Kapitel 8

Die Nacht schlief ich eher mäßig. Ein Kerkerboden war ungemütlicher, als man sich je hätte vorstellen können. Wie erwartet fand ich mich am selben Ort wieder, als ich erwachte. Kein Kanada. Lediglich die muffigen, feuchten Wände und strohbedeckten Böden des Kerkers.
Immerhin stank es nicht nach Urin und Exkrementen. Mir kam es vor, als hätte man seit sehr langer Zeit niemanden mehr hier eingesperrt.
Schritte. Ein Klirren und ein Quietschen als sich die Tür öffnete. Kerzenschein strömte aus dem Gang in den kleinen Raum und blendete mich kurzzeitig. Leicht verschlafen richtete ich mich auf. Wie zu erwarten stand der König vor mir.
Dieses Mal trug er einen dunklen, bodenlangen Mantel mit hohem Haifischkragen. Darunter ein blutrotes Hemd mit schwarzem Schal und Brosche sowie die gleiche Hose von gestern - ohne Lendenschurz. Trotz der legereren Kleidung wirkte er bedrohlich.
"Wie ich sehe, weigert Ihr Euch, Eure Verkleidung abzulegen", raunte er. "Lasst mich Euch zur Hand gehen." Seine Stimme hatte etwas Eisernes an sich.
Er hob den rechten Arm und streckte seinen Zeigefinger aus. Ohne, dass ich etwas dagegen hätte unternehmen  können, blies mir ein Windhauch die Kapuze vom Kopf. Gleichzeitig fiel mir meine Haarnadel aus dem unordentlichen Knoten und entfachte meine bunte Haarpracht.
Der König verzog keine Miene. War er gar nicht überrascht? Wohl kaum. In dieser Welt war es nicht besonders, dass es starke Frauen an jeder Ecke gab. Ob in der Garde oder als Herrscherin, hier spielte das Geschlecht keine Rolle.
"Wie zu erwarten", raunte er unbeeindruckt. "Eine Hexe." Sein Gesicht wies keinerlei Emotionen auf. Nefathâr hatte Recht behalten, wie mir schien.
"Ihr irrt Euch", gab ich nicht weniger nüchtern zurück. "Ich bin keine Hexe. Zwar besitze ich recht farbenfrohe Haare, jedoch keinen Funken Magie. Mantel und andere Zaubereien habe ich schlichtweg erworben. Testet mich, wenn es Euch beliebt."
Dieses Mal regte sich seine Gesichtsmuskulatur. Obgleich es lediglich für einen winzigen Bruchteil einer Sekunde war, hoben sich seine Augenbrauen.
"Wie lautet Euer Name?", wollte er wissen - seine Stimme unverändert.
"Vyora", antwortete ich. "Mit einem hattet Ihr Recht, Eure Hoheit. Ich bin eine Diebin. Die Beste meines Fachs, wenn ich das so sagen darf." Nun ja, zumindest bis ich mit meiner letzten Aufgabe gescheitert war.
Ich hörte die Wachen aus dem Gang leise tuscheln. Meine Ohren waren so gut, wie jene eines Elfen.
"Ihr tragt den Geruch von Nyphtù an Euch", merkte er an, ohne auf meine Worte einzugehen. "Stammt Ihr aus den östlichen Landen?"
Ich schüttelte den Kopf. "Nein.", antwortete ich. Zunächst zögerte ich, ihm alles zu erzählen. Letzten Endes würde es ohnehin nichts an der Tatsache ändern, dass ich gescheitert war, also fügte ich hinzu: "Ich stamme aus einer anderen Welt. Fragt mich nicht, wie es mir möglich war, hier her zu gelangen, ich verstehe es selbst nicht, aber ich glaube, seit dem gestrigen Tag ist es mir nicht länger möglich, zwischen meiner alten Welt und dieser zu reisen."
Es wurde augenblicklich derart still, dass ich meinen eigenen Puls hören konnte. Die Wachen hatten wohl aufgehört zu atmen.
"Meine Männer bringen Euch hinauf, wo Ihr Euch frischmachen könnt", sagte der König völlig überraschend. "Danach trefft Ihr mich im Thronsaal und werdet mir berichten, was Ihr hier zu suchen habt, wenn Euch Euer Leben am Herzen liegt."
Ohne auf eine Reaktion meinerseits zu warten, machte der König am Absatz kehrt und verließ den Raum. Völlig verdutzt blieb ich zurück. Selbst die Wachen verstanden ihre Welt nicht mehr. Warum würde der König einer Gefangenen solch Gefallen erweisen? Weil ich aus einer anderen Welt stammte? Egal, was der Grund dafür sein mochte, ich nahm es hin.
Zwei Männer brachten mich in ein Turmzimmer mit Bad. Ein Kammerdiener brachte mir frische Gewänder und Handtücher. Ich streifte meine Kleidung ab und stieg in die Quelle, die sich mittig im Badezimmer befand und den halben Raum einnahm.
Nachdem ich mich gründlich gewaschen hatte, schlüpfte ich in die frische Kleidung. Ein blutrotes Samtkleid mit langen Ärmeln und silbernen Bestickungen. Definitiv zu wertvoll für eine Gefangene.
Ohne lange darüber nachzudenken, schlüpfte ich in meine Stiefel und folgte anschließend einer Gardistin durch ewiglange Flure hin zum Thronsaal. Der gesamte Palast bestand aus schwarzem Marmor, rotem Samt und wunderschönen Fresken. Mal erstreckte sich über uns ein Netzgewölbe, mal schritten wir durch Gänge, dessen Ostseite zwischen den korinthischen Säulen solch hohe Fenster besaß, dass man das Gefühl bekam, draußen zu gehen. Ich hielt einen Augenblick inne und staunte über den gigantischen Ausblick. Man konnte das gesamte Königreich überblicken. Unter uns erstreckten sich die Wälder von Caladium. Das Schloss verschmolz von Architektur und Lage vollkommen mit seiner Umgebung.
Zwei Gänge weiter schlug mein Herz sogleich schneller. Vor uns lag die Flügeltür zum Thronsaal. Prunkvoller verziert als der Eingang zum Labyrinth. Pflanzenranken und florale Ornamente präsentierten stolz das königliche Wappen, auf welchem die drei Drachen, das Nebelgebirge und der Palast abgebildet waren.
Die Gardistin ließ mir keine Zeit mich zu sammeln. Stattdessen nickte die braunhaarige Frau den beiden Wachen links und rechts von der Tür zu, woraufhin die beiden Männer das Portal öffneten. Die Frau, die mich hergebracht hatte, trat zur Seite und ließ mich vorbei. Meine Nackenhaare standen stramm, doch kaum betrat ich den gigantischen Saal, wich meine Nervosität augenblicklich.
Am Ende des Raumes stand ein prunkvoller Thron auf einem erhöhten Podest. Drei Drachen aus Silber, Gold und Kristall schlängelten sich zur Sitzgelegenheit des Königs. Silber und Gold bildeten die Armlehnen, Kristall die Rückenlehne. Allerdings war es weder der Saal oder der Thron, noch der König auf seinem Podest, das mich schier von den Socken warf. Es war das, was sich dahinter befand.
Gigantische, deckenhohe Fenster, die einen Ausblick boten, der jeden anderen in den Schatten stellte.
Die schneebedeckten Klippen des Nordkamms erstreckten sich vor meiner Nase so hoch hinauf, dass ich die Gipfel gar nicht entdecken konnte. Eis, Schnee und Gletscher bedeckten den Großteil der Berge. Nebel ummantelte sie wie ein Kokon und ließ die kargen Felsen bedrohlicher wirken. Sonnenstrahlen ließen die Wolken in allen Farben schimmern. Dieser Prismanebel gab dem Ausblick etwas Magisches. Das Gebirge schien nah und doch war es mindestens eine halbe Tagesreise entfernt.
Jetzt stellte ich mir mit einem Mal die Frage, warum der König lediglich über Caladium herrschte und den Nordkamm davon trennte. Wenn er tatsächlich machthungrig war, weshalb separierte er die beiden Reiche dann wie die einstigen Herrscher zuvor?
„Wollt Ihr am Eingang verweilen?", hallte die tiefe Stimme von Arylâth durch die Halle, gefolgt von einem Wums, als die Flügeltür sich hinter mir schloss. Jetzt waren der König und ich allein. Welche Macht musste ihm innewohnen, dass man ihn alleinließ mit einer Diebin, die zuvor noch die Krone stehlen wollte?
Ich nahm meinen gesamten Mut zusammen und ging langsam auf den Thron zu. Kerzenleuchter standen links und rechts aufgereiht neben Schmucksäulen. Die Decke reichte gefühlt dreißig Meter nach oben. Die Säulen erstreckten sich alle fünf Meter in die Höhe und bildeten an der Decke ein Netzgewölbe.
Sechs Fuß vor dem Podest angekommen, staunte ich weiterhin über Architektur und Ausblick. Der König hingegen riss mich abermals aus meinen Gedanken.
"Weshalb seid Ihr in meinen Palast eingedrungen und wolltet die Krone stehlen?", verlangte er zu wissen. Aus seiner Stimme wurde ich nicht schlau. Er klang kühl, aber nicht gewaltsam.
So oder so war ich mir bei einer Sache sicher. Er konnte Gedanken lesen. Er würde die Wahrheit erfahren, ob ich wollte oder nicht. Die Frage war nun; blieb ich einem Kindheitsfreund treu, den ich eigentlich nicht wirklich kannte, oder sagte ich von Anfang an die Wahrheit und rettete eventuell mein Leben.
„Erlaubt Ihr mir, von Anfang an zu beginnen?"
Er nickte und machte eine ausschweifende Handbewegung.
„In meinen Kindertagen träumte ich sehr oft von Caladium. Drei Mal die Woche.", fing ich an - mein Haupt respektvoll gesenkt. „Desto älter ich wurde, desto öfter träumte ich von diesem Reich, bis es schließlich jede Nacht geschah. Als Kind gab es einen Jungen, weitaus älter als ich, aber er spielte mit mir, erzählte mir Geschichten von Abenteuern und ließ mich selbst solche erleben. Es kam die Zeit, als er nicht mehr auftauchte. Ich wurde älter und kürzlich stellte ich schockiert fest, dass ich nie von diesem Reich geträumt hatte, sondern durch Zeit und Raum hier her reiste, jedes Mal, wenn ich mich schlafen legte. Am Ende gelang es mir plötzlich nicht mehr. Ich bettelte in die Dunkelheit, man möge mich hier her zurückkehren und nie wieder gehen lassen. Mein Wunsch wurde mir gewährt. Kurz darauf traf ich aus dem Nichts meinen Kindheitsfreund. Er erzählte mir Dinge, die ich schwer anzweifeln konnte, in Anbetracht dessen, dass ich ihn von früher kannte. Er war es letztendlich, der mich bat, die Krone zu stehlen. Sein Plan war es, sie zu zerstören, denn er ist der Überzeugung, Ihr wärt ein grausamer Herrscher, der nach Macht giert."
Eine ziemlich lange Zeit nach meiner Erzählung legte sich Schweigen über uns. Ich wagte es nicht, mein Haupt zu heben. Da er jedoch nichts sagte, fügte ich hinzu: „Ich verstehe, dass Ihr mir nicht glaubt, aber es entspricht der Wahrheit, das versichere ich Euch."
Der König erhob sich von seinem Thron und schritt die zwei Stufen des Podests hinab. Mit einem Mal war er mir nah, wodurch mir der Geruch von Regen, Wäldern und herben Kräutern in die Nase stieg.
„Wenn Ihr die Wahrheit sprecht...", raunte er. „...dann sagt mir, wie seid Ihr durch die Barriere gekommen? Wer ist dieser Kindheitsfreund, von dem Ihr erzählt habt?"
Ich biss mir auf die Lippe. „Wer der Hexer war, der die Barriere für kurze Zeit überwinden konnte, weiß ich nicht. Alles wurde von meinem ... Kindheitsfreund arrangiert", antwortete ich. „Sein Name lautet ... Nefathâr."
Die gesamte Zeit über hatte der König die Ruhe bewahrt. Obwohl ich den wertvollsten Gegenstand stehlen wollte, hatte er mich weder schlecht behandelt, noch angeschrien. Doch kaum erwähnte ich Nefathârs Namen, spannte sich seine gesamte Körpermuskulatur an. Verständlich. Immerhin ging es hier um seinen Bruder.
„Was hat dieser Verräter Euch erzählt?" Bildete ich es mir ein, oder bebte seine Stimme vor Wut?
Mein Mund ging einige Male auf und zu, bis mir endlich die passenden Worte über die Lippen kamen und ich dem König von der Geschichte berichtete, die Nefathâr mir erzählt hatte.
Kaum gelangte ich am Ende an, machte Arylâth eine abrupte Handbewegung zur Seite, wodurch zwei Kerzenständer gegen die Wand geschleudert wurden und ich kaum merklich zusammenzuckte.
„Wart Ihr wahrhaftig so naiv, diese Geschichte zu glauben?", knurrte der König.
Ich ballte meine Hände zu Fäusten. „Ich kenne ihn seit vielen Jahren. Der Junge von damals hätte mich nie angelogen!", argumentierte ich. „Zudem klang alles logisch aus seiner Sicht!"
„Und deswegen wagt Ihr es, solch eine radikale Unternehmung durchzuführen?", entgegnete er. Zugegeben hatte er Recht. Wieso hatte ich sofort zugesagt? Wenn die Krone in falsche Hände geraten würde, was würde dann geschehen?
„Ihr habt Recht", raunte ich, obgleich es gegen meinen Stolz ging. „Ich handelte nicht rational, stattdessen mit blindem Vertrauen. Ich werde meine Bestrafung hinnehmen."
Arylâth seufzte mit einem Mal, drehte sich zur Seite und ging zwei Schritte. „Nefathâr tötete unsere Eltern", teilte er mir mit. Diese Worte trafen mich. Meinte er das wirklich ernst?
„Ich konnte es bis heute nicht beweisen.", fuhr er fort. „Der plötzliche Tod, sein schadenfrohes Gesicht und seine gefährliche Zunge waren Beweise zu genüge für mich. Allerdings nicht für den Rat, weswegen er lediglich verbannt wurde. Als die Krone von Myrria mich auserwählte, verlor er die Beherrschung und plädierte darauf, dass die Krone falsch läge. Dass er an der Reihe sei, über Caladium und den Nordkamm zu herrschen. Wenn es nach ihm ginge, dann über alle Reiche dieser Welt." Arylâth drehte sich zu mir um. Dieses Mal trafen sich unsere Blicke. „Ihr habt Euch all die Jahre hinters Licht führen lassen, Vyora."
Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Konnte es tatsächlich sein, wie er behauptete? Hatte ich mich seit meiner Kindheit von Nefathâr täuschen lassen? Wenn es der Wahrheit entsprach, dann hätte ich einem Verbrecher beinahe verholfen, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Ich hatte den König verraten, weil ich alten Erinnerungen blind vertraut hatte. Wenn mich die mysteriösen Stimmen nicht bestraften, dann mit Sicherheit der König.
"Es ist eine Fähigkeit, die er seit unseren Kindertagen besaß", fügte Arylâth hinzu. Diesmal schien seine Stimme weniger kaltherzig. "Andere zu manipulieren, wie es ihm beliebt - bis sie ihm das aushändigen, das er begehrt."
Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, neben der Verachtung in seinem Gesicht Verzweiflung zu sehen. Ein kurzes, gequältes Runzeln seiner Stirn.
"Ich werde Eure Bestrafung hinnehmen", wiederholte ich mit kratziger Stimme und gesenktem Haupt. "Seid versichert, ich hatte keine Ahnung. Trotzdem ist dies keine Entschuldigung für meine Tat."
Der König drehte sich abermals in meine Richtung. Ich konnte spüren, wie er mich musterte. Für etliche Atemzüge herrschte völlige Stille im Raum. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Sollte meine Reise an dieser Stelle bereits zu Ende sein?
"Sagt, wie sehr hängt Ihr an Eurem Leben?" Seine Frage hallte durch den Raum und ließ mich von Kopf bis Fuß erschauern.
"S...sehr", stammelte ich, wobei sich meine Stimme überschlug.
"Ich werde Euch zurückschicken und Euer Leben verschonen. Unter einer Bedingung."
Er hatte meine Neugierde geweckt. Überrascht hob ich meinen Kopf und blickte zu ihm hoch. Wie groß war er?
"Was ist es, dass Ihr von mir wollen könntet?", fragte ich perplex.
"Ihr werdet zu Nefathâr zurückkehren und als Spionin agieren. Ich muss wissen, was er plant und wie weit er mit seinem Vorhaben bereits kam." Des Königs Augen duldeten keinen Widerspruch. Was blieb mir denn groß übrig? Tat ich nicht, was er verlangte, würde er mich womöglich enthaupten.
"Gut", sagte ich. "Ich werde mein Bestes geben und Euch alles berichtet, was Nefathâr unternimmt."
In wie weit ich Nefathârs Vertrauen ernten konnte?
"Euer Hoheit? Es gibt noch etwas, das Ihr wissen solltet. Nefathâr hat in der Garde einen Spion, der mir zudem Zugang ins Schloss gewährte."
Arylâth winkte unbeeindruckt ab. "Dem ist mir natürlich bewusst", sagte er. "Glaubt Ihr tatsächlich, es wäre möglich einen Spion auf solch leichte Weise in meine Garde zu schleußen? Ich ließ ihn gewähren, um ein Auge auf ihn zu haben und zugleich über Nefathârs Handlungen einen kleinen Überblick zu erlangen."
Erneut überraschte mich der König. Demnach hatte er tatsächlich die ganze Zeit über gewusst, dass jemand kommen würde, um die Krone zu stehlen? Natürlich. Er war nicht ohne Grund der stärkste Mann dieser Welt.
"Ich möchte etwas klarstellen", fügte er mit eiserner Stimme hinzu. "Ich habe meine Augen und Ohren im gesamten Königreich. Hintergeht Ihr mich, sorge ich persönlich für Eure Bestrafung. Und damit Ihr es wisst; der Tod eines Verräters ist ein langsamer."
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und wischte mir meine schwitzigen Hände unauffällig an meinem Kleid ab.
"Natürlich, Eure Hoheit", raunte ich und senkte mein Haupt wieder. Weshalb fragte er mich nichts über die Welt, aus der ich stammte?
"Weil ich bereits weiß, dass andere Welten existieren", antwortete er auf meine Gedanken. Wieso konnte er nicht aufhören, mich ständig zu überrumpeln?
"Woher, wenn Ihr mir diese Frage erlaubt, woher wisst Ihr es?"
Er deutete mir mit der Rechten, ihm zu folgen und schritt zeitgleich Richtung Westen. Ich eilte ihm nach, durch ein Seitenportal und stand plötzlich inmitten einer gigantischen Bibliothek.
Die Regale reichten hunderte von Metern hinauf und formten einen Turm. An der Spitze befand sich eine Kuppel aus Glas, über die Greifvögel hinwegflogen.
Bücher schwebten magisch durch die Gegend und reihten sich von selbst an ihren Platz. Bibliothekare verneigten sich tief vor ihrem König, eine riesige, schwarze Katze mit zwei Schwänzen und acht Beinen schlenderte an uns vorbei und Leiter rutschten selbstständig von Regal zu Regal.
Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass es nicht nur die Leitern waren, die sich bewegten. Die gesamten Regale drehten sich in einer Spirale im Uhrzeigersinn.
Wäre mein Unterkiefer nicht mit meinem Kopf verwachsen gewesen, läge es spätestens jetzt am kalten Marmorboden. Meine Augen hatten sich so weit geöffnet, dass meine Augäpfel kurz davor waren, aus meinem Schädel zu flutschen.
Da vernahm ich etwas, dass mich dreifach aus der Fassung brachte.
Der König lachte leise und tief in seinen Bart hinein. Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, wie seine Mundwinkel sich ein winziges Stück angehoben hatten. Amüsierte es ihn, dass ich nie zuvor eine Bibliothek wie diese erblickt hatte?
"Eure Reaktion ist wohl berechtigt, wenn man bedenkt, dass Ihr von außerhalb stammt.", meinte er. So schnell wie sein Lachen gekommen war, verschwand es tragischerweise wieder.
"Die Menschen aus dem Dorf haben etwas wie dies bestimmt ebenfalls nie zu Gesicht bekommen", argumentierte ich, womit ich ihn kurz zum Nachdenken brachte. Diesen Moment wollte ich nutzen, um eine Frage hineinzuschleusen: "Bei aller Ehre, Eure Majestät, wieso schirmt Ihr Euch derart von der Außenwelt ab? Das Volk wurde über die Jahre hin immer skeptischer und besorgter."
Ohne auf meine Frage zu antworten, setzte er sich in Bewegung und steuerte ein Lesepult in der Mitte des Raumes an. Eine steinerne Säule, umschlungen von giftgrünen Ranken und verziert mit goldenen Ornamenten.
Der König blieb davor stehen und winkte einmal mit der linken Hand. Ein dickes Buch flog knapp über meinen Kopf hinweg. Ich duckte mich erschrocken, doch die Lektüre hatte bereits am Pult Platz genommen.
Neugierig kam ich etwas näher - darauf bedacht, den notwendigen Abstand zum König einzuhalten.
"Ihr wolltet wissen, warum ich Bescheid weiß", sagte er. "Deswegen." Er deutete auf das Buch vor ihm.
Der dicke Wälzer war mitunter eines der schönsten Bücher, die mir je unter die Augen gekommen waren. Der Einband wies reichlich wunderschöne Ornamente aus Silber auf. In der Mitte befand sich ein Mondkristall, der in allen erdenklichen Farben funkelte und schimmerte. Darunter zwei weitere, jeder etwas kleiner. Kleine, bunte Lichtpunkte stiegen von den Kristallen auf, wie Glitter, der in der Luft schwebte.
Plötzlich schlug sich die Lektüre von selbst auf. Zunächst schienen die Seiten leer, erst als es die Richtige erreicht hatte, erschienen Zeichnungen. Links eine große, leuchtende Mondsichel, im freien Bereich ein kleiner, runder Mond. Rechts eine Spirale mit Sternen, Ornamenten, einer kleinen Mondsichel und mittig am Ende der Spirale ein schwarzes Loch, dessen Rand violett schimmerte.
Um die Zeichnungen herum standen etliche Symbole, die sich als Buchstaben entpuppten. Buchstaben einer der fünf Sprachen dieser Welt. Ich hatte nie begriffen, warum ich diese Sprachen beherrschte, hatte ich doch bislang geglaubt, ich würde lediglich träumen.
Eigenartiger Weise verstand ich die dort geschriebenen Wörter jedoch nicht.
"Das liegt daran, dass sich dieses Buch lediglich von mir lesen lässt, dem König von Caladium", antwortete Arylâth einmal mehr auf meine Gedanken. "Auf diesen Seiten werden andere Welten beschrieben und eine Prophezeiung, dass der Tag kommen wird, an dem aus einer dieser fernen Welten ein Individuum hierher gelangen wird."
Deswegen war der König nicht überrascht gewesen und hatte mich nicht für verrückt gehalten. Aber eine Prophezeiung? Handelte sie wahrhaftig von meiner Wenigkeit? Das würde die Stimmen erklären.
Ich nahm Arylâths Seitenblick wahr, weswegen ich meine Gedanken schleunigst tief in meinem Unterbewusstsein vergrub.
Der König ließ sich nicht beirren und streckte seine Rechte aus. Die mit reichlichen Ringen verzierte Hand berührte die Spirale im Buch. Dort bemerkte ich, dass sich an seinen Fingern und seinem Handrücken Symbole befanden. Magische Runen.
Ich riss meinen Blick recht rasch davon weg, als sich mit einem Mal die Spirale aus den Pergamentseiten hervorhob und in die Luft begab. Sie schwebte kurz über dem Pult, ehe sie größer und größer wurde. Schließlich dehnte sie sich vollends aus und eine magische Explosion entstand, aus welcher Sterne hinabregneten und ein großes, schwarzes Loch hervorging.
Das Loch schimmerte in einem unheimlichen Dunkelviolett.
"Es steht für ein Portal in andere Welten", erklärte der König neben mir. Zwei Sekunden später nahm er sich einen Silberring vom Finger und schmiss ihn in die Luft. 
Das Stück Metall schwebte. Es bestand aus mehreren ineinander geklappten Ringen, die sich nun gegen und im Uhrzeigersinn drehten wie ein Astronomie Modell. Sie dehnten sich auf die gleiche Weise aus wie die Spirale, bis die Ringe uns in ihre Mitte schlossen. 
Planeten, Sterne, Galaxien und Monde erschienen vor meinem Auge und schimmerten lebensecht in allen Farben. Sie schwebten um uns herum - langsam genug, um die Hand nach einem der Planeten auszustrecken.
Aus dem Nichts tauchte vor mir die Erde in ihrem Sonnensystem auf. Meine Augen weiteten sich und meine Hand hob sich wie von selbst, um nach meiner alten Heimat zu greifen.
Bevor meine (nicht weniger mit Ringen verzierten) Finger den Erdball jedoch berühren konnten, verschwanden die Planeten und Galaxien. Die Ringe schrumpften und legten sich zu ihrer alten Form zurecht. Der wieder normalaussehende Ring fiel auf das Buch, woraufhin der König ihn ergriff und zurück an seinen Zeigefinger steckte.
Das schwarze Loch verschwand und zu guter Letzt klappten die Seiten des Buches zu.

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