2|Die Eiche unter den Tannen

»Sorry, aber ich glaube nicht, dass wir uns kennen. Zumindest kann ich mich nicht an dich erinnern«, entgegnete ich und fummelte am Saum meiner Jacke herum. Seine zwei Sätze hatten mich mit einem Mal komplett aus der Fassung gebracht und ich lachte ohne jegliche Freude, damit die Situation weniger komisch war. Es half nicht.

Meine Gedanken waren plötzlich ein komplettes Kuddelmuddel. Woher könnte er mich kennen? Und wieso kam er mir nicht wenigstens bekannt vor? Er schien ja auch nicht gerade gut gestimmt zu sein, mich zu sehen. Da stellte sich also die Frage, ob wir in irgendeiner Weise eine Beziehung zueinander pflegten und ich ihm gerade die kalte Schulter gab und in seinen Augen so tat, als kannte ich ihn nicht. 

Die andere Variante war, dass wir nicht im Guten auseinander gegangen waren und er deswegen so eine miese Laune hatte. Just in diesem Moment, erhellte eine Glühbirne in meinem inneren Auge, was meine äußeren Augen Unterteller-groß werden ließen. Mein Mund öffnete und schloss sich ein paar Mal, ohne ein Geräusch heraus zu bringen und es fühlte sich so an, als würde ich jeden Moment hyperventilieren.

»Oh mein Gott, du warst mein One-Night-Stand auf der Party letztes Jahr! Oh nein! Sorry, das ist mir jetzt allerdings etwas unangenehm. Gott, wie peinlich! Ich hatte damals echt viel intus, also tut mir leid, dass ich dich nicht erkannt habe«, stammelte ich aufgeregt und wahrscheinlich mit hoch rotem Gesicht. Wie wild fuchtelte ich mit meinen Händen in der Luft herum, weil ich mir nicht anders zu helfen wusste und vermied direkten Augenkontakt. 

Das konnte doch einfach nicht wahr sein! Was hatte ich verbrochen, dass ausgerechnet ein lang vergangenes Techtelmechtel, an das ich mich nicht mal mehr erinnern konnte, einen prachtvollen Tannenbaum in seinem Vorgarten hatte? Und wie groß war die verdammte Wahrscheinlichkeit, dass ich mich auch noch in diese Nachbarschaft verirrt hatte um den Baum zu finden?

Hatte ich womöglich beim intimen Bettgeflüster ausgeplaudert, dass man mich rumkriegen konnte, wenn man mir den perfekten Weihnachtsbaum lieferte? Und dann stellte sich wiederum die Frage, ob das einen Fremden dazu veranlasst hatte, ein Grundstück mit genau diesem  Merkmal zu erwerben, oder ob wir einfach füreinander bestimmt waren und ihm all das gegönnt war, wonach sich mein Herz doch so sehr sehnte. 

Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Doch es fühlte sich an, als wäre ich in eine Falle getreten. Einst war ich nur eine kleine Fliege, angelockt vom köstlichen Duft eines Kuhfladens. Doch auf einmal war ich ein kleines Fischlein, welches nichtsahnend den Köder geschnappt hatte und am anderen Ende saß ein wirklich gutaussehender Angler. Dumm nur, dass ich keinerlei Interesse hatte, nochmal zu seinem Abendmahl zu werden. Ich war einzig und allein hier um den Köder an mich zu reißen und mich heimlich, still und leise davon zu stehlen.

»Man sollte meinen, dass man so einen Adonis nicht vergisst, aber... schwups jetzt sind wir hier und ich habe dich nicht erkannt. Dumm gelaufen. Aber, wenn wir ehrlich sind, war unser erstes Treffen doch gar nicht so... bedeutsam? Nicht, dass ich mich an viel erinnern kann... Nicht als ob es viel gab, an das man sich erinnern konnte...« Ich beschloss, dass ich meinen Mund schließen musste, bevor noch mehr Worte entflohen, die die Situation peinlicher machen würden, als sie sowieso schon war.

Ich wagte einen kurzen Blick in seine Augen, deren Ausdruck nicht wirklich einfach einzuordnen war. Er schien jedoch nicht ansatzweise so gekränkt, wie ich es erwartet hatte.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir noch nicht das Vergnügen hatten.«
Wenn ich sage, dass mir auf seine Worte hin ein Stein vom Herzen fiel, wäre das die Untertreibung des Jahres gewesen. Ich stieß ein erleichtertes Seufzen von mir und schlug die Hände von die Brust.
»Du warst nicht mein One-Night-Stand!«, stellte ich fest und stieß im selben Augenblick meine Faust in die Luft, als hätte ich gerade einen Weltrekord aufgestellt. 

»Gott sei Dank! Denk jetzt nicht, dass ich dich nicht attraktiv finde, aber das wäre dann doch alles etwas komplizierter geworden. Du weißt schon... der Baum. Dann hätte ich mich so gefühlt, als wären wir in einem Ehe-Streit und wir müssten uns um das Sorgerecht zoffen. Nicht, dass das eine große Debatte werden würde, immerhin hast du ganz klar gesagt, dass du die Tanne nicht willst. Sag mal, liegt das eigentlich nur daran, weil der Baum jetzt quasi verkrüppelt ist? Das klingt nämlich echt diskriminierend, wenn du mich fragst. Sollte also selbst im Zweifelsfall keine allzu komplizierte Entscheidung für den Richter sein. Naja, vergessen wir das, ich hab kein Geld für einen Anwalt. Aber jetzt mal zum eigentlichen Thema... verrate mal, woher kennst du mich denn jetzt?«

Mein Gegenüber runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, während er seine Arme verschränkte. Er sah mich an, als wäre ich eine Kakerlake und er wartete nur auf eine einzige Bewegung meinerseits, dann würde sein Designer-Latsch auf mich hinunter schnellen und mich zerquetschen. Kurz gesagt, schien er sich wie etwas Besseres zu fühlen. 
»Du hast keine Ahnung, wer ich bin.« Das war eine Feststellung seinerseits. Ich zuckte mit den Schultern woraufhin er seine Augen misstrauisch zusammenkniff. Er schien mir wohl nicht zu glauben.

»Um das kurz klar zu stellen, ich kenne dich nicht. Ich habe aber erwartet, dass du mich kennst.«
»Wie kann es sein, dass du mich nicht kennst, aber ich dich kennen soll, obwohl du so tust, als ob wir uns kennen und ich ziemlich sicher bin, dass ich dich nicht kenne?«

Für einen Augenblick herrschte Stille und wir beide grübelten darüber nach, was ich da gerade gesagt hatte. Dann schüttelte der Typ seinen Kopf, wobei ein paar Strähnen in seine Stirn fielen. Er sah schon ziemlich doll nach einem Model aus, soviel musste ich zugeben. Ich fragte mich, ob man es mit so einer Laune weit in der Modewelt schaffte, doch bevor ich diesen Gedankengang weiter verfolgen konnte, registrierte ich die nächsten Worte. 

»Ich bin Coda Walker.«

Ich nahm mir etwas Zeit zum Nachdenken und bei dem Namen schien wirklich etwas in meinem Kopf zu klingeln, ich konnte jedoch nicht genau sagen, wo. Ich zählte mich jetzt nicht unbedingt zu den Menschen, die Namen nur mit halbem Ohr hörten und sie direkt wieder vergaßen. Aber man musste doch schon irgendeine Relevanz in meinem Leben haben, dass ich nicht in den Tiefen meines Hirns graben musste.

»Irgendwoher kenne ich deinen Namen«, gab ich zu und tippte nachdenklich mit meinem Zeigefinger gegen mein Kinn. 
»Nein, wirklich?«, fragte Coda Walker sarkastisch und zog seine Augenbrauen nach oben. Machte er sich etwa über mich lustig? Arschloch.

Aus Trotz grub ich tiefer nach einer Antwort und kniff die Augen zusammen, als ob das dazu beitragen würde, eine Erinnerung zu wecken. 
Ich ging die Namen meiner Arbeitskollegen und Kunden durch, doch so einen gutaussehenden Griesgram hätte ich wohl nicht so schnell vergessen. Vielleicht kannte ich ihn also in einer Zeit, bevor er so zum Anbeißen aussah? Ein ehemaliger Klassenkamerad aus der ersten Klasse? War eine kleine Kackbratze aus Grundschuldzeiten zu einer attraktiven, größeren Variante herangewachsen? 

Nein, auch das schien mir nicht plausibel. Ich war mir sicher, noch nie einem Kind mit dem Namen Coda Walker begegnet zu sein. Ich glaubte fest daran, dass ich mich hätte erinnern können. Doch mir fiel nichts anderes ein.

Schnaufend ließ ich meine Hände fallen und zeigte somit an, dass ich aufgab. Das erntete mir ein beinahe spöttisches Augenrollen und ein ebenso herablassendes Zungenschnalzen.

»Schonmal was von der Band Four Kings gehört?«
Ich spitzte die Lippen, als müsste ich den Band Namen auf meiner Zunge zergehen lassen, dann brummte ich leise und nickte.

Es war fast unmöglich noch nichts von der Band gehört zu haben. Sie war zurzeit überall im Radio. Egal welcher Sender, sie liefen ständig. Mich hätte es nicht mal mehr gewundert, wenn auch die Klassikmusik Channels ab und zu ihre Lieder spielten. Und ich konnte ahnen, dass sie auch im Fernsehen auftauchten, wovon ich aber nichts mitbekam, da ich meine Seele einzig und allein Netflix zugeschrieben hatte. Eine Sünde, für die ich teuer zahlte. (Mit einem 20$ Monats-Abo.)

"Die kann man ja irgendwie kaum umgehen. Gefühlt den ganzen Tag läuft irgendein Song im Radio auf und ab. Und noch schlimmer ist's, wenn deine Freunde und Arbeitskollegen Fans sind oder zumindest die Musik feiern und dann landen die auf jeder Playlist, egal welches Stimmung angesagt ist." Ich schüttelte auf meinen Erfahrungsbericht hin den Kopf und stemmte die Arme in die Seite, als ob mich der Gedanke allein bereits anstrengte. Das tat er auch. 

Dann grübelte ich ein paar Sekunden nach, warum Coda Walker eine so kontextlose Frage gestellt hatte, bis mich der Blitz traf und mir bewusst wurde, wie äußerst dämlich ich war.

Coda Walker. Der Coda Walker, den Elena seit Monaten auf Instagram stalkte und sich wie ein Brot freute, wenn sie zufällig in den ersten fünf Sekunden der Veröffentlichung ein Bild likte. Coda Walker, der Teil einer Band war, die meine Arbeitskollegen dazu brachten, extra Pausen einzulegen, damit sie Tour-Tickets ergattern konnten, sobald sie online gestellt wurden.  Es konnte nicht wirklich sein...

»Schonmal zufällig den Drummer der Band gesehen?«, fragte er mit spöttischem Unterton. Ich meinte sehen zu können, wir er drei Köpfe höher wuchs, weil er sich in diesem Moment so unglaublich toll fand. Es musste schön sein, jemandem das Fettnäpfchen, in welches man getreten war, zusätzlich auch noch ins Gesicht schmieren zu können.

Ich wiederum, schluckte nur laut, als ich ihm ins Gesicht schaute und räusperte mich, als ob das irgendwie helfen würde.

»Ich nehme mal ganz stark an, dass ich ihn vor mir stehen habe?«, kam mein kleinlautes Murmeln. Er klatschte plötzlich laut, was mich nicht nur zusammenschrecken ließ, als hätte seine Hand meine Wange getroffen, anstatt seine andere Hand, sondern mir auch bestätigte, dass ich mich in tiefe Scheiße geritten hatte. Sowas konnte auch nur mir passieren. Aber was sollte ich jetzt machen? 

Es blieb mir nicht viel übrig, als die Zähne zusammen zu beißen, die Sache schnell hinter mich zu bringen und dann schnurstracks zu verschwinden. Schon bald würde das alles nur eine schlechte Erinnerung sein, die ich tief in meinem Hirn vergrub, sodass ich nie wieder an sie denken musste.

»Tja, ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich sagen soll. Ich hoffe mal, ich habe dich nicht bei irgendwelchen Band- oder Weihnachtsvorbereitungen gestört.« Ich warf ihm ein halbherziges, schiefes Lächeln zu. Hätte ich einen Bitte-verzeih-mir-Lolli gehabt, hätte ich ihn ihm wenigstens entgegen gestreckt, sodass er die Worte hätte lesen können, aber so vorbereitet, war ich leider nicht.

»Weihnachten ist echt noch 'ne ganze Weile entfernt. Wieso jetzt schon mit dem ganzen Theater anfangen?« Und Boom, mein schlechtes Gewissen verflog im Handumdrehen. Das hatte er doch wohl nicht wirklich direkt in mein Gesicht gesagt? 

Mein geschockter Zustand und das Zucken meines linken Auges waren wohl ein gutes Indiz dafür, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. Coda runzelte verwirrt die Stirn, doch ich war mir nicht sicher, ob er realisierte, mit wem er gerade sprach. Naja, anscheinend wusste er es nicht, den Punkt hatten wir ja nicht nur ziemlich genau ausdiskutiert, er hätte auch ganz sicher niemals solch niederträchtige Worte geäußert, wenn er mich auch nur als flüchtiges Techtelmechtel gekannt hätte.

»Also zu aller erst, es sind nicht mal mehr zwei Monate bis Weihnachten! Und es ist die schönste Jahreszeit überhaupt und kein Theater!«, rief ich aufgebracht. Nach ein paar Sekunden, in denen ich den Superstar-Drummer mit meinem Blick zunichte machte, besannte ich mich schnell wieder. Wir wollten heute keinen (noch größeren) Aufstand. Wir wollten einen Weihnachtsbaum. Und den bekam ich nur, wenn ich es mir nicht noch mehr mit dem Hauseigentümer verscherzte.

»Aber wenn du nicht in Weihnachtsstimmung bist, dann wird es dir doch sicherlich nichts ausmachen, wenn-«
»Ich habe grade keine Autogrammkarte dabei. Mal ganz davon abgesehen, dass ich nicht mal sicher bin, dass du ein Autogramm verdienst.«, unterbrach mich der arrogante Arsch und versenkte seine Hände in den Hosentaschen, als würde er mir zeigen wollen, dass ihm die Hände gebunden waren.

Ich lachte kurz gekünstelt und presste dann meine Lippen aufeinander bevor ich einen Daumen hinter mich warf und auf meine Errungenschaft deutete.

»Ich wollte eigentlich sagen, dass es dir wohl nichts ausmachen wird, wenn ich dann den Baum mitnehme.«

Sein verdutzter Blick schwebte zwischen mir und dem Baum hin und her. Dann endlich schüttelte er den Kopf.
»Ich kann ihn ja schlecht wieder mit dem Baumstumpf zusammenwachsen lassen. Und hier rum liegen muss er auch nicht.«, sagte Coda missmutig und brachte augenblicklich ein breites Lächeln in mein Gesicht.

»Danke! Bedeutet mir viel.«
»Vielleicht lässt du das nächstes Jahr mit den dummen Ideen und kaufst dir stattdessen einen Baum, wie jeder normale Mensch auch.« Sein ernster Ausdruck schaffte es fast, mich zum Lachen zu bringen, aber ich hielt mich zurück. 

»Wow, ja, klingt... nach einer Idee. Ich bin aber nicht sonderlich normal, also ist das Nichts für mich. Und ich habe auch nicht das passende Budget, wenn ich ehrlich bin. Aber hey, mach dir keine Sorgen um mich, beim nächsten Mal werde ich mich nicht erwischen lassen. Naja, was solls, ich muss dann mal los. Ich hoffe, man sieht sich nicht nochmal. Also wünsche ich einfach schonmal frohe Weihnachten!«, grinsend wedelte ich meine Hand in seine Richtung als eine Art Verabschiedung, bevor ich schnellstmöglich zu meinem Tannenbaum lief und ihn am Stamm packte.

Ich sah mit großer Sicherheit lächerlich aus, als ich das Bäumchen mit mir zog. Es war zudem schwerer als gedacht und ich musste ja auch aufpassen, dass ich es nicht kaputt machte. Als ich mich da so abmühte und ich bereits merkte, wie der Schweiß sich auf meiner Stirn absetzte, obwohl ich es gerade einmal ein paar Meter geschafft hatte, stellte ich meine Entscheidung in Frage. Wieso hatte ich genau diesen Baum gewählt? Hätte ich nicht einen Winzling aussuchen können, den ich am Zipfel hätte packen können, ohne Schwierigkeiten dabei zu haben? Wahrscheinlich hätte der auch ohne architektonische Berechnungen neben meinen Fernseher gepasst.

Aber nein, ich wählte quasi die Eiche unter den Tannen und hatte es mir auch noch zur Aufgabe gemacht, das Monstrum alleine zu bewegen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, ihn bis zum Auto zu schleifen. Wie viele Nadeln würden wohl am Ende der Tortur noch an den Ästen hängen? Bei der Vorstellung, wie ich eine Spur von Tannennadeln hinter mir zurück lassen würde, sträubten sich meine Nackenhaare.

Also beschloss ich nach wenigen weiteren Metern, dass der Plan modifiziert werden musste. Heute lief eh nichts nach Plan A, wegen einem gewissen Störfaktors. Ich ließ den Stamm schnaufend los und kramte in meiner Jackentasche nach meinem Handy. Ich brauchte nicht lange, da hatte ich auch schon Elenas Kontakt angeklickt und hielt das Display an mein Ohr.



A/N: Ja, ich habe es wieder getan. Ich liebe eben berühmte Leute vs. normale Leute.

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