22|Großmütter und Tannenbaumdiebe
Mit einem Ächzen ließ ich mich auf das weiche Bett fallen, Gesicht erschöpft zwischen Kissen vergraben, meine Gliedmaßen weit von meinem Körper abgespreizt.
Hätte mir jemand gesagt, dass Kinder anstrengend waren, hätte ich es ihnen glatt geglaubt, die Realität jedoch trotzdem massiv unterschätzt. Dabei war ich nicht einmal die tatsächliche Betreuerin der Familien gewesen und trotzdem fühlte ich mich, als wäre jemand mit einem Bulldozer über mich gefahren.
Die Kids hatten einfach so viel Energie und ich konnte es schlecht auf mir sitzen lassen, mit in ihren Spaß einzusteigen, wenn sie mich andauernd daran erinnerten, dass ich noch nicht alt genug war, um öde am Rand zu hocken.
Nachdem wir Rentiere gefüttert hatten, gab es auch für alle Menschen ein bisschen was zu Essen, sodass wir uns alle gemeinsam an den aufgestellten Tischen versammelt hatten. Das kam besonders den Jungs und mir zu Gute, denn nach einer kurzen Verabschiedungsrunde, landeten wir wieder in einem Transporter und wurden zur nächsten Aktivität geschifft.
Ich war nicht darauf vorbereitet gewesen, mehr als eine Sache zu tun, doch Ryan hatte mich aufgeklärt, dass sie wegen ein paar Zeit Management Problemen zwei Gruppen auf einen Tag planen mussten.
Das endete dann nach einer Rodelbahn, für die ich nicht ansatzweise dick genug eingepackt gewesen war, auf einem kleinen Weihnachtsmarkt, bei dem alle soviel Essen und trinken konnten, wie sie wollten - völlig umsonst.
Als Folge waren mir nicht nur die Hälfte meiner Zehen beinahe abgefroren, sondern mir tat auch jedes Atom in meinem Körper weh. Urlaub war anstrengend. Zumindest, wenn man mit einer Boy-Band unterwegs war.
Ein Klopfen an der Tür ließ mich einen halbherzigen Ton ausstoßen, der soviel hieß, wie 'Herein, aber erwarte keine Gastfreundschaft von mir'.
Ich nahm an, jemand trat in den Raum, doch ich versuchte nicht einmal, mich umzudrehen und einen Blick zu erhaschen. Erstens hatte ich keine Kraft, zweitens würde ich auch in meiner derzeitigen Position ausreichend in der Lage sein, Worte aufzunehmen und drittens hatte ich die Vermutung, dass es sich nur um Coda handeln konnte.
Die anderen Jungs integrierten mich zwar ohne Probleme in ihre Gruppe, würden aber sicher nicht soweit gehen und mich in meinen privaten Gemächern aufzusuchen, ohne lautstark einen Grund zu rufen.
Mein Verdacht bestätigte sich, als sich jemand neben mich aufs Bett setzte und eine Hand über meinen Kopf strich.
"Alles klar?", raunte die mir bekannte Stimme. Ich murrte gedämpft und nickte leicht.
"Erschöpft.", war alles, was ich sagen konnte.
Ich hörte, wie Coda amüsiert schnaufte. Dann spürte ich, wie er sich anders neben mir positionierte und ich plötzlich auf ihn gezogen wurde. Mein Gesicht landete auf seiner warmen Brust, während seine Hände auf meinem Hinterkopf und Rücken verweilten und mich dort festhielten.
"Nur noch morgen, dann haben wir es geschafft.", flüsterte er gegen meine Haare. Der Gedanke machte mich etwas traurig. Nicht nur, weil es hieß, wir würden bald diese absolut traumhafte Gegend verlassen, sondern auch, weil das bedeutete, keine weiteren Familien würden dieses Jahr die Chance haben, ein paar coole Erinnerungen Dank Four Kings zu sammeln.
Nicht, dass es nicht auch ein nächstes Jahr geben würde. Cash hatte mir versichert, dass es kein Umgehen gab, diese Tradition fortzuführen. Selbst, wenn Coda's Großmutter sie nicht länger erpresste (wenn man es überhaupt so nennen konnte).
"Was steht morgen an?", wollte ich schließlich wissen. Für einen Moment dachte ich, dass erneut ein Geheimnis aus den Plänen gemacht wurde, doch ich irrte mich.
"Ich muss dich enttäuschen. Leider keine super spaßigen Dinge. Morgen werden wir hauptsächlich Spenden verteilen, bevor wir wieder Nachhause fliegen."
Das ließ mich nicht nur stutzen, es schaffte sogar, dass ich mich mühsam aufstemmte, um Coda anzuschauen.
"Das klingt nach einer Menge Spaß, wenn du mich fragst!" Er zog seine Augenbrauen nach oben, während seine Hand von meinem Kopf auf meinen Nacken rutschte.
"Ich bin mir ziemlich sicher, dass es nichts Tolleres gibt, als Leuten eine Freude zu machen."
Der Drummer musterte mich stumm, bevor er langsam nickte.
"Wenn ich genügend Geld hätte, um mich über Wasser zu halten und gleichzeitig anderen Menschen zu helfen, würde ich das tun. Und es würde mir Spaß machen. Besonders zu Weihnachten. Du glaubst nicht, wie schön es ist, wenn man Kindern dabei zusieht, wie sie Geschenke auspacken."
Ich raffte mich etwas mehr auf.
"Dieses Jahr hab ich es nicht geschafft, aber manche Jahre zuvor hatte ich genügend Geld gespart, dass ich ein paar Kindern aus dem Heim Geschenke kaufen konnte. Es bedeutet ihnen viel, wenn sie wenigstens einmal genau das bekommen, was sie sich wünschen. Zumindest abgesehen von einer Adoption. Das ist wohl der größte Wunsch überhaupt, aber auch kleine andere Dinge können die Welt von Kindern verändern. Manchmal ist ein kleines, persönliches Geschenk der Beweis, dass jemand an einen denkt und man nicht in der Masse untergeht."
Coda's Gesichtsausdruck hatte sich geändert und er schaute mich nun ernst an.
"Hat das jemals jemand für dich getan?"
"Persönliche Geschenke im Heim? Mhh, nein, nicht wirklich. Geschenke wurden bei uns zwar immer so passend, wie möglich verteilt, aber ich habe nie das bekommen, was ich wirklich, unglaublich doll wollte."
"Und was war das?"
"Ob du es glaubst, oder nicht, mein größter Traum war, einen Elefanten zu bekommen."
Das ließ jegliche Spur von Melancholie aus Coda's Gesicht weichen. Stattdessen breitete sich ein Lächeln auf seinen Lippen aus, bevor er leise lachte und mir die Haare durch strubbelte. Leise protestierend, schlug ich seine Hand davon, als wäre sie eine lästige Fliege.
"Ich hatte gerade darüber nachgedacht, dir deinen größten Traum irgendwie zu erfüllen, aber das überschreitet auch jetzt noch meine Grenzen. Ein Rentier ist schon eine Nummer zu groß, aber ein Elefant..." Er schüttelte schmunzelnd den Kopf und ich grinste ihn an.
"Aww, warte! Du wolltest mir meinen Kindeheits-Weihnachtswunsch erfüllen? Coda Walker, spüre ich da etwa einen Hauch vom Geist der Weihnacht?" Ich schaute ihn mit dramatisch, weit aufgerissenen Augen an.
"Ich habe dich also konvertiert! Ich fasse es nicht! Nicht, dass ich meine Talente jemals in Frage gestellt habe. Aber es ist trotzdem ein Wunder. Verdammt, ich bin gut!"
Feiernd setzte ich mich auf und schmiss meine Fäuste in die Luft, als wäre ich auf einer Techno-Party. Dass ich bereits jetzt schon den Muskelkater spüren konnte, den mir Rodeln eingebrockt hatte, ignorierte ich nach solch wundervollen Offenbarungen.
"Ich muss gestehen, dass ich dieses Jahr den Dezember nicht ganz so doll verabscheut habe, wie normalerweise, obwohl ich ihn mit einer Weihnachtsfanatikerin verbracht habe." Grinsend sah ich zu Coda, der mich mit einem sanften Ruck zurück auf seine Brust zog.
"Meine Gesellschaft war ja wohl das Beste an allem. Gib es zu!" Er lachte kurz auf, nickte dann aber zustimmend.
"Das kann ich nicht leugnen. Ich hatte eine gute Idee, dich zu rekrutieren."
"Und deine Oma kann den Ruhm schöpfen, dich überhaupt auf diese Idee gebracht zu haben."
Coda's Miene wurde etwas nüchterner, als hätte ich einen wunden Punkt getroffen.
"Ich wünschte, sie würde nicht ständig versuchen, mein Leben zu kontrollieren und zu steuern. Als Kind mag das vielleicht noch gerechtfertigt gewesen sein, aber ich bin erwachsen. Ich brauche keinen Babysitter mehr und sie weiß ganz sicher nicht, was das Beste für mich ist."
Erneut spürte ich seine Unzufriedenheit.
"Ich glaube nicht, dass sie es mit bösem Willen tut."
"Ach ja? Und was genau plant sie dann?", höhnte Coda und zog seine Augenbrauen zusammen.
"Von dem, was du mir erzählt hast, erscheint es mir eher, dass sie dich lieb hat und versucht, dich auf den richtigen Pfad zu leiten."
Überrascht starrten mich ein Paar dunkle Augen an. Ich lächelte.
"Das mag vielleicht nicht unbedingt meine Expertise sein... Familienangelegenheiten. Aber, die Dinge, die du erzählt hast... nichts davon ist irgendwas Bösartiges. Es klingt für mich eher, als wollte sie dich beschützen."
Als er nichts erwiderte, fuhr ich fort.
"Ich kann verstehen, dass du es womöglich als eine Intrusion in dein Leben empfunden hast, als sie begonnen hat, dir Dinge zu 'befehlen' und Sachen von dir zu verlangen. Aber, vielleicht hast du dich da in etwas reingesteigert und angefangen, nur das Negative in ihren Worten und Taten zu sehen."
Ich gab Coda Zeit, über das Gesagte zu grübeln und legte meine Wange auf seinen Pullover. Die weichen Fasern kitzelten mich leicht, wann immer sich seine Brust mit regelmäßigen Atemzügen hob und senkte.
Nach ein paar Minuten, in denen beinahe absolute Stille herrschte, brach er sie schließlich mit ruhiger Stimme.
"Vielleicht hast du Recht. Ich schätze, wenn man sich einmal in eine Sache verbeißt, ist es nicht einfach, da von alleine wieder rauszukommen. Zumindest, wenn man so stur ist, wie ich und keinen zweiten Blickwinkel sucht."
Ich lächelte für mich selber und tätschelte ihm den Arm.
"Meine Großmutter hat sich dummerweise auch ausgerechnet Weihnachten als Angriffspunkt ausgesucht. Meine meist gehasste Jahreszeit. Man kann es mir also nicht ganz so doll verübeln, dass ich ihre Anweisungen daraufhin nur ungern befolgt habe und sich mein Trotz nur gesteigert hat."
"Wieso hasst du Weihnachten? Oder eher, wieso hast du es gehasst? Denn ich habe dich ja etwas weichgeklopft." Mein Kopf hüpfte auf und ab, als Coda leise lachte. Dann fiel seine Hand wieder auf meinen Kopf und strich langsam über meine Haare.
"Ich bin zwar mit reichen Eltern und in einem großen Haus aufgewachsen, aber sie hatten kein sonderliches Interesse, mir ein warmes, liebevolles Zuhause zu bieten. Sie waren schon immer viel zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, als dass sie sich auch nur ein winziges bisschen mit ihrem Sohn auseinandersetzen konnten. Bei uns gab es nie ein richtiges Weihnachten. Es wurde zwar zur Schau für Gäste geschmückt und zu Dinner Parties eingeladen, aber das ist alles andere als glamourös, wenn man als Kind zur Seite geschoben wird, damit man den Erwachsenen nicht in die Quere kommt. Als meine Großmutter irgendwann angefangen hat, die Verantwortung für mich zu übernehmen, war es schon zu spät. Wann immer, sie mit Weihnachten anfing und versuchte, mich mit einzubeziehen, hat sich das für mich angefühlt, als würde sie es mir aufzwingen. Und da ich es bereits hasste und keine einzige gute Erinnerung an die Zeit hatte, schob ich es immer von mir, bis ich es nicht mehr ausstehen konnte."
Ich hörte aufmerksam zu, als Coda mir sein Herz öffnete. Wie unterschiedlich unsere Kindheiten waren. Wie unterschiedlich wir uns entwickelt hatten, obwohl wir beide nie das Weihnachten erlebt hatten, was Kindern zustand.
Zum ersten Mal konnte ich nachvollziehen, wieso er nichts Gutes für diese Zeit empfand und er tat mir leid.
"Ich verstehe. Weihnachten ist die Zeit, in der man zusammen mit seinen Liebsten Erinnerungen sammelt und Wünsche erfüllt werden. Aber wenn man nie die Chance hatte, das zu erleben und stattdessen nur Schlechtes damit verbindet, ist es wohl schwer, was Schönes daran zu finden."
"Aber anscheinend nicht unmöglich.", sagte Coda und ich schaute wieder zu ihm auf. Er beugte sich etwas näher, bis sein Atem über meine Haut fegte. Dann küsste er mich.
"Es braucht wohl nur eine Großmutter, die nicht locker lässt und eine Tannenbaumdiebin, die mindestens genauso stur ist, wie man selbst."
Ich kicherte und schlug ihm ohne große Wucht gegen die Schulter.
"Wirst du mir das jemals verzeihen? Ich weiß gar nicht, was das Problem ist, immerhin hättest du ihn sowieso nicht selbst aufgestellt." Ich konnte mit großer Überzeugung sagen, dass ich meine Taten kein bisschen bereute. Immerhin hatte mir die Aktion nicht nur einen perfekten Baum gebracht, sondern auch noch die aufregendste Weihnachtszeit, meines Lebens. Und ganz womöglich noch dazu eine Person, die mich nicht so leicht wieder loswerden würde.
"Ich würde dir verzeihen. Unter einer Bedingung.", murmelte Coda verschwörerisch. Gespannt hob ich meine Augenbrauen. Ein neuer Deal? Interessant.
"Ich bin ganz Ohr."
"Komm mit mir zum Weihnachtsdinner meiner Großmutter?"
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