Kapitel 9
"Wenn Ihr in dieser Welt künftig leben wollt", raunte der König. "Solltet Ihr alles daransetzen, Nefathâr glauben zu lassen, Ihr wäret auf seiner Seite."
Ich seufzte leise in mich hinein und ließ meinen Kopf hängen. "Aber wie?", fragte ich demotiviert. "Wie soll ich ihm erklären, wie ich es hier rausgeschafft habe und wird er mich überhaupt noch miteinbeziehen, wenn ich ohne die Krone komme?"
Des Königs Augen sahen dem Buch nach, wie es zurück an seinen Platz flog. Auf längere Zeit in dem sich ständig drehenden Raum wurde einem leicht schwindlig.
"Ich schicke Euch zurück in den Kerker und sorge dafür, dass Nefathârs Kontakt in der Garde die Möglichkeit findet, Euch aus dem Palast zu schleußen", raunte Arylâth ohne sich mir zuzuwenden. "Ihr werdet Nefathâr berichten, wie schlecht es Euch hier ergangen sei."
Ich dachte an die paar kleinen Blessuren, die ich von meiner versuchten Flucht mit der Krone davongetragen hatte. "Wären dafür nicht größere Verletzungen glaubhafter?"
Sein Blick traf mich von der Seite. "Nicht alle Wunden sind nach außen hin sichtbar", sagte er mit einem solch kühlen und ernsten Tonfall, dass mein Blut in den Adern gefror. "Solange Ihr Eure Rolle glaubhaft spielt, wird er keinen Verdacht schöpfen, denn Ihr seid sein bestes Pferd in diesem Rennen."
Die Sache war mehr als ein wenig riskant, doch schuldete ich dem König meine Loyalität. Arylâth nahm meine rechte Hand, öffnete meine Finger und legte mir etwas auf die Handfläche. Seine Berührung war sanft und warm, wohingegen das Etwas in meiner Hand kalt und kantig war. Ein Teleportationsstein.
Jene Steine hatten Ähnlichkeit mit einem Saphir, denn sie waren stets dunkelblau. Das Gleiche galt für Schutzmagie. Die Stärkste Magie besaß eine solch rote Farbe wie Arlyâths. Einige jedoch behaupteten, dass es eine weitaus mächtigere Magie gab. Eine, die in allen erdenklichen Farben schimmerte und strahlte. Allerdings galt es hier lediglich als Volksglaube, denn gesehen hatte bislang niemand Magie dieser Art. Man erzählte sich, dass sie in den ersten Herrschern dieser Welt innegewohnt hatte und die Herrscherdrachen ganz und gar daraus bestanden.
Als er seine Hand wieder wegnahm, hatte ich das Gefühl, die Kälte im Raum würde zunehmen. Ich betrachtete den funkelnden Stein in meiner Hand für kurze Zeit, bevor ich ihn fest umschloss. "Ich werde täglich Bericht erstatten", versprach ich dem König.
"Ihr mögt mich feige nennen und das ist in Ordnung", meinte er übergangslos. "Jedoch gab es allein nach meiner Krönung zehn Attentate auf mich, was mich zu der radikalen Maßnahme brachte, eine Barriere um das Schloss zu errichten. Nicht nur, um mich selbst sondern auch um all jene, die mit mir zu tun haben, zu schützen."
Ich konnte seine Seite der Geschichte sehr gut nachvollziehen. Mit Sicherheit war es nicht einfach, auf diese Weise zu leben. Dass er allerdings an seine Dienerschaft und Garde dachte, war äußerst bemerkenswert und zeugte von der Tatsache, dass er wahrhaftig ein König auserwählt von Myrria war.
"Ich verstehe Euch", sagte ich. "Vielleicht wäre es ja eine Option, Euch völlig überraschend dem Volk zu zeigen. So, dass niemand damit rechnen kann.", schlug ich vor. "Damit erscheint Ihr weniger unnahbar."
Für einen Augenblick glaubte ich, Überraschung in seinem Gesicht zu sehen. "Ich sollte darüber nachdenken, da habt Ihr Recht", antwortete er, bevor er Richtung Thronsaal zurück schlenderte.
Ich folgte ihm rasch - denn seine Schritte maßen das Doppelte von meinen.
"Erlaubt Ihr mir zuvor noch eine Frage?"
Er neigte sein Haupt um wenige Zentimeter nach rechts - gerade genug, dass ich den Rand seines Auges sehen konnte, ehe ich ihn eingeholt hatte. Da ich dies als Zustimmung ansah, fragte ich einfach. "Wieso heißt die Krone, Krone von Myrria?"
Ein kaum merkliches Schmunzeln huschte über seine Lippen. "Ah~ ... Ihr stammt ja aus einer anderen Welt", erinnerte er sich selbst. "Myrria ist der Name dieser Welt."
Ergab Sinn. Zu einer Antwort meinerseits kam es nicht mehr. Wir hatten den Thronsaal erreicht. Überraschenderweise trafen wir dort einen Mann an. Es handelte sich um einen Elfen mit violettem Haar und Haarschmuck, spitzen Ohren, strahlendblauen Augen, schmalem Gesicht, hoher Statur, einer grau-blauen Seidenkutte und Haut hell wie Milch.
"Euer Majestät", grüßte er den König - kombiniert mit einer leichten Verbeugung. Er besaß die Eleganz eines Grafen, die warme Ausstrahlung eines Sonnenaufgangs und die Ruhe eines Schmetterlings.
"Vyora", raunte Arylâth und deutete in des Elfen Richtung. "Das ist Efrën, mein treuester Freund und Ireath"
Ireath konnte man nicht in irdische Sprachen übersetzen. Am passendsten waren die Bedeutungen Vertrauter oder rechte Hand.
Efrën verneigte sich vor mir, wenn auch etwas weniger tief als vorhin. "Es freut mich Eure Bekanntschaft zu machen, Lâre"
Abermals solch ein Wort. Es bedeutete "die, die aus einer anderen Welt stammt", simple, oder nicht?
"Er wird Euch zurück in den Kerker bringen", teilte mir Arylâth mit. "Gegen Abend wird Euch Nefathârs Mann aus dem Palast schaffen. Zuvor jedoch solltet Ihr etwas zu Euch nehmen. Speist mit mir."
Seine Einladung überrumpelte mich, aber selbst wenn ich die Wahl gehabt hätte, hätte ich sie nicht ausgeschlagen - dafür war ich zu hungrig gewesen.
Unser Weg führte uns weg vom Thronsaal über mehr des schaurigen Marmors und hin zu einem bereits gedeckten Speisesaal. Es gab - wie bei König Onyr - reichlich an Speis und Trank. Zu meinem positiven Entsetzen (ja, Entsetzen kann durchaus positiv sein) rückte mir König Arylâth höchstpersönlich meinen Stuhl zurecht und nahm anschließend am Kopf des langen Tisches (somit direkt zu meiner Linken) Platz.
"Bitte, bedient Euch", sagte er - auf die leckeren Mahlzeiten vor mir deutend.
Mir wurde etwas Rotwein in ein Kristallglas eingeschenkt. Da mein knurrender Magen ohnehin drängte, kam ich der Einladung nach und langte zu. Wie erwartet schmeckte das Essen hervorragend und wieder einmal musste ich auf meine Tischmanieren achten - so war ich doch anderes gewohnt als königliche Etikette.
"Sagt, Euer Majestät", raunte ich, nachdem mein Magen ordentlich gefüllt worden war. "Habt Ihr denn keine Bedenken, dass Euer Bruder es schafft, mehr und mehr Anhänger zu gewinnen?"
Arylâth lehnte sich mit seinem Glas im Stuhl zurück und schien lautlos in sich hinein zu seufzen. "Habt Ihr noch andere Fragen als diese? Ihr wiederholt Euch."
Meine Wangen wurden rot. "Verzeiht, Euer Hoheit...", murmelte ich mit gesenktem Blick. "Dann erlaubt mir folgende Frage", fuhr ich dennoch fort. "Wieso vertraut Ihr mir? Ja, Ihr habt Eure Augen überall, aber bestimmt könntet Ihr Euch ohne Probleme selbst um Euren Bruder kümmern. Wieso bezieht Ihr eine einfache Diebin wie mich in diese Sache mit ein?"
Er warf mir einen Blick zu, der mir erneut einen Schauer über den Rücken jagte. Seine Augen erinnerten mich an eine gefährliche Bestie, die lediglich darauf wartete, mich in ihre Fänge zu bekommen. Aber man sollte bekanntlich ein Buch nicht nach dem Äußeren beurteilen.
"Weil Ihr nichts zu verlieren habt", antwortete er nüchtern. Sein Blick wanderte zurück zu dem Glas in seiner Hand. "Und weil Ihr in der Prophezeiung vorkamt, welche von niemand Geringeren als den Herrscherdrachen selbst stammen. Alle hundert Jahre entsteht eine neue Weissagung."
Ich runzelte die Stirn und umgriff mein Glas automatisch etwas fester. Aus Angst es zu zerbrechen, ließ ich schließlich davon ab. Wie konnte das möglich sein? Ich? Von solcher Wichtigkeit? Nein. Ich war nur eine Frau von der Erde, die es irgendwie geschafft hatte, eine Verbindung in eine andere Welt herzustellen. Es gab viele Menschen auf der Erde mit besonderen Fähigkeiten.
"Es mag überwältigend sein", fuhr der König fort. Wahrscheinlich hatte er brav meine Gedanken verfolgt - erneut.
"Nichtsdestotrotz tätet Ihr gut daran, wenn Ihr es schnell akzeptiert und Euch in Eure Rolle hier einfindet. Desto irritierter Ihr seid, desto schlechter werdet Ihr Nefathâr täuschen können."
Damit hatte er ein gutes Argument. Was nicht hieß, dass es mir mit einem Mal leichter fiel, all das hinzunehmen und als Realität anzuerkennen.
Zurück im Verlies dachte ich über all die Dinge nach, die mir in dieser kurzen Zeit widerfahren waren. Zum einen die Behauptungen von Nefathâr und selbst dem Wirt aus dem Gastlokal, der König sei eine Bestie. Es entsprach wohl der Wahrheit, dass Arylâths Äußere darauf hindeutete und so mancher Blick oder Ton von ihm ließ einen das Blut gefrieren. Allerdings zeugte sein Umgang mit mir von der Tatsache, dass er kein tyrannischer Herrscher war.
Ich betastete den Stein an meinem Handgelenk - wieder meine schwarze Diebeskleidung tragend. Er hatte den Teleportationsstein in einen silbernen Armreif verwandelt, bevor sich unsere Wege getrennt hatten. Die Art wie er mir diesen Stein gegeben hatte - diese sanfte Wärme, nein, ein Tyrann wäre zu solchen Gesten nicht fähig. Hinzu kam, dass er in erster Linie nicht sich selbst sondern seine Kameraden schützen wollte; wie ein wahrhaftiger, ehrbarer König.
Entweder er war der perfekte Schauspieler, oder etwas hier stank gewaltig.
Ich döste angelehnt an der kalten Steinmauer vor mich hin, als ich etwas zischen hörte. Das Geräusch kam von einem Menschen, wie ich recht schnell herausfand.
Der selbe Mensch, der mich ins Schloss geschleust hatte. Der Gardist sah rasch nach links und rechts, bevor er mit einem Bund voll klirrender Schlüssel die Kerkertür öffnete. Diesmal war er gänzlich ohne Lichtquelle gekommen.
"Beeilt Euch. Wir haben nicht viel Zeit", raunte er hektisch.
Lautlos sprang ich auf meine Füße und huschte hinaus aus meinem Verlies und dem Gardisten hinterher. Mehrmals mussten wir uns in Schatten zwischen Säulen hineinducken oder hinter Vorhängen und Wandteppichen verstecken.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit bis wir endlich am Zielort ankamen. Das Tor zum Labyrinth in der Gruft. Mein Begleiter schloss den Zugang auf, blickte einmal über seine Schulter zurück zum Weg, von dem wir gekommen waren und drückte schließlich die steinerne Tür auf.
Der Moment war gekommen. Ganz egal wie sehr ich mich mental darauf vorbereitet hatte, jetzt fingen meine Knie an, weich zu werden.
Einige Stunden zuvor...
"Und was ist mit der magischen Barriere?", fragte ich, während uns Wein nachgeschenkt wurde. Der Rotwein schmeckte süß und fruchtig. Genau nach meinem Geschmack.
"Ihr habt wohl einen günstigen Zeitpunkt erwischt", meinte der König, tupfte sich mit einer viel zu edlen Serviette den Mund ab und lehnte sich zurück. "Ein Ratsmitglied ist zu Gast. Derjenige weiß nichts von Eurem Aufenthalt und Ihr werdet ihn nicht zu Gesicht bekommen. Jedoch ist ihnen der Zutritt in diesen Palast nur möglich, wenn ich es ihnen gestatte. Anders als meine Wachen, die dank der Rune theoretisch frei ein- und ausgehen können, muss ich für jeden anderen die Barriere für den Bruchteil einer Sekunde öffnen. Ihr könnt Euch bestimmt selbstständig ausräumen, dass dieses Geschehen mit einem hohen Risiko verbunden ist, weswegen niemand weiß, wann wer kommt. Außer meiner Wenigkeit. Selbst Efrën und der Oberbefehlshaber meiner Garde wissen niemals darüber Bescheid."
Ich überlegte. Dabei fielen mir zahlreiche Romane und Geschichten aus meiner Geburtswelt ein. "Und wenn Ihr einen Verräter innerhalb des Rates habt?", räumte ich ein.
Der König blieb unbeeindruckt. War es Hochmut oder Vertrauen, dass er an den Tag legte? "Dann werde ich es früher oder später bemerken", meinte er. Kurz darauf lehnte er sich nach vorn und sah mir direkt in die Augen. "Denn irgendwann macht jeder einen Fehler."
Spielte er damit gerade auf die Tatsache an, dass ich von Nefathâr getäuscht worden war?
König Arylâth erhob sich. "Ich werde das Mitglied des Rats in der Nähe von Eurem Durchgang hinausgeleiten, was bedeutet, Euch bietet sich die perfekte Möglichkeit zu entkommen", fuhr er fort. Gleichzeitig hielt er mir galant einen Arm hin, den ich ergriff, um mich zu erheben. Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, ich liebte die Etikette der Royals.
"Ich sorge dafür, dass es bis zu Nefathâr durchdringt, ohne, dass mein verzweifelter Bruder Verdacht schöpft", sagte er, während wir den Speisesaal verließen. Meine Hand ruhte dabei in seiner Armbeuge.
"Das alles erscheint mir zu simple", murmelte ich - weiterhin an die zahlreichen Geschichten von der Erde denkend. "Aber es bleibt wohl die einzige Möglichkeit."
Mitten auf dem Gang blieb Arylâth stehen und wandte sich mir zu. "Der Portalstein?"
Ich holte ihn eilig aus meiner Tasche. (Der Fakt, dass Kleider Taschen wie Hosen besaßen, war äußerst praktisch.)
Arylâth nahm ihn mir ab, drehte mein Handgelenk um und strich mit dem Stein sanft darüber. Ein Windhauch kitzelte mich. Als der König seine Hand sank, sah ich, was er bezweckt hatte.
Der Stein war nun in einen wunderschönen Silberarmreif gefasst. Ungefähr zwei Zentimeter breit und mit kunstvollen Schnörkeln verziert. Der Portalstein selbst funkelte prächtig in der Mitte.
"Gebt Acht, dass Nefathâr ihn nicht entdeckt", warnte er.
Das musste er mir wirklich nicht sagen. Sah ich denn aus, als bestünde mein Hirn aus Stroh?
Seine Mundwinkel hoben sich für einen Wimpernschlag lang an. "Ein wenig.", kommentierte er meine Gedanken, ehe er nahtlos weiterging.
Ich schnaubte beleidigt und amüsiert zugleich. Schließlich holte ich zu ihm auf. Für mich stand mittlerweile außer Frage, dass der König von Myrria zwar eine harte Schale, dafür aber einen umso weicheren und sanfteren Kern besaß.
Nun hieß es wohl "Glück auf"!
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top