Kapitel 14
Leichtes Unwohlsein machte sich in mir breit. Gemeinsam mit Arylâth zu reisen, darauf war ich nicht gefasst gewesen. Seit meinem Einbruch im Palast waren einige Monde vergangen, trotzdem konnte ich ihn weiterhin nicht einschätzen. Er war in meinen Augen das größte Mysterium, das es in Caladium gab.
Mit den drei Stimmen - dem Anschein nach die Stimmen der Urdrachen, die ich gelegentlich hörte oder Nefathâr konnte ich irgendwie umgehen, aber mit dieser eigenartigen Anspannung, die hin und wieder in Sanftmut wechselte, nicht.
Per Portal reisten wir in den Osten, wo wir die Abwesenheit von Onyr vorfanden. Wir erfuhren rasch, dass der Fürst des Ostens einen Ausritt unternahm. Unser Weg führte uns von der schwebenden Insel auf festen Boden. Es benötigte weder viel Zeit noch Aufwand, um Onyr zu finden. Er saß auf einem prächtigen Tiger mit Stoßzähnen, die an dessen Vorfahre erinnerten. Hinter ihm ritten vier Wachen.
Kaum fiel Onyrs Blick auf uns, hielt er samt seiner Scharr an. Mit einem Lächeln auf den Lippen schwang er sich von dem Rücken des Tigers, der nebenbei bemerkt das Zweifache an Größe der Tiger aus meiner alten Welt maß.
Die silberne Krone auf Onyrs Haupt erinnerte mich an das alte China. Sie funkelte im Lichtschein, war allerdings um einiges dezenter als die Krone von Myrria, dessen Antlitz auf Arylâths Haupt erstrahlte.
"Mein König", grüßte er Arylâth kombiniert mit einer Verneigung - die Wachen folgten seinem Beispiel.
Meine Begleitung neigte kurz seinen Kopf und schenkte Onyr ein freundliches und sehr rares Lächeln. "Schön dich wiederzusehen, mein Freund.", raunte er.
"Das kann ich nur bestätigen." Der Herrscher des Ostens schenkte mir einen munteren Blick. "Wie ich sehe, seid Ihr dieses Mal gemeinsam gekommen. Bitte, folgt mir."
Der Elf deutete nach links und zeigte uns den Weg zu einem wundervollen Pavillon aus Ranken, Efeu und Wurzeln.
Wir nahmen unter dem Naturdach Platz. Keine drei Sekunden später flog aus dem Nichts eine Kanne Tee begleitet von drei Tassen herbei.
"Nun?", fragte Onyr besonnen, nachdem jeder sein Getränk vor sich auf dem Tisch aus knorrigem Holz stehen hatte. "Wie kann ich Euch behilflich sein, mein König?"
Onyr nippte an seinem Tee - die Ruhe selbst. Wir hatten ihm mittlerweile alles erzählt, bis hin zu der Sache mit den Stimmen der Urdrachen. Der Elf hatte still und aufmerksam zugehört.
"Ich verstehe", war das Erste, das er raunte. Anschließend hob er seinen Kopf, ließ die Teetasse sinken und schenkte mir ein warmes Lächeln.
"Ihr ... seid nicht überrascht?", stellte ich perplex fest.
Onyrs rechter Mundwinkel zuckte ein Stück weiter nach oben. "Die Prophezeiung der Anpé Čeya dürfte den meisten Wesen in Myrria bekannt sein", sagte er. "Von dem ersten Moment an als wir uns trafen, wusste ich, dass sie von Euch handelt. Ihr musstet es lediglich für Euch selbst herausfinden."
Es gefiel mir nicht, dass dem Anschein nach jeder mehr über mich wusste als ich selbst. Gleichzeitig fühlte ich mich weder besonders noch euphorisch. Im Gegenteil. Es war alles derart überwältigend, dass unschöne Erinnerungen meines alten Lebens mich heimsuchten.
Unter dem Tisch aus Ranken und Wurzeln spürte ich plötzlich etwas warmes an meiner Hand. Die Gedanken an mein irdisches Dasein verschwanden. Mein Blick ging zu Arylâths Fingern, die sanft auf meinem Handrücken ruhten. Erst als selbst die letzte Erinnerung an Kanada verschwunden war, löste er sich von dieser überraschenden Berührung. Seinen Blick die gesamte Zeit über in seinen Tee gerichtet.
"Es wird das Beste sein, wenn ihr noch heute aufbrecht", meldete sich Onyr wieder. "Die Reise durch den Norden wird euch einige Zeit in Anspruch nehmen. Ich werde sehen, wie ich Nefathâr aufhalten, und euch somit etwas Zeit einräumen kann."
Ich riss mich von der Verwirrung, die mit Arylâths Berührung eingekehrt war, und widmete mich zurück zu der vor mir liegenden Aufgabe. Dank des Königs Hilfe wurde mir allmählich bewusst, dass ich nicht länger auf mich allein gestellt war. Ich hatte die Unterstützung des östlichen Fürsten und des Königs persönlich. Hazel aus Kanada würde stets ein Teil von mir bleiben und dennoch war dieser Abschnitt Geschichte.
"Können wir nicht per Portal in den Norden reisen?", warf ich ein.
"Portalmagie ist äußerst ungenau", antwortete Arylâth. "Ihr wollt bestimmt vermeiden, plötzlich am Rand einer Klippe zu stehen. Zudem ist der hohe Norden durch eine magische Barriere geschützt."
Der Gedanke an einen Sturz in endlose Tiefe lies mich schaudern. Letzteres aufhorchen.
"Und da seht Ihr kein Problem?", fragte ich - meinen Kopf leicht schräg gelegt und eine Augenbraue gehoben.
Arylâth trank gemächlich seinen Tee, ohne auch nur den Gedanken an eine Antwort auf meine Frage zu verschwenden.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Onyr seine Lippen zu einem Schmunzeln hob. Er schien den König wirklich gut zu kennen. Für mich hingegen stellte dieser ein einziges Mysterium dar.
Was immer der Besuch im Osten gebracht haben sollte, mir war es schleierhaft. Nach dem Tee befanden wir uns bereits auf der Reise ins angrenzende Gebirge - wobei angrenzend die Übertreibung des Jahrhunderts war. Als all das hier noch ein "Traum" gewesen war, hatte es mich nicht sonderlich viel Zeit gekostet von A nach B zu reisen. Danach gab mir der König den Portalstein. Ich erfuhr somit zum ersten Mal am eigenen Leib, dass diese Welt weitaus größer und die Strecken um einiges länger waren. Obgleich wir flogen - Arylâth auf einem Lóng, ich auf Laryûg - kostete es uns eine halbe Tagesreise bis ins Gebirge. Und damit waren lediglich die kleineren Berge, die das östliche Reich Nyphtù mit Caladium trennten, gemeint.
"Ihr seht angespannt aus", merkte Arylâth an, als wir auf einem erhöhten Vorsprung im Gebirge landeten und die Tierwesen fortschickten.
"Es ist einfach ungewohnt. Der lange Flug.", antwortete ich.
Meine Augenbrauen zuckten, als ich hörte, wie Arylâth ein leises Lachen gluckste.
"Ihr wart lange auf See", entgegnete er.
Ich fischte in meinen Gedanken nach Wörtern, fand jedoch keine Antwort auf sein plausibles Argument, weswegen ich mich dazu entschied, das Thema zu wechseln.
"Habt Ihr kein persönliches Reittier?", fragte ich.
Es verwunderte mich kaum bis gar nicht, dass der König mich nicht mit einer Antwort auf meine neugierige Frage beglückte, sondern stattdessen den felsigen Pfad in die Berge einschlug.
Wir befanden uns bereits in beträchtlicher Höhe. Eine Höhe, die kaum ein Viertel von dem Ausmaß erreichte, die der Nordkamm hatte. Wie lange würden wir wohl unterwegs sein? Würde Nefathâr in der Zeit zurückkehren?
"Macht Euch keine Sorgen um Nefathâr", riss mich Arylâth aus meinen Gedanken. "Wie ich ihn kenne, wird er frühestens in einer Woche zurückkehren."
Ich blies eine Haarsträhne, die sich aus meinem Knoten gelöst hatte, aus dem Gesicht und sagte: "Etwas Privatsphäre, wenn es Euch recht ist. Vorhin habt Ihr meine Vergangenheit gelesen, und so wie Ihr Eure hütet, möchte ich meine ebenfalls für mich behalten."
Arylâth schenkte mir einen kurzen Seitenblick, ehe er erwiderte: "Ich habe Eure Vergangenheit nicht gelesen."
Ich legte meinen Kopf schräg und musterte ihn, während ich zeitgleich darauf achtete, nicht über etwas zu stolpern, was mir letztendlich nicht gut gelang. Mein Fuß stieß gegen einen harten Brocken. Ich kam ins Straucheln und wäre wahrscheinlich gegen die Felswand rechts von mir geprallt, hätte Arylâth mich nicht rechtzeitig aufgefangen.
Es war einer dieser Momente mit ihm, in dem mir sämtliches Blut in die Wangen schoss und mein Herz schneller schlug als üblich.
Er ließ mich langsam los und ließ ein leises - kaum merkliches - Seufzen verlauten, ehe er den Weg fortsetzte und beifügte: "Seit ich denken kann, besitze ich eine gewisse Fähigkeit, die sowohl Fluch als auch Segen sein kann."
Seine Augen trafen für den Bruchteil eines Atemzugs auf meine. "Vertieft sich jemand in längst vergangene Geschehnisse, sehe ich seine Erinnerungen in manifestierter Form. Ihr könnt es Euch wie Geister der Vergangenheit vorstellen, welche um mich und denjenigen herumschwirren und die Szenen bilden, an der derjenige gerade dachte."
Ich hob meine Augenbrauen ungläubig an - beinahe wäre ich abermals gestolpert. "Ich habe nie zuvor etwas derartiges gehört."
Meine Augen mussten wohl gerade vor Staunen funkeln wie Sterne, denn er lachte leise auf, als sein Blick auf mich traf.
"Mir wäre in all den Jahren kein Zweiter untergekommen, der diese Fähigkeit ebenfalls besitzt", meinte er. Seine sonst steife und strenge Miene wurde weicher. Es war um einiges angenehmer in seiner Nähe. Die einschüchternde Aura um ihn hatte abgenommen und wirkte nahezu casual.
Erst jetzt wurde mir langsam bewusst, dass ich die nächsten Tage und Nächte in seiner Gesellschaft verbringen würde. Augenblicklich wurden meine Wangen wieder wärmer. Gut möglich, dass sie die Farbe des Sonnenuntergangs annahmen.
Die Rot- und Orangetöne tanzten über den Horizont wie die Aurora des nördlichen Nachthimmels auf der Erde. Ob es hier etwas Vergleichbares gab?
Obwohl ich durchaus flink auf den Füßen war, schien Arylâth stets einen Tick schneller zu sein, weswegen ich meist seinen breiten Rücken vor Augen hatte - wenn ich nicht gerade versuchte, kein weiteres Mal zu stürzen.
Ich kam nicht drum herum, an unsere erste Begegnung zurück zu denken. Selbst nach all der Zeit stellten sich mir sämtliche Nackenhaare bei dieser Erinnerung auf.
Allein sein Äußeres konnte jeden mit Leichtigkeit einschüchtern. Mit seiner Aura und seiner Stärke, weshalb versteckte er sich damit? Nefathâr hin oder her, ich zweifelte stark an, dass es tatsächlich jemand bewerkstelligen konnte, Arylâth zu stürzen. Stattdessen schadete ihm dieses Versteckspiel wesentlich mehr, da das Volk ihren König nie zu Gesicht bekam.
Da ich als Vyora wesentlich mehr Mumm besaß als Hazel, teilte ich ihm meine Gedanken wenig später Wort für Wort mit, ganz gleich, ob er sie belauscht hatte oder nicht.
Währenddessen hatten wir bereits um einiges an Höhe dazugewonnen, was unsere Wanderung betraf.
Arylâths Seitenblick jagte mir einen Schauer über den Rücken. Trotzdem stellte ich mich seinen Blicken, ohne zurückzuschrecken.
"Kann es sein, dass es einen anderen Grund für Euer Spiel im Schatten gibt?", fragte ich.
Meine Wortwahl ließ seine rechte Augenbraue zucken, ob vor Überraschung oder Belustigung vermochte ich nicht zu sagen.
Eine Antwort auf meine Frage wurde mir verwehrt, denn bevor er den Mund dazu öffnen konnte, ertönte ein tiefes Brüllen, welches den vereisten Boden zum Vibrieren brachte.
Wir hatten bereits die Eis- und Schneegrenze erreicht, was allerdings mehr Gefahren brachte. Das Bestätigte dieses Gebrüll.
Arylâth hatte umgehend angehalten. Ohne mit der Wimper zu zucken, lauschte und horchte er in die Dunkelheit. Der schwebende Feuerball, der uns bis eben noch Licht gespendet hatte, erlosch. Des Königs Augen sahen mit Sicherheit besser als die meinen.
Nach einigen unendlich erscheinenden Sekunden, raunte Arylâth: "Wir sollten uns einen Unterschlupf suchen und bis morgen mit dem weiteren Anstieg abwarten."
Ich sah keinen Grund, ihm diesbezüglich zu widersprechen.
Ob es Glück, Schicksal oder Zufall war, dass wir bereits recht nah an eine Höhle gekommen waren, blieb jedem selbst auszusuchen.
Zu meiner Überraschung entpuppte sich die vermeintliche "Höhle" als eine Art Durchgang, der durch den Gipfel vor uns führte. Kunstvolle Bögen, Säulen und Verzierungen waren in Stein und Eis gehauen worden und reflektierten schimmernd das Licht des am Boden entfachten Feuers.
Bei näherem Herantreten bemerkte ich, dass das Gestein an manchen Stellen Adern von Mondkristallen aufwies. Den Kristall erkannte man sofort an seinem bunten Schimmern.
"Was ist das hier?", fragte ich - mich staunend im Kreis drehend. Mein Atem schwebte in weißen Wölkchen empor zur Gesteinsdecke. Ohne Arylâths Magie wäre ich vermutlich längst erfroren.
Floss Magie durch die Adern einer Person, konnten die Gezeiten einem nur noch schwerlich etwas anhaben. Des Königs Aura besaß ein solches Ausmaß, dass es genügte, sich in seiner Nähe aufzuhalten.
"Man nennt sie die Ruinen der Vergessenen", hörte ich seine tiefe Stimme hinter mir. Er hatte seinen Umhang am Boden ausgebreitet und deutete mir, mich zu setzen, was ich nach kurzem Zögern tat.
"Die Vergessenen?", fragte ich und zog meine Beine in den Lotussitz.
Der König nahm mir gegenüber Platz und schürte das Feuer. "Die ersten Könige und Königinnen dieser Welt", antwortete er. "König Oryn lebte im Nordkamm, bis er sich mit Königin Ayvé vermählte. Da er die Sprache der Urdrachen sprach, pflegte er, ihnen nah zu sein, weswegen er ein Komplex im nördlichen Gebirge erschuf, das sowohl Tempel zur Ehrung der Drachen als auch Palast war. Damals lebte hier unter ihm eine Sippe, die allerdings nach seinem Fortgehen seinem Beispiel Stück für Stück folgte, da das Leben im Nordkamm mit der Zeit zu gefährlich wurde. Als mit König Oryns Ableben die Stimme der Drachen verschwand, schien ihre Magie teilweise mit ihm zu gehen. Es ließ sich keine Nahrung mehr anbauen und die Quellen versiegten. So waren die letzten dieser Siedlung schließlich gezwungen, ebenfalls zu gehen. Als die Kriege ausbrachen, rückte dieser Teil der Geschichte immer weiter in Vergessenheit, weswegen die wenigen, die sie noch zu erzählen wissen, diesen Ort hier Ruinen der Vergessenen nennen."
Als Arylâth mit seiner Erklärung am Ende angelangt war, wusste ich nicht recht, wie ich mich verhalten sollte. Fürs Erste schloss ich meinen Mund, der seit dem letzten Drittel der Erzählung offen gestanden hatte und schluckte, um meine Kehle zu befeuchten.
Arylâth reichte mir etwas von unserem Vorrat an Speis und Trank, welchen er magisch verkleinerte und vergrößerte, damit er ohne Umstände in einer Tasche an seinem Gürtel baumeln konnte.
"Wie kam es, dass nach König Oryn niemand je wieder die Stimme der Drachen hören konnte, es aber plötzlich jemand wie ich mit einem Mal beherrscht?", fragte ich nach einer kleinen Pause aus Nachdenken, Trinken und Essen.
Mir entging nicht, dass sich Arylâth merklich versteifte. Ich wollte bereits erneut fragen, ob es einen anderen Grund dafür gab, dass er sich hinter magischen Mauern in seinem Palast versteckte, da fiel er mir ins Wort, bevor ich überhaupt meinen Mund hatte öffnen können.
"Wenn jemand eine Antwort dazu kennt, dann die Urdrachen. Aus welchem Grund Ihr die Gabe besitzt und warum Ihr in diese Welt geschickt wurdet."
"Nur weshalb können sie mir die Antworten darauf nicht ohne diese Reise mitteilen? Und was könnte es für einen Zweck haben, dass sie Euch ebenfalls sehen möchten?", entgegnete ich.
Er wich meinen Blicken und Fragen weiterhin mit unerschütterlicher Neutralität aus.
"Nichts geschieht grundlos", raunte er. "Jetzt legt Euch zur Ruhe. Morgen erwartet uns eine lange Tagesreise."
In mich hineinseufzend gab ich mich geschlagen. Es hätte wohl wenig gebracht, meine letzten Kräfte des Tages für eine Diskussion zu verbrauchen, weswegen ich es mir so gemütlich wie möglich auf seinem Umhang machte und die Augen schloss. Mit der Wärme des Feuers im Gesicht und tausenden Fragen im Kopf fiel ich schlussendlich vor Erschöpfung in einen recht unruhigen Schlummer.
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