Prolog
"Hazel! Hol mir doch noch einen Kaffee!"
"Hazel! Das Papier ist alle!"
"Hazel!"
"Hazel!"
"Hazel!"
Wütend, erschöpft, heulend und genervt ließ ich mich in die weiche Matratze meines Boxspringbettes fallen. Zuvor stellte ich mein Smartphone auf stumm. Endlich zuhause.
Endlich konnte ich schlafen.
Entfliehen aus meinem grauen Alltag.
Jetzt war ich nicht länger Hazel, das Bürohäschen und Mädchen für alles.
Keine dämlichen Aufträge mehr. Kein Mobbing und keine ekelhaften Annäherungen von meinem kahlköpfigen, 160 cm großen Chef.
Hazel wurde zu Vyora. Einer furchtlosen Diebin, die jeden hobs nahm, der ihr blöd kam.
Keine kanadischen, überfüllten Straßen mehr. Das Land des Ahorns wurde zu einem wunderschönen Königreich.
Caladium.
"Ich bin Zuhauseeeee!", rief ich über die ewiggrünen Wiesen hinweg, meine Arme weit von mir gestreckt. Jetzt konnte ich entspannen. Es war die beste Zeit des Tages. Wenn ich in meine 35 Quadratmeter große Wohnung kam und mich ins Bett legen konnte, um mich nach Caladium zu träumen. Wieso konnte die reale Welt nicht genauso schön sein wie dieses Königreich?
Meine blau-grauen Augen wanderten über die unzähligen Wiesen und Felder, hinter denen sich Wald ohne Ende in Sicht ausbreitete. Berge - hoch und höher als Mt. Everest, erstreckten sich zur Nordseite. Kleinere Gebirgsketten an der Ostseite. Ging man weiter nach Westen, erreichte man irgendwann steile Klippen, da sich das Königreich auf dieser Seite mehrere hundert Meter über dem Wasserspiegel befand. Das Wasser des Ozeans war nicht blau oder türkis, es besaß einen violetten Schimmer.
Weiter südlich führte der Weg über mehr Wiesen und Weiden, bis man die Küste von Caladium erreichte.
Hinter dem Horizont im Süden thronte das kleinere Königreich Pachéla.
Im Osten herrschte Fürst Onyr über Nyphtù,
im Westen kam man nach Lyrén und der hohe Norden wurde von drei Drachen beherrscht, die in den Gipfeln der Berge wohnten.
Der König, der über all die Länder regierte hieß Arylâth van Rôthras.
Welch ein Jammer, dass ich ihn nie zu Gesicht bekommen hatte. Von jungen Jahren an, träumte ich derart klar und bewusst, dass ich sehr oft Probleme hatte, meine Träume von der Realität zu unterscheiden. Ich konnte in Caladium Gesichter erkennen, lesen, entdecken und mich am Ende an alles erinnern, wenn ich aus meinem Schlummer erwachte. An manchen Abenden schrieb ich mir eine Liste mit Dingen zusammen, die ich in meinen Träumen entdecken wollte. Da Caladium das größte Reich von allen war, kam ich zu manchen Dingen bis heute nicht. Wie zum einen die anderen Reiche zu besuchen, oder eine Audienz beim König zu beantragen.
Andererseits gab es nicht gerade viele Wesen, die Diebinnen gutheißen würden. Denn in dieser Welt war ich eine der besten Diebe weit und breit. Kaum jemand konnte sich mir entgegenstellen. Selbst die Wachen des Königs hatte ich das eine und andere Mal ausgetrickst.
Mein Blick richtete sich entgegen der östlichen Bergen. "Ob ich es heute bis dorthin schaffe?", murmelte ich.
Über mir krächzte ein schwarzer Rabe mit weißem Kopf.
"Samu!", rief ich - erfreut meinen Gefährten wiederzusehen. Samu warnte mich jedes Mal, wenn Gefahr auf meinen Raubzügen drohte. Er blieb stets in meiner Nähe und leistete mir Gesellschaft, sah Dinge, die ich nicht sehen konnte.
"Also gut", meinte ich - meine Hände euphorisch reibend. "Zu aller Erst benötige ich ein Reittier."
Da diese Art von Wesen nicht zu der günstigen Sorte zählten, musste ich wohl oder übel stehlen. Bislang hatte ich mir nie ein Eigenes zugelegt, aus Angst, es wäre bis zum nächsten Traum verschwunden. (Ich entwickelte recht schnell Bindungen zu Tierwesen.) Obwohl Samu bislang geblieben war, hatte ich meine Reittiere dennoch stets zu ihren Besitzern zurückgebracht.
Gut gelaunt steuerte ich den Mittelpunkt von Caladium an. Das Dorf mit dem Großteil des Volkes. Es erinnerte ein wenig an das menschliche Mittelalter. Nur ein wenig.
Cottages standen in einem stetigen Halbkreis zum Palast. Umgeben von Nadelwäldern. Der Palast selbst war unsichtbar für nicht magische Wesen und lediglich mithilfe einer Audienz betretbar. König Arylâth selbst war ein mächtiger Hexenmeister. Einer der obersten Liga. Niemand kannte das genaue Ausmaß seiner Macht. Sein Schloss war durch Magie und Manneshand geschützt.
Obwohl Caladium friedlich wirkte - so im Einklang mit Mutter Natur, hatte es vor Ewigkeiten Kriege in den Landen gegeben. Kriege, die Familien und Königreiche zerstört hatten. Selbst in Träumen gab es immer irgendjemanden, der mehr Macht wollte. Mehr Reichtum. Mehr.
Aber diese Kriege lagen weit in der Vergangenheit. Um genauer zu sein, mehr als 1000 Jahre waren seither vergangen. Aktuell schrieben wir das Jahr 4679. In dieser Welt gab es 13 Monate mit jeweils 33 Tagen. Es gab zwei Monde und ein Tag maß exakt 23 Stunden - davon 13 Stunden Nacht.
Das letzte Tragische, das sich in Caladium ereignet hatte, war der plötzliche Tod des letzten Königspaares gewesen. Das lag jetzt bereits 30 Jahre zurück. Seitdem herrschte Arylâth über dieses Königreich und diese Welt. So wie es die Krone von Myrria gewollt hatte.
Die Krone von Myrria war geschmiedet durch Elfen im Feuer der drei Drachen des Nordens. Kein simples Schmuckstück des Königs. Die Krone ernannte den neuen Herrscher von dieser Welt. Kein blaues Blut und keine Thronfolge bestimmten den König oder die Königin. Einzig allein die Krone von Myrria. Sie erkenne ein reines Herz, dessen Wesen es würdig sei, zu herrschen, so hieß es.
Mein Traumland war dermaßen komplex, dass es nicht schwer war, hin und wieder die Realität völlig zu vergessen. Streng genommen wollte ich genau dies erreichen. Ich wollte meinen sexistischen, nervigen Chef vergessen und all meine Kollegen aus dem Büro, die mich als Putzkraft betrachteten. Am liebsten wäre ich für immer in Caladium geblieben.
Doch es gab jemanden, den ich wohl vermisst hätte. Carl, den Stiefbruder meines Chefs. War er in der Nähe, wagten es weder mein Boss noch meine Kollegen mich auszunutzen. Er spendierte mir zu Feierabend oft einen Drink und hörte sich freiwillig meine Beschwerden an. Wir teilten viele Gemeinsamkeiten. Unter anderem die Abneigung gegen seinen Stiefbruder. Im Gegensatz zu ihm war Carl großgewachsen, besaß volles, dunkles Haar, einen Bart und strahlend blaue Augen. Allerdings hatte ich mir auf meine Schwärmereien nie etwas erhofft. Carl war 17 Jahre älter als ich - somit 46. Er sah mich höchstens als jüngere Schwester, ganz gleich wie reif ich im Geiste war.
Ich setzte meinen Weg fort und versuchte meine Gedanken abzuschütteln. Ich war jetzt nicht in Canada. Ich war in Caladium. Und hier wurde man mehrere hundert Jahre alt. Da interessierte es niemanden, wie groß der Altersunterschied in einer Beziehung war. Abgesehen davon, was war das Alter im Vergleich zur Ewigkeit?
"Richtig. Also vergiss dein tristes Leben in Canada und reite nach Nyphtù!", motivierte ich mich selbst, dabei schlug ich meine Faust entgegen den türkisen mit Wolken verzierten Himmel.
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