Kapitel 15

Wie sich die meisten bereits denken konnten, war der weitere Anstieg kein leichter und das würde sich vorerst nicht ändern, da die Höhe konstant zunahm.
Unser Glück hier war, dass wir viele der alten Gänge und Tunnelsysteme der Vergessenen nutzen konnten. Mehr und mehr vermisste ich jedoch mein altes Bett. Früher hatte ich schließlich nicht auf kalten Steinböden oder Ästen schlafen müssen.
"Ich dachte, der Nordkamm wäre durch eine Barriere geschützt?", fragte ich meinen Begleiter nach einer Weile. Die meiste Zeit über schwiegen wir uns an, was meine Beine allmählich zu lähmen schien.
"Ist er auch", antwortete Arylâth. "Wir haben sie längst durchquert. Lediglich Wesen mit reinen Absichten schaffen es hindurch. Im Gegensatz zu der magischen Mauer um den Palast herum, ist diese hier weder sichtbar noch spürbar."
Ich nickte langsam mit dem Kopf. "Verstehe."
Eine erneute Darlegung meiner Meinung über seine Abgrenzung zu seinem Volk und dessen Früchte, waren meines Erachtens nicht länger angebracht. Er würde mir weder zustimmen, noch erklären, weshalb genau er sich von der Welt (die er im Grunde schließlich regierte - juhuu, Weltherrschaft) distanzierte.
Schnee-Regen peitschte mir unangenehm ins Gesicht. Meine Begleitung gab eine minimalistische Handbewegung von sich und eine Barriere aus Wärme umgab uns beide. Es hielt uns nicht nur warm, sondern schmolz sämtlichen Schnee, bevor er es an unsere Gesichter schaffte.
Just als ich ihm danken wollte, ertönte dieselbe Art von Brüllen, die wir an unserem ersten Tag des Anstiegs gehört hatten - lediglich um das Zehnfache lauter.
Arylâth blieb instinktiv stehen und legte eine Hand an den prunkvoll geschmiedeten Griffs seines Schwertes. Da ich in der Lage war eins und eins zusammenzuzählen, war abzusehen, dass sich eine Bestie in der Nähe befinden musste, welche wohl nicht nachdachte, bevor sie jemanden angriff.
"Die Kreaturen in dieser Gegend lebten einst in Frieden und Harmonie mit dem König und seinem Volk", sagte Arylâth - die Stimme zu einem Raunen gesenkt. Seine Augen suchten die verschneiten Gipfel ab.
"Seitdem die Siedlungen im Nordkamm nicht länger bewohnt werden, zählen die Bestien des Nordkamms zu den gefährlichsten. Ihre starke Charakterveränderung liegt vermutlich an der fehlenden Harmonie. Harmonie, die es zu den Zeiten vor den Kriegen noch gegeben hat.", fuhr er fort, ohne seinen Fokus zu verlieren, was nebenbei äußerst bemerkenswert war. Nebel und Schnee hatten eine nahezu undurchdringbare Mauer geformt, die zumindest meine Sicht auf drei Fuß beschränkte.
Eventuell war Arylâths Stärke der Grund, weshalb die Drachen gewollt hatten, dass er mit mir käme. Auf mich allein gestellt, hätte ich mit Sicherheit keine zwei Tage durchgestanden.
Der Schnee knirschte leise unter meinen Stiefeln. Bis auf dieses Geräusch wurde es auffällig still. Selbst der Wind, welcher bis vorhin schaurig durch die hohen Gipfel der Berge gepfiffen hatte, schien keinen Mucks mehr von sich zu geben.
Plötzlich riss mich Arylâth mit der Linken zurück, wodurch ich mit meinem Hintern in einem Schneehaufen landete, der durch die Wärmebarriere schmolz.
Mit der Rechten hatte mein Begleiter sein Schwert gezogen. Es kostete mich geschlagene zwei Atemzüge, bis ich begriff, was gerade geschehen war.
Eine Bestie war lautlos aus dem Nebelschleier gesprungen. Hätte der König mich nicht rechtzeitig nach hinten gezogen, wäre ich jetzt Hackfleisch unter dem Monstrum gewesen.
Arylâths Fußstellung war im Augenblick um ein Vielfaches besser als meine torkelnden Versuche, wieder auf die Beine zu kommen.
Wie eine Katze drehte er sich mit der Bestie im Kreis. Sein Gegner erinnerte mich an eine Mischung aus Schneeleopard und Resident Evil. Es besaß acht riesige Tatzen mit scharfen Klauen aus Mondkristall, unzählige Spitze Zähne, ein Paar blau glühende Augen und weißes Fell mit dunkelblauer Musterung.
Fauchend fixierte es jetzt Arylâth und ließ mich fürs Erste außen vor - wofür ich mehr als nur dankbar war. Einbrechen? Stehlen? Konnte ich. Gegen eine zwei Meter Bestie, die ausschließlich aus Muskelmasse und Magie bestand, kämpfen? Eher nicht.
Arylâth schnellte vor und holte zeitgleich mit seinem Schwert, das wahrlich eines Königs würdig war, aus. Die Bestie sprang agil und flink zur Seite, wodurch die Klinge hauptsächlich Fell streifte.
Ich tat mein Bestes, um möglichst keinen Laut von mir zu geben und mich aus dem Weg zu begeben. Schließlich wollte ich weder unter die Klauen der Bestie gelangen, noch von einer der Klippen in unendliche Tiefe stürzen, oder versehentlich von Arylâths Schwert getroffen werden.
Fauchend rannte das Vieh auf eine kleine Erhöhung und sprang mit einem Satz auf Arylâth zu, welcher in letzter Sekunde auswich und einen Feuerball auf die Bestie schoss.
Ein magisches Schild absorbierte Arylâths Magie und ließ das Monster unversehrt. Durch den Kampf der beiden war ich abgelenkt und wäre beinahe in den Abgrund getreten. Keuchend schwankte ich zur Seite und landete abermals auf meinem Allerwertesten - nur wenige Zentimeter vom Rand entfernt.
Es war jener verehrende Moment, als die Bestie die Aufmerksamkeit auf mich richtete. Wie in einem Delirium hörte ich Arylâths tiefe Stimme meinen Namen brüllen und ich hätte schwören können, dass er wahrlich besorgt um mich klang.
Das Monster raste mit Schallgeschwindigkeit auf mich zu, stieß sich mit seinen acht Pfoten vom Boden ab und ...
Ständig hörte man, dass einem kurz bevor man starb, sein Leben vor Augen geführt wurde. Mein Gehirn hatte allerdings nicht genügend Zeit dafür.
Bevor ich überhaupt verstanden hatte, dass ich gerade dabei war, meinen letzten Atemzug zu machen, erstarrte die Bestie im Sprung wie Stein.
Erstarren war das falsche Wort, wie ich kurz darauf bemerkte.
In der Brust des Mutanten steckte Arylâths Schwertspitze, die von dunklen, schaurig tanzenden Schatten umgeben war, welche den Leib des Monsters langsam zu Asche zerfallen ließen.
Kaum war die letzte Spur des Monsters beseitigt, stand vor mir jener König, der vor etlichen Jahren eine Hetzjagd auf Bewohner des Dorfes veranstaltet hatte.
Nichts an ihm war wie der Arylâth van Rothrâs, den ich einst kennenlernte. Selbst die Krone Myrria, die stets anmutig auf seinem Haupt erstrahlt war, hatte sich verändert.
Sie wirkte, als hätte man sie aus Dunkelheit und Schatten erschaffen. Kein Licht, keine stärkste aller Magie.
Schwarze, geschwungene Hörner ragten aus Arylâths Haupt. Die Sklera seiner Augen war von Weiß zu einem Schwarz gewechselt, wodurch seine rote Iris umso mehr hervorstach.
Schwarze Rinnsale zeichneten sich unter seiner Haut an Augen und Stirn ab. Dünne, feine Linien, die eigenartige Muster bildeten und lebendig erschienen.
Seine spitzzulaufenden Ohren waren länger, seine Haut blasser und seine Aura besaß ein solches Ausmaß, dass es mir förmlich die Kehle zuschnürte.
Merkwürdig funkelnde Schatten umgaben ihn.
Im ersten Moment kam mir lediglich eine Sache in den Sinn.
Dass Nefathâr am Ende womöglich Recht gehabt hatte.

Während ich wie ein Häufchen Elend versteinert am kalten Boden saß, verwandelte sich Arylâth langsam vor meinen Augen zurück in jene Erscheinung, die ich seit meinem Einbruch in den Palast gekannt hatte.
Er steckte sein Schwert zurück an seinen Platz. In seinen Augen konnte ich Unbehagen erkennen. Trotz der Bilder in meinem Kopf konnte und wollte ich nicht glauben, dass Nefathâr am Ende Recht behalten sollte.
"Was seid Ihr?", hörte ich mich selbst fragen. "Nefathâr sagte, Ihr hättet einen Weg gefunden, die Magie der Krone zu umgehen... Was ich gerade sah... Stimmt es?"
Arylâths Zähne knirschten, als ich die Worte seines Bruders erwähnte. Da ich noch am Boden saß, hielt er mir seine Hand hin. Seine Haltung zeigte deutlich, dass er gar nicht daran dachte, seine Hand wieder zu senken. Ob es daran lag, dass ich sie letztendlich ergriff, oder an der Tatsache, dass ich es mir schier nicht vorstellen konnte, Nefathâr hätte die Wahrheit erzählt, vermochte ich nicht zu sagen.
Erst nachdem ich wieder auf den Beinen stand - wenn auch etwas wackelig -, antwortete der König auf meine Frage, obgleich mit einer Gegenfrage.
"Denkt Ihr das wahrhaftig?" Er sah mir beinahe verletzt in die Augen. Als hätte er nach sehr langer Zeit zum ersten Mal wieder jemanden vertraut und dieser Jemand - meine Wenigkeit - zweifelte nun an ihm.
"Dann sagt mir endlich die Wahrheit", verlangte ich. "Wie soll ich Euch Glauben schenken, wenn Ihr mir die wichtigen Details ständig vorenthaltet?"
Arylâth hob sein Kinn etwas an. "Nun gut... Ich denke, ich schulde Euch einige Antworten. Doch zunächst sollten wir zurück in die Tunnel. Kommt."
Mit sanftem Nachdruck schob er mich mit sich. Es ging einige steinerne - und eisige - Stufen hinab und den Weg weiter nach Norden, bis wir endlich eines der Tore, die in die Berge führten, erreichten.

Nachdem wir es uns an einem Feuer in einem der Gänge halbwegs bequem gemacht hatten, reichte mir Arylâth etwas warmes Wasser zum Trinken.
Während ich einige gierige Schlucke davon nahm, beobachtete er die Flammen, auf der Suche nach den passenden Worten.
"Soweit mir bekannt ist, gibt es von meiner Art nur mich", raunte er schließlich. "In alten Schriften wurde die Rasse ein einziges Mal erwähnt, allerdings ohne jegliche Erklärung."
Er hob seinen Kopf an, um Blickkontakt herzustellen.
"Man nennt meine Art Dunkelelfen.", raunte er.
Ein Schauer überkam mich und jagte sämtliche Härchen auf meinem Körper in die Höhe.
"Warum habt Ihr es mir nicht längst erzählt?", wollte ich wissen.
"Zum einen, weil es niemand weiß. Selbst Nefathâr kennt die Wahrheit nicht.", antwortete er.
"Aber wie ist das möglich?", fragte ich weiter. "Eure Mutter besaß Elfenblut, doch Euer Vater war ein Hexenmeister, soweit mir bekannt ist?"
"Das ist lediglich die halbe Wahrheit.", seufzte Arylâth. "Mein Vaters Vater war laut den Erzählungen ein Dunkelelf. Mein Vater machte mehrmals deutlich, dass dieser Teil unserer Familiengeschichte geheim gehalten werden muss. Vor allem was Dunkelelfen per se betrifft."
"Aber weshalb? Niemand ist grundsätzlich böse oder gut."
Der König nickte. "Das mag stimmen. Ich weiß es selbst nicht genau. Vater erläuterte das Thema nicht genauer."
Einige Zeit lang ließ ich mir alles durch den Kopf gehen, während wir uns am Feuer wärmten und etwas Essen zu uns nahmen.
"Denkt Ihr, das könnte der Grund sein, weshalb die Urdrachen wollten, dass Ihr mich begleitet?", fragte ich schließlich.
"Auszuschließen ist es nicht.", meinte er. "Wir werden bald Antwort auf diese Reise bekommen."
"Besser wir beeilen uns. Wenn Euer Bruder vor uns zurück ist, wird es schwierig, herauszufinden, was seine Pläne sind. Was, wenn er ein weiteres Attentat plant und es diesmal weniger glimpflich ausgeht?"
Arylâth schenkte mir ein flüchtiges Lächeln, das allerdings deutlich zeigte, wie wenig Furcht vor dieser Bedrohung in ihm wohnte.
Das Feuer knisterte und ließ wunderschöne Schatten über die vereisten Wände tanzen. Kaum vorstellbar, dass hier einst Wesen gelebt hatten. Es kribbelte in meinen Fingern, bei dem Gedanken, was auf uns warten würde.
Welche Bestien lauerten in den Schatten? Welche Bauten hatte man noch in den kalten Berg gezimmert? Waren es wahrhaftig die drei Urdrachen, die mich riefen?
"König Arylâth?", raunte ich - den Blick ins Feuer gerichtet. "Ich danke Euch. Ohne Eure Hilfe würde ich all das nicht schaffen. Egal wie stark jemand ist, ich bin davon überzeugt, dass jeder früher oder später jemanden benötigt, der einem zur Seite steht."
Mein Gegenüber schwieg für drei Atemzüge, schob mir schließlich etwas zu essen hin und erwiderte: "Ihr schuldet mir keinen Dank. Darüber hinaus stimme ich Euch gänzlich zu."
Arylâth legte seinen Kopf in den Nacken und sog die eisige Luft tief in seine Lungen, wodurch sich sein breiter Brustkorb deutlich unter der Rüstung anhob.
"Über die Jahre hin, während ich versuchte, mich um die Angelegenheiten selbstständig zu kümmern, merkte ich, dass es keine Rolle spielt, welch mächtigen, magischen Kräfte man besaß, es war ermüdend. Selbst Efrën vertraute ich mich nie völlig an, ständig auf der Hut, wer mich hintergehen könnte."
"Ein einsames Leben... Ich kenne das Gefühl...", murmelte ich. "Es besitzt die Kraft, einen von innen heraus zu zerstören."
"Ich muss diese Sache mit Nefathâr zu Ende bringen", sagte Arylâth. Sein Blick wanderte durch die Höhle. "Anschließend werde ich mich dem Volk wieder zeigen und erklären, was geschah."
Ich überlegte eine Weile, entschied mich schließlich die Frage auf meiner Zunge auszusprechen.
"Weshalb habt Ihr damals Menschen aus dem Dorf getötet?"
Ich konnte durch die Flammen sehen, wie sein Körper sich anspannte.
"Jene, die ich tötete, hatten mit Nefathâr zusammengearbeitet.", antwortete er kühl. "Das Blut der Dunkelelfen sorgt für ein starkes Temperament, wenn man Wut verspürt. Kurz nach der Ermordung meiner Eltern, war ich nicht in der Lage, rational zu denken. Am Ende hatten die Beweise ohnehin nicht gereicht, um die Schuldigen vor aller Augen hinzurichten."
Der Schmerz, den er damals empfunden haben musste - vermutlich weiterhin durchlebte -, erfüllte jetzt auch meinen Körper. Als wäre es mein eigenes Leid, unterdrückte ich Tränen und entschied mich dafür schweigend zu rasten.

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