Kapitel 12

Die Halle, durch die unser Weg führte, reichte so hoch hinauf, dass einem schwindlig wurde, wenn man nach oben sah. Säulen aus Rohedelsteinen behielten das gebogene Stalaktitengewölbe an Ort und Stelle. Blaue Seidenstoffe hingen von oben herab und verliehen einem den Eindruck, als handelten es sich um Wasserfälle.
Zwei Ecken weiter brachte uns ein Hufeisenbogenportal mit Seidenvorhängen in den Thronsaal. Ein länglicher Raum mit drei Mal mehr Säulen und Bögen. Am Ende ein Podest und ein Doppelthron aus Onyx und Goldornamenten.
Unsere Begleiter traten zur Seite und schenkten uns damit freies Blickfeld auf das Königpaar. Eine zeitlos schöne Frau die ihrem Bruder Onyr sehr ähnlich sah. Sie hatte die gleiche Nase und eine ähnliche Mundpartie. Ihre Haare waren burgunderfarben und ihre Augen wiesen einen leichten Rosaton auf. Sie trug ein träumerisches Seidenkleid in den Farben einer Magnolie. Um ihren Hals und ihre Handgelenke funkelnde Juwelen und an ihren Oberarmen zwei Goldreifen in Form von Schlangen. Auf ihrem Haupt lag ein langes, breites Tuch an dem Goldplättchen und kleine Juwelen hingen.
Der König besaß mocca-farbene Haut und Augen in Mahagoni. Seine Kieferpartie war etwas breiter, seine Nase jedoch elegant und schlank. Über seine Stirn und Wangenknochen zeichneten sich wundersame Schnörkel in goldener Farbe. Das Gesicht umrahmt von azurblauem Haar mit schwarzen Strähnen. Um die Hüften trug er einen bodenlangen Rock mit Gürtel aus Juwelen und Goldplättchen. Über Schlüsselbein, Hals und Nacken schmiegten sich Goldfaser und Seide. An seinen leicht spitz zulaufenden Ohren hingen Juwelen in Goldfassung.
"Der König und die Königin von Pachéla", rief der Mann, der uns begleitet hatte mit kühlem Ton.
Nefathâr trat vor und verneigte sich vor dem Königspaar. "Habt Dank, dass Ihr uns in Euerem Palast willkommen heißt", sprach er mit einem süffisanten Grinsen auf den Lippen.
Ich steckte die Bewunderung beiseite, trat ebenfalls einen Schritt nach vorn und verneigte mich auf gleicher Höhe. Zu sprechen wagte ich jedoch nicht.
"Ihr solltet wissen, dass ich es war, die Euch sehen wollte", sprach Ynara mit weicher Stimme, aber mit ernster Tonlage. "Nun, wollt Ihr uns nicht verraten, wer Euch begleitet?"
"Gewiss", ergriff Nefathâr erneut das Wort. Dabei deutete er in meine Richtung. "Verzeiht, dass ich einen ungeladenen Gast mitbringe, aber ich denke, es ist von Wichtigkeit, dass Ihr Vyora kennenlernt."
Es vergingen einige Atemzüge des Schweigens, bis Ynara sich plötzlich erhob. "Dann wollen wir unser Gespräch an einem reizenderen Ort fortführen", sagte sie. Mit diesen Worten erhob sich auch Awâr und bot ihr seinen Arm an. Gemeinsam leiteten sie den Weg unter die Hufeisenbögen hindurch. Zunächst rechnete ich mit einem weiteren Raum hinter dem Thron. Ich wurde allerdings recht positiv überrascht, als sich der Raum als achteckige Loggia entpuppte. Der Boden bedeckt von einem Teich, dessen Wasser die Farbe von Kupfer besaß, aufgrund des roten Gesteins, das sich darunter befand. Büsche und Blumen gediehen hier in jeder Ecke und etwas weiter rechts hinten stand ein großer Laubbaum, dessen Blätter gold-rot schimmerten.
Darunter lag ein länglicher, an der Oberseite abgeflachter Stein. Wie an einem Teetisch nahmen der König und die Königin daran Platz. Sie knieten sich direkt in das kühle Wasser, welches mittlerweile auch meine Knöchel umfasste.
Nefathâr verlor keine Zeit, darüber nachzudenken. Er setzte sich direkt gegenüber der Majestäten.
Entgegen der beißenden Hitze dieses Landes, war mir das kühle Wasser herzlich willkommen. Als ich mich neben Nefathâr hinhockte, bemerkte ich, dass es sich bei dem Teich um eine Quelle handelte, die an einem Fels hinter dem goldenen Baum entsprang.
Der Mann von vorhin riss mich aus meinen Gedanken. Er stellte ein Silbertablett mit Getränken auf den Tisch und reichte jedem einen Becher (den Majestäten selbstverständlich zuerst).
Das Getränk war mir völlig unbekannt. Man musste es mir wohl an meinem Gesichtsausdruck ablesen, denn Ynara sagte: "Enchê, ein kalter Trank aus Kaktusblüten und Enzian."
Ich schenkte ihr ein dankbares Lächeln, bevor ich an meinem Becher nippte. Das Kaltgetränk schmeckte sehr süß. Es erinnerte mich ein wenig an den Eistee, den ich stets in Kanada im Büro  getrunken hatte. Der entscheidende Faktor; es war kühl und vertrieb die Hitze.
König Awâr hatte bislang kein einziges Wort gesprochen. Mittlerweile fragte ich mich, ob er eventuell stumm war. Just in jenem Moment bemerkte ich, wie das Amulett an meinem Armband gegen Gedankenleser aufleuchtete.
Ich schob meine Hand unauffällig in meinen Schoß, um das Leuchten zu verbergen. Ynara war es, die wieder das Wort ergriff.
"Wie kommt es, dass ich von Euch eine starke Aura wahrnehmen kann?" Sie flüsterte diese Worte, weswegen anzunehmen war, dass sie darauf keine Antwort erwartete. Nichtsdestotrotz hatte es meine Neugierde geweckt. Eine starke Aura? Bei mir? Eventuell hing es ja damit zusammen, dass ich aus einer anderen Welt stammte.
Noch ehe ich etwas hätte erwidern können, sprach Nefathâr. "Sie ist  eine Anpé Čeya."
Während König sowohl Königin nahezu erstarrten, war ich außerstande, etwas mit dieser Bezeichnung anfangen zu können. Sie war mir in all der Zeit kein einziges Mal untergekommen und übersetzen ließ es sich ebenfalls nicht.
Was immer Nefathâr mich auch genannt hatte, es schien seine Wirkung nicht zu verfehlen. Königin und König musterten mich mit einem Funkeln in den Augen, das deutlich ungläubige Neugierde widerspiegelte.
"Wenn dem wahrhaftig so ist, wird dies über vieles entscheiden", raunte Ynara.
Ich wiederum verstand nur Bahnhof. Da ich gern Teil des Gesprächs sein wollte, in dem es ja offensichtlich um mich ging, fragte ich: "Tut mir leid, aber was ist eine Anpé Čeya?"
Die Blicke des Königspaares richteten sich auf mich und Ynara schenkte mir ein Lächeln, das zwar warm wirkte, allerdings ihre Augen nicht erreichte.
"So wird die Seele aus einer anderen Welt genannt", antwortete sie. Plötzlich herrschte in meinem Kopf absolute Stille. Kurz bevor das schmerzende Pfeifen in meinen Ohren eintrat. Eine Art Panikattacke. Mit solchen Dingen hatte ich mich in Kanada herumschlagen müssen, noch nie aber in dieser Welt. Woher wussten die beiden von mir? Woher wusste Nefathâr von mir?!
Mein Herz schlug so schnell, dass ich das Gefühl hatte, an imaginärem Wasser zu ertrinken.
"Es ist so", fuhr Ynara fort, ohne meinen Zustand zu bemerken. "Wir wussten seit Anbeginn der Zeit, dass neben unserer auch andere Welten existieren. Hier in Pachéla gibt es ein Orakel. Wenn du weiter Richtung Süden reist, erreichst du eine Höhle. Dort findet ein Suchender seine Antworten." Ynara setzte eine kurze Pause ein. Das Fiepen war mittlerweile aus meinen Ohren gewichen und mein Herz schlug ein wenig langsamer als zuvor. Das lähmende Gefühl der Panik blieb.
"Das Orakel erzählte uns vor langer Zeit von einer Prophezeiung.", fügte die Königin hinzu. "Wir warteten mit Neugierde ab. Letzten Endes blieb uns keine andere Wahl, denn wie du höchstwahrscheinlich bereits weißt, hat sich König Arylâth von der Außenwelt abgeschirmt. Seit einigen Jahren ... weigert er sich, mit uns zu sprechen."
Es war anzunehmen, dass es hierbei um das angebliche Attentat auf König Arylâth ging. Im jetzigen Augenblick war es mir schier unmöglich, das Königspaar des Südens einzuschätzen. Gut möglich, dass tatsächlich ein Hinterhalt Arylâth dazu gedrängt hatte, die Verbindung zum Süden weitgehend zu minimieren.
"Reise nach Süden und befrage das Orakel selbst", sagte Ynara nach einer weiteren Pause, in der ich mir den Kopf zermalmte.
Nefathâr richtete sich auf und legte seine Hände an seine Oberschenkel. Er saß da wie ein Sultan. "Leider haben wir dafür keine Zeit. Wir..."
Ynara dachte gar nicht daran, ihn aussprechen zu lassen. "Ganz gleich was in euren Plänen liegt, ich bin mir sicher, du wirst dem ohne Vyoras Hilfe gerecht, Nefathâr." Sie nahm einen Schluck ihres Getränks und sah mir erneut direkt in die Augen. "Und ich bin mir sicher, dass Vyora mit einem Wimpernschlag beim Orakel und zurück ist."
Nefathâr schien sich lediglich zu ärgern, dass die Königin ihm einen Strich durch die Rechnung machte, ich hingegen bemerkte die einzelnen Betonungen in Ynaras Worten. Sie wusste von meinem Portalstein. Natürlich. Wie hätte sie es nicht spüren sollen? Sie war die Königin des Gesteins, so erzählte man sich. Nachdem ich das Dorf und den Palast gesehen hatte, ergab alles einen Sinn. Sie und das Gestein waren eins. Ihre Seele war mit der Energie dessen stark verflochten.
Eigenartigerweise beruhigte mich die Tatsache, dass sie ahnte, ich verbarg etwas vor Nefathâr. Somit drehte ich mich zu meinem Gefährten und lächelte ihn selbstsicher an. Meine Panik wie nie dagewesen.
"Ich beeile mich, versprochen", versicherte ich.
Seufzend musterte mich der Schwarzhaarige. "Gut", stimmte er schließlich zu. Nicht, dass ich seine Einwilligung gebraucht hätte. Dennoch war es besser, ihn nicht zu verärgern. "Danach reist du wie besprochen in den Osten. Ich lasse dir eine Nachricht kommen, wenn ich hier alles erledigt habe."
Ynara lächelte zufrieden. "Es hat mich gefreut, die Anpé Čeya endlich kennenzulernen.", sagte sie. Dabei klang sie ehrlich. "Wir werden uns bald wiedersehen." Mit diesen Worten erhob sie sich. Gefolgt von ihrem stummen Mann und uns Gästen.

Nachdem ich mich von Nefathâr hatte loslösen können, zog ich mich abseits zurück und legte eine Hand auf meinen Armreif. Statt direkt zu Arylâth zu reisen, hatte ich beschlossen, das Orakel zu besuchen. Das letzte, das mir im Sinne lag, waren weitere böse Überraschungen. Ich musste herausfinden, was in dieser Welt vor sich ging.
Ich hatte keinerlei Ahnung, wie das Orakel aussah, noch wusste ich, wo genau es sich befand. Wie ein Idiot stand ich mitten in der trockenen, abgrundtief heißen Wüste und wiederholte das Wort "Orakel" schnell wie einen Zungenbrecher. In Horrorfilmen funktionierte so etwas schließlich auch, oder nicht?
Ich flog durch Raum und Zeit und landete direkt im Sand. Während ich mir die Seele aus dem Leib hustete und mich auf die Knie zwang, bemerkte ich, dass ich zumindest nicht länger in der Nähe des Palastes war. Ich rief nach Lâryug - dabei hustete ich erneut die verflixten Sandkörner aus meiner Lunge. Mein geflügelter Begleiter kam nicht. Was bedeutete, dass ich weiter entfernt war, als es aussah.
"Sand, Sand und mehr Sand...", murmelte ich fluchend. Die Sonne stand am Horizont und färbte den Himmel in ein orange-rot. Dadurch wirkte alles um mich herum wie ein Gemälde. Seufzend schleppte ich mich durch die Dünen. Einen Fuß vor den anderen.
Just als ich aufgeben und zu Arylâth reisen wollte, funkelte etwas weiter entfernt. Ich beschloss, der Sache eine letzte Chance zu geben und kämpfte mich noch ein Stück voran, bis ich einen Hügel erreichte. Vor mir erstreckte sich eine gigantische Flügeltür aus Sandstein in die Höhe. Kryptische Symbole waren in die Türen eingemeißelt. Ich erkannte die Schrift von Pachélas Volk darin wieder.
"Tritt voran, wenn dein Herz rein und dein Kopf unrein sind.", übersetzte ich vage. Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, ertönte ein dumpfes Geräusch, das die Erde unter meinen Füßen erzittern ließ. Die Türen öffneten sich nach innen. Selbst von außen konnte ich unzählige Juwelen an den Wänden erkennen, die funkelten, nein, leuchteten wie Sterne am Nachthimmel.
Vorsichtig betrat ich die Höhle und ging den Gang entlang tiefer hinein. Die Juwelen erhellten meinen Weg mir ihrem bläulichen Licht. Hinter mir konnte ich hören, wie die Türen sich schlossen.
Ich atmete tief durch, raffte meine Schultern und setzte meinen Weg unbeirrt fort. Der Gang endete und plötzlich stand ich in einem riesigen, runden Raum. Am Rand flossen kleine Rinnsale Wasser in einen Graben, der sich rund herum seinen Weg in die Mitte des Raumes bahnte und eine Spirale formte. Im Zentrum dessen stand ein majestätischer Monolith aus Mondkristall.
"Bist du das Orakel?", fragte ich den Stein. Immerhin besaßen selbst Mineralien eine Seele.
"Natürlich nicht", ertönte eine anmutige, weiche Stimme. Rotes Licht flutete den Raum und mir wurde überraschend heiß.
Wenig später erkannte ich, warum dem so war.
Ein Phönix mit der Flügelspannweite eines Autos und brennenden Federn von Kopf bis zu den pfauenähnlichen Schwanzspitzen landete auf dem Monolith und starrte mit seinen orangenen Augen auf mich herab, während ich meinen Nacken verrenken musste, um einen Blick auf das atemberaubende und anmutige Wesen zu erhaschen.
"Ich bin das Orakel", sprach es. "Aber wer bist du?"
"Mein Name ist Vyora.", antwortete ich mit der Hoffnung, laut genug zu sprechen.
"Ich kann dich hören, kein Grund zu schreien", sagte es. Instinktiv presste ich meine Lippen aufeinander. "Doch dein Name lautet Hazel."
Ich erstarrte.
"Hinter dir liegt ein langer Weg", fuhr es unbeirrt fort. "Vor dir liegt ein viel längerer Weg... Dein Schicksal ist das Schicksal dieser Welt... Scheiterst du, ist unser Untergang gewiss."
Der Phönix schlug zwei Mal kurz mit seinen Feuerschwingen. Eine Feder segelte zu mir hinab. Während ihres Falles versiegten die Flammen und zurück blieb eine weiche Feder in den Farben des Feuers. Sie landete direkt in meinen ausgestreckten Handflächen.
"Nimm dies als Geschenk", fuhr das Orakel fort. "In Zeiten der Not möge dir meine Feder hilfreich sein."
Ich sah wieder nach oben, aber der Phönix hatte sich bereits in die Lüfte erhoben und verschwand durch ein Loch in der Kuppel über mir. Verwirrt starrte ich die Feder in meinen Händen an, bis sie plötzlich schrumpfte. Auf die Größe eines Anhängers. Ich bestaunte das Schauspiel, ehe ich die Feder an mein Armband zu meinen Amuletten hing und schließlich die Höhle verließ.
Draußen herrschte bereits Nacht. Abermillionen Sterne funkelten am Himmel, die Monde leuchteten hell und die Luft war befreit von Sand und Staub. Selbst die Temperaturen waren abgekühlt. Besser ich erstattete Arylâth Bericht. Andererseits hatte ich keine große Lust, erneut in seinem Bett zu landen. Laut meiner Uhr war es in Caladium weit nach Mitternacht.
"Also zurück zum Palast, Lâryug holen und in den Osten", murmelte ich mit wenig Begeisterung und legte meine Hand auf den Teleportationsstein.

Bonus: Seite aus Vyoras Notizbuch; Schriftsystem von Pachéla

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