen Brennen und Schmerz in meinem Herzen entkommen.

Aber es war nicht richtig von mir, mir vorzustellen, dass er bei mir wäre und dass es nicht Jonghyuns Schnauze wäre, die mir sanft über das Fell strich, sondern seine Hand. Der Schäferhund hatte mir gestern erst erzählt, dass Menschen mit ihren Händen töteten und ich nahm an, dass sie mit diesen auch streicheln, liebkosten und trösten sowie wir mit unseren Mäulern.

Ich wollte meine Pfote in seine Hand wieder finden, doch ich vergrub sie in den feuchten Boden und der Schmerz betäubte etwas den in meinem Herzen.

Wenigstens etwas.

„Ich werde nicht zulassen, dass dich ein Mensch verletzt, Füchsin", sagte Jonghyun entschlossen und presste seinen Kopf gegen meinen. Diese Worte schmerzten, weil ich wollte es schließlich.

Von einem Menschen verletzt werden.

Es tat mir leid, dass ich ihm diesen Wunsch ruinieren würde.

~~

~~

Als ich das nächste Mal auf meinen Menschen traf, lag er eingerollt wie ein verlassenes Tier auf der Bank und offensichtlich schlief er, weil er die Augen geschlossen hielt und sein Atem regelmäßiger ging als wenn er wach wäre. Manchmal glaubte ich, er würde meine Atemzüge nachahmen, da er vergessen hätte, wie man atmete.

Er wirkte im Schlaf noch unschuldiger und liebreizender, und ich konnte mich nicht daran hindern, dass ich mich einfach in seine Arme kuschelte und ebenfalls die Augen schloss, denn auch ich war von den letzten Tage müde. Ich hatte die Nächte meistens durchgemacht, auf der Hut vor anderen, wilden Tiere und manchmal war ich einfach wachgeblieben, damit Jonghyun in aller Ruhe schlafen konnte. Mir war nach einiger Zeit aufgefallen, dass er von verrückten und grausamen Alpträume erspart blieb, wenn ich wach neben ihm lag und ihn einfach beobachtete. Es überraschte mich, was für eine starke Wirkung ich auf ihn hatte.

Ich fragte mich, ob ich dasselbe bei meinem Menschen bewirkte. Es wäre schön, wenn ich das würde.

„Oh..." Hatte ich ihn geweckt? „Mein kleiner Fuchs, du bist endlich da. Ich habe schon seit 2 Tagen auf dich hier gewartet. Irgendwie..." Unerwartet legte er seinen Arm um mich und drückte mich an sein Gesicht. Ich spürte es, wie er förmlich meinen Geruch einsog, und dann weiteten sich seine Mundwinkel, als wäre er erleichtert, dass ich es tatsächlich war. Als hätte er sich meinen Duft so gut eingeprägt, dass er ihn immer wieder erkennen würde sowie ich seinen honigsüßen Geruch nie vergessen würde.

„Irgendwie wollte ich nicht aus dem Wald gehen, solange ich dich nicht gesehen habe. Als müsste ich dich unbedingt sehen... das ist verrückt. Aber es ist schön, dass du doch noch gekommen bist, mein kleiner Fuchs. Ohne dich wäre dieser Wald nicht so einzigartig. Er braucht dich. Ich brauche dich, ja?" Als Antwort drückte ich meinen Kopf nur sehnsüchtig an seinen, die Augen immer noch geschlossen.

Es war ein wunderbares Gefühl, zu wissen, dass er genauso wenig ohne mich auskommen konnte wie ich ohne ihn. Nur fühlte ich mich auch schlecht dafür, dass ich ihn warten gelassen hatte. Wenn er wirklich die ganze Zeit hier gewartet hatte, dann hatte er bestimmt Hunger und die Nächte durch schrecklich gefroren. Deshalb schlief er tagsüber, weil es da wärmer war.

Es tut mir leid, dass du warten musstest, winselte ich und er presste mich bloß enger an sich.

„Lass mich bitte nicht mehr so lange warten", flehte er verzweifelt, „du bist das einzige, was mir übrig geblieben ist."

Nie wieder. Versprochen.

Eine Weile passierte nichts mehr, und ich war verunsichert darüber, ob er schlief oder wach war, doch das interessierte mich nicht. Er war bei mir, er brauchte mich und ich würde ihn nicht alleine lassen. Das interessierte mich in diesem Augenblick. Sein Atem ging wieder wie meiner, als würde er ihn tatsächlich nachahmen, und ich blieb an ihn gekuschelt, sein Gesicht in meinem Fell vergrabend.

Und meine Pfote lag auf seiner Hand genauso wie ich es mir gewünscht hatte.

Das war richtig.

Es war das erste Mal, dass ich ihm folgte. Ich wollte ihn sicher und gesund aus dem Wald herausbringen, da es bereits dunkel geworden war. Von Jonghyun wusste ich, dass die Menschen bei Nacht fürchterlich blind wurden und deswegen hatte sein Mensch ihn nachts immer in den Wald geschickt, um die erschossene Beute zu holen. Jetzt wollte ich meinen Mensch sicher begleiten und beschützen, da es nachts noch gefährlicher als tagsüber war, besonders wegen den Bären und Wölfen. Dass ich dabei wenig gegen diese großen Tiere unternehmen konnte, hatte ich irgendwie vergessen.

Vielleicht ließ mich mein Mensch diese wichtigen Dinge vergessen.

Wichtige Dinge wie vor Mitternacht bei Jonghyun zu sein.

Er würde mich höchstwahrscheinlich danach hassen. Oder er würde sich um mich Sorgen machen und auf den dummen Gedanken kommen, mein Mensch würde mich gerade verletzen.

Was für ein albernder Gedanke.

Das würde er nie tun.

„Ich habe dir noch gar nicht meinen Namen gesagt, mein kleiner Fuchs." Mein Mensch schielte zu mir hinab und setzte einen schüchternen Blick auf. „Ich bin Jinki."

Jinki. Was für einen wunderschönen Namen für solch einen einzigartigen Menschen.

„Schade, dass du mir deinen Namen nicht nennen kannst, falls du überhaupt einen hast." Er wirkte enttäuscht über diese Feststellung, und es schien das erste Mal für ihn zu sein, wo er auf denselben Punkt gestoßen war wie ich.

Wir beide benutzten nicht dieselbe Sprache.

Und ein Tier bekam keinen Namen, außer er hatte einen Menschen. Jonghyun hatte einen gehabt und dieser hatte ihn „Jonghyun" getauft. Wo auch immer ich hinging, nannte man mich Füchsin oder nur Fuchs. Einen anderen Namen trug ich nicht.

Ich war allerdings nicht enttäuscht darüber, keinen Namen zu haben, weil er mich „mein kleiner Fuchs" nannte und so gehörte ich praktisch zu ihm, da er mein und Fuchs in einem verwendete. Er hatte mich einfach zu seines gemacht, ohne dass ich zugestimmt hätte. Hätte er mich dennoch gefragt, hätte ich ohne Widerspruch zugestimmt, weil das war genau das, was ich nun mal auch wollte.

Seines sein.

Dadurch war ich ein Teil seines Lebens, ein Teil von ihm und das würde ich immer sein können. Nicht nur durch ein Gemälde. Das war fantastisch.

Weil Jinki war auch das einzige Wesen dieser Welt, zu dem ich gehören wollte.

Es gab keine Fremdheit oder zu große Unterschiede, die mich davon abhalten konnten, nicht zu ihm zu gehören. Es existieren zu viele Gleichheiten, die uns innig und stark miteinander verbanden, und da war jedes Mal dieses unglaubliche, schöne Gefühl, wenn ich nur an ihn dachte oder ihn ansah. Dieses Gefühl wollte ich unter keinen Umständen verlieren. So unbekannt es mir auch war, so glücklich ließ es mich fühlen. Fast so, als könnte ich auf einmal wie ein Vogel fliegen und die ganze Welt außerhalb dieses Waldes erkunden.

Dieses Gefühl von unzähligen Freiheiten und Schwerelosigkeit konnte mir nur Jinki schenken.

Ein Mensch. Tatsächlich.

Ein Mensch ließ mich so fühlen.

Wie verrückt.

Aber wir beide wussten ja, dass wir nicht normal waren.

„Ich mag dich, mein kleiner Fuchs." Jinki strahlte mich vollkommen breit und glücklich mit seiner persönlichen Sonne an, und es war die schönste Sonne, die ich je in meinem Leben gesehen hatte. „Du bist in dieser schweren Zeit das einzige, das ich wirklich mag. Ich hoffe natürlich, du magst mich auch. Einseitige Liebe ist immer so schmerzvoll."

Liebe.

Irgendwas regte sich in mir.

Irgendwas wollte mehr als nur „Ich mag dich" zeigen und ich wusste nicht, was es war, aber ich wusste, dass es eine riesige Macht über mich besaß. Es fühlte sich einerseits gut an, andererseits schien es etwas mit sich zu bringen, das noch viel stärker als das eigentliche war. Etwas, das mich von der einen Sekunden zur anderen zum Fall bringen könnte. Etwas, das in mir alles aufreißen und zum Bluten bringen könnte. Etwas, das mich so schwach machen würde, dass ich das Leben nicht länger leben wollte. Das machte mir Angst, dieses Etwas.

Doch ich hatte weder Zeit, ihm zu zeigen, dass ich ihn auch mochte, noch mich selbst zu retten.

Sie stand plötzlich vor uns, ihre Augen leuchteten rot vor Wut und Gefahr und ihr Huf scharrte angriffsbereit in der Erde. Sie schnaubte laut, hinter ihr standen ihre Frischlinge, die sie versuchte, vor Jinki zu beschützen. Aber das brauchte sie gar nicht. Er wollte ihr und ihren Frischlingen nichts antun.

Nur fand ich die Wildschweine schon immer als sehr dumme Tiere, was sie auch jedes Mal bewiesen.

Wie gerade.

„Er wird meine Kinder nicht bekommen!", quietschte die Sau und funkelte meinen Menschen aggressiv an. Jinki hatte sie nur angestarrt, völlig bewegungslos in seiner erschrockenen Haltung, und ich wusste schon vom Instinkt heraus, dass die Sau nicht gewaltlos weiter ziehen würde. Also stellte ich mich sofort schützend vor Jinki, die Sau warnen anfunkelnd.

„Er will deinen Kindern überhaupt nichts antun!", versuchte ich ihr klarzumachen, auch wenn solche Versuche nichts erreichten. „Er ist nur auf dem Weg zu sich nach Hause."

„Ein Fuchs!", schrie sie auf, ehe sie ihren boshaften Blick gezielt auf mich richtete. „Ihr habt es um diese Zeit immer auf meine Kinder abgesehen, weil ihr euch nicht länger zu den Menschen traut, um dort ihre Hühner zu stehlen. Ihr seid hinterlistige und verfressene Tiere!" Sie schnaubte stärker und ihre Frischlinge zitterten, als sie mich entdeckten.

„Ich will dir überhaupt nichts nehmen!", verteidigte ich mich empört und blieb standhaft vor Jinki stehen. Ich knurrte drohend, als die dumme Sau einen Schritt näher kam. „Lass mich und meinen Menschen in Ruhe! Wir wollen nur vorbei!"

„Nein!", quiekte diese zurück und peitschte energisch mit ihrem Schweif gegen ihren fetten Bauch, „lieber einen Fuchs weniger und dafür einen Menschen mehr."

An die nächsten Minuten danach erinnerte ich mich nur noch schwach. Zu vieles wurde davon mit Schmerz und qualvollen Jaulen empfunden.

Sich an Schmerz zu erinnern war wie die Wunde erneut aufzureißen, aber es dabei physisch schlimmer zu machen. Deshalb verzichtete ich meistens auf die Erinnerung an Schmerz.

Sie griff mich schließlich an, schleuderte mich geradewegs hinweg und rammte mir ihre Hufe überall hinein. Ich hörte das schmatzende Knacken von Ästen, rang verzweifelt nach Luft und mein Jaulen war gefüllt von Schmerz und Hilfe. Alles in mir drin fing an, zu brennen, als hätte sie ein Feuer in mir angezündet, und ich biss ihr mit ganzer Kraft in das Bein, schmeckte ihr süßes, pochendes Blut, bis sie mich weg schlug.

Die Flammen breiteten sich in meinem ganzen Körper aus. Obwohl ich das Gefühl hatte, innerlich zu zerbrechen und zu bluten, stürzte ich mich auf die Wildsau und biss ihr heftig in den fetten Bauch. Ich wollte sie nicht töten. Ich wollte ihren Kindern nicht das schlechte Bild der Füchse zeigen und ich wollte ihnen vor allem nicht die Mutter nehmen. Natürlich könnte es später der Jäger tun, aber dann war es lieber der Jäger als ich.

Ich wollte nur Jinki beschützen.

„Kleiner Fuchs!" Er rief nach mir, aber zu spät. Die Wildsau schleuderte mich erneut von sich, direkt gegen einen Baum. Äste brachen wieder und das Feuer schürte auf.

Ich fühlte mich so schrecklich dem Tode nahe, als würde bloß noch ein letzter Schlag fehlen und ich würde meine Mutter begrüßen können. Ich wartete sogar ab, dass der tödliche Schlag eintreffen würde. Ich wartete, dass das Licht kommen würde und dass sich vor mir ein Paradies aufbauen würde, wo ich in jedem Winkel einen Fuchs entdecken könnte.

Jeder Fuchs, der von einem Jäger getötet wurde.

Jeder Fuchs, der von einem Auto überfahren wurde.

Jeder Fuchs, dessen Pelz gestohlen wurde.

Jeder Fuchs, der mal gestorben war.

Soweit kam es überraschend nicht, und ich war nicht erleichtert darüber, weil so war ich diesem teuflischen Schmerz in mir länger ausgeliefert.

Etwas wie Feuer blitzte vor meinen Augen auf. Eine ganz kleine Flamme, doch groß genug um die Wildsau zum Quietschen und Wegrennen zu bringen.

„Feuer! Der Mensch hat Feuer! Feeeueeer!", quiekte sie laut und rannte, gefolgt von ihren drei Frischlingen.

Ich erinnerte mich noch daran, wie mir Jinki mit feuchten Augen verzweifelt über das Köpfchen gestreichelt hatte, wie er leise vor sich hin gewimmert hatte, dass er nicht nochmal jemand Bedeutsames verlieren wollte und dass ich seinetwegen kämpfen sollte, und dann hatte ich gespürt, wie mich jemand sanft in die Höhe hob und losrannte.

Alles wurde um mich herum schwarz. Nur der brennende Schmerz blieb in mir. Ab und zu hörte ich fremde und bekannte Stimmen und dann hörte ich gar nichts mehr, außer der Schlag eines schnellen Herzens und den keuchenden Atem eines Wesen.  

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