16|Von Sabberflecken und Brieftauben

14. Dezember

Codas POV

»Ich denke, es wir Zeit, dass wir losmachen. Es ist schon echt spät und Cals und ich müssen in ein paar Stunden schon wieder aufstehen.«

Ich drehte meinen Kopf zu Callies bester Freundin, die gerade ihre Wolle in eine Tasche stopfte und gähnte. Ich verstand ihren Einwand, konnte aber nicht unterdrücken, wie eine plötzliche Enttäuschung über mich fiel.

Mein Blick senkte sich auf das schlafende Klammeräffchen, was neben allerlei Krümel von unterschiedlichen Snacks nun auch einen ziemlich großen Sabberfleck auf meinem Pullover hinterlassen hatte. Es störte mich reichlich wenig.

Callie sah so friedlich und unschuldig aus, während sie auf mir lag. Ihre dunklen Wimpern schmiegten sich gegen ihre Wangen und ich musste mich zurück halten, nicht meine Hand auszustrecken und meine Finger über die weiche Haut zu streichen. 

Ich wusste nicht, wieso ich das Bedürfnis hatte. Oder vielleicht wollte ich es mir einfach nicht eingestehen. 

Für den Moment schob ich es auf Mitleid oder Empathie. Die Erinnerung, wie ihre Tränen vor wenigen Stunden den Stoff meines Oberteil durchdrungen hatten, ließ mich nicht los. Ihre Worte hatten mich getroffen. Zum einen, weil sie mir unbewusst etwas gesagt hatte, was mein jüngeres Ich vor vielen Jahren gebraucht hätte. Zum anderen, weil sie mich zum Grübeln brachte.

Ich hatte gemerkt, wie wenig ich über Callie wusste. Dass ich keine Ahnung hatte, ob ihre Tränen aus ihren eigenen tiefen Wunden herrührten, oder ob sie einfach nur ein großes Herz hatte, was auch für Trickfilmfiguren schlug.

Ich entschied, dass sich das ändern musste. Ob das war, weil ich als ihr Geschäftspartner gewisse Dinge wissen wollte, bevor sie zu Problemen werden konnten, oder weil ich die Möglichkeit einer tatsächlichen Freundschaft nicht ausschließen konnte, legte ich nicht fest.

Meine Neugierde war so oder so geweckt. 

"Weint sie eigentlich immer bei Trickfilmen?", fragte ich Elena, die dabei war, ihre Sachen zusammen zu sammeln. Sie schaute mich überrascht an, dann zu ihrer schlafenden Freundin, dann wieder zu mir.

"Oh, ja. Meistens, wenn es traurig ist." Also war sie einfach nur nah am Wasser gebaut und es gab keine tiefere Bedeutung. Das beruhigte mich irgendwie ein wenig. 
"Aber bei der Szene vom Grinch, ist es unausweichlich. Und Encanto und Ich einfach unverbesserlich sind auch schlimm. Ich halte sie normalerweise davon ab, Disney Filme und solche Sachen zu schauen. Das ganze Familien Thema und ausgestoßen werden und so trifft immer besonders hart."

Ich runzelte meine Stirn und wägte ab, ob es angebracht war, Elena nach Callie's Privatangelegenheiten zu fragen. Leon kam mir zuvor. 

"Wieso das? Versteht sie sich mit ihrer Familie etwa nicht?" Er biss von einem Stück Pizza ab, was inzwischen kalt geworden war. Nicht, dass es ihn störte. Leon konnte und würde alles essen, was man ihm gab. Es war ein Wunder, dass es überhaupt noch Reste gab, die er als Mitternachtssnack vertilgen konnte. 

"Cals hat keine Familie.", antwortete Elena plötzlich. Die anderen verharrten in ihren Bewegungen und ich hörte prompt auf, zu atmen. 
"Also theoretisch. Aber sie hat mich! Und meine Familie liebt sie, als wäre sie meine Schwester. Aber ja, eigentlich, kennt sie ihre Eltern nicht. Callie ist in einem Waisenhaus aufgewachsen. Später kamen dann ein paar Pflegefamilien, aber sie wurde nie offiziell adoptiert. Deshalb haben sie meine Eltern im Herzen aufgenommen."

Ich starrte Elena an, erstaunt, wie locker sie über das Thema sprach. Ich wusste nicht, ob sie gerade Geheimnisse an eine Runde wildfremder Menschen ausplauderte, oder ob es Allgemeinwissen war, welches Callie normalerweise mit all ihren Freunden teilte, doch ich fühlte mich unwohl diese Informationen von jemand anderen als Callie selbst zu erfahren. 

Gleichzeitig, pochte mein Herz schmerzhaft gegen meine Rippen. Es war nicht so, dass ich automatisch dachte, alle Menschen, die ohne Eltern aufgewachsen waren, brauchten oder wollten Mitleid. Meine eigenen hatten mir mein Leben lang kaum Beachtung geschenkt, viel zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Es war das Beste gewesen, was sie machen konnten.

Aber ich hatte wenigstens immer andere Menschen an meiner Seite gehabt, die mir Halt gaben und mich nicht vergaßen. 

Ich fragte mich, ob Callie das Gefühl kannte.

"Hey, kein Grund, so traurig drein zu schauen.", lachte Elena, als sie die allgemeine Stimmung im Raum bemerkte.
"Ihr habt Cals doch mittlerweile alle kennengelernt. Sie ist vielleicht etwas knapp bei Kasse, aber ansonsten geht's ihr super duper! Es ist nicht so, als hätte sie Horror-Geschichten von ihrer Kindheit zu erzählen. Sie ist sowieso eher die Art Mensch, die im Hier und Jetzt lebt und nicht an der Vergangenheit hängt."

Ihre Worte ließen mich erleichtert aufatmen, auch wenn ich mich noch immer etwas unwohl fühlte. Aber Elena schien sie am besten zu kennen, also vertraute ich ihrer Meinung. Falls sie ein falsches Bild von ihrer Freundin hatte, würde ich mich schlechter denn je fühlen, Callie für meine Zwecke auszunutzen und sie dann eiskalt abzuservieren.

Nicht, dass ich das auf diese Art und Weise noch vorhatte. Nicht, dass es überhaupt jemals der tatsächliche Plan gewesen war. Zwar brauchte ich sie wirklich als meine Begleitung zu Weihnachten, aber nach den paar Tagen, die wir nun das Vergnügen hatten, verursachte der Gedanke, Callie nach zwei Wochen nie wieder zu sehen, nicht gerade Glücksgefühle. 

Ich ahnte eher, dass ich sie womöglich etwas vermissen würde. Auf das Weihnachtszeug konnte ich verzichten, aber Callie...

Vielleicht steigerte ich mich da auch nur in etwas hinein. In ein paar Tagen würden die Jungs und ich eh eine Weile wegfliegen. Die Zeit konnte ich nutzen, um meine Gefühlslage zu regulieren. Ich war mir sicher, dass ich nur verwirrt war, weil Callie und ich in letzter Zeit so viel aufeinander hingen (in diesem Moment, wortwörtlich). Erzwungene Nähe zueinander, konnte komische Dinge in einem Hirn auslösen. 

Ich stellte mir vor, dass man sich genauso fühlte, wenn man für einen Arbeitskollegen schwärmte. Plötzlich kamen einem ganz abstruse Ideen und Vorstellungen in den Kopf, die man niemals haben würde, wenn man die Person außerhalb einer ständigen Routine traf.

Kopfschüttelnd, beschloss ich, dass es Zeit war, Callie zu wecken. 

Ich rüttelte etwas an ihrer Schulter. Keine Reaktion. 
Dann piekte ich meinen Finger in ihre Wange. Sie murmelte nur etwas Unverständliches und drehte ihren Kopf zur anderen Seite.

Seufzend setzte ich mich auf und ihr Körper sackte etwas mehr gegen mich. 
"Sei ruhig ein bisschen radikaler. Sie schläft, wie ein Stein, wenn sie einmal im Traumland gelandet ist." Elena nickte mir ermutigend zu, doch ich war mir nicht sicher, was als radikale Aufwecktechnik zählte und ob ich sie anwenden wollte.

"Komm schon, Belly. Wach auf!" Ich klopfte ihr gegen den Rücken, als wäre sie eine Eingangstür. Anstatt ihr Bewusstsein wiederzuerlangen, kuschelte sie sich näher gegen mich. Ich stieß einen mehr oder weniger frustrierten Atem aus. Dann stand ich einfach mitsamt Callie auf. 

Früher oder später würde sie schon aufwachen, wenn wir sie in ihre Jacke oder Schuhe stecken mussten. Doch vorerst hing sie einfach wie ein Sack Kartoffeln in meinen Armen. 

Die anderen sagten nichts dazu und beschlossen stattdessen, sich ebenfalls zu erheben. Elena tippelte als erste in den Flur und wir folgten ihr, im Hintergrund die End-Credits von Stirb Langsam laufend. 

"Ihr seid mit dem Auto hier?", fragte Brody an die Brünette gerichtet. Sie nickte lächelnd. 
"Bei dem Schneetreiben, müsst ihr hoffentlich nicht weit fahren..." 
Elena winkte ab, während sie ihre Stiefel anzog. Cash war so nett und gab mir Callie's, woraufhin ich mich daran machte, sie von mir zu lösen, damit ich ihr beim Anziehen helfen konnte. Sie blieb weiterhin bewusstlos.

"Es ist nicht wirklich weit. Nur ein kleiner Umweg, weil ich Cals zuerst bei sich Zuhause absetzen muss. Aber das ist nur halb so schlimm." 
"Ich kann sie auch fahren."

Für einen Augenblick herrschte Stille im Eingangsbereich und ich brauchte eine Sekunde, um zu realisieren, dass ich die Worte in den Raum geworfen hatte. 
"Oh, das ist-", Elena stockte und schaute mich dann mit einem Glitzern in den Augen an. 
"Das ist eine großartige Idee! Ich bin hundemüde, jeder noch so kleine Abstecher ist ein Unfallrisiko." Sie grinste bis über beide Ohren und schlang sich einen Schal um den Hals. Sie sah, aus mir unerklärlichen Gründen, mächtig stolz aus.

Kurz überlegte ich, ob ich meinen instinktiven Vorschlag zurückziehen sollte. Doch ein Blick zu Callie's weiterhin sabbernden Gesicht, hielt mich davon ab. Ich musste ein amüsiertes Grinsen zurückhalten und versuchte sie ohne viel Erfolg auf ihre Füße zu stellen.

Elena bemerkte meine Misslage.
"Warte, ich mach das schon." Sie wischte und tippe schnell auf ihrem Handy herum, kam näher und plötzlich ertönte ein Wecker-Klingelton neben Callie's Ohr. 

Wie von der Tarantel gestochen, schoss ihr Kopf von meinem Körper empor und nur dank meiner schnellen Reflexe schaffte ich es, dass ihr Schädel nicht mit meinem Kinn zusammenprallte.

"Was? Ich bin wach! Ich bin wach! Nur noch sieben Minuten... dann steh ich... auf..." Ihr Kopf sank Stück für Stück zurück gegen mich.
"Komm schon, Cals. Zeit, nach Hause zu gehen.", trällerte Elena und piekste ihr in die Seite. Callie zuckte zusammen und schlug halbherzig nach der Hand.

"Ich bin... wach. Und ich bin Zuhause." Sie klang, als hätte sie ein paar Gläser zu viel getrunken. Ich biss mir auf die Lippe und schaute zur Decke, um mein Grinsen wegzuatmen. Ich hatte nur mäßigen Erfolg.

"Leider muss ich beides verneinen. Aber damit du ganz schnell in dein eigenes Bett kommst, musst du uns ein kleines bisschen helfen." Elena schnappte sich Callie's Mütze und zog sie ihr unsanft über den Kopf. Dann packte sie einen Fuß nach dem anderen, als wäre ihre Freundin ein Pferd und sie würde ihre Hufe putzen wollen, und verfrachtete die Kuschelsocken mitsamt Gliedmaßen in die Stiefel.

Ich schaute mir alles erleichtert an und diente nur als Stütze. Ich war froh, dass ich mich nicht damit abquälen musste, jemanden wie ein Kleinkind anzuziehen. Das war nicht unbedingt meine Spezialität.

"So, noch die Jacke, dann fährt dich Coda auch schon nach Hause."
"Elena fährt mich!", rief Callie, als ob ihre Freundin nicht neben ihr stand. 
"Nein, Coda fährt dich."

Callie öffnete langsam eins ihrer Augen und blinzelte angestrengt. Bevor sie widersprechen konnte, wurde sie auch schon in ihre Jacke gefädelt, was sie mit einem überrumpelten Grummeln kommentierte. Zu guter Letzt wickelte Elena ihr noch einen Schal um die Schultern und dann stand sie da, als wusste sie nicht, wo rechts und links war.

Da sie aber nicht sonderlich taumelte, verschwand ich von ihrer Seite und machte mich schnell daran, meine eigene Wintermontur anzuziehen. 

Als ich zurück zu Callie trat, waren ihre Augen erneut im Stehen geschlossen. 
"Ich wäre soweit.", sagte ich und schnappte mir ihren Arm. Sie summte nur leise, woraufhin ich einen Blick zu den anderen warf. 

Die Jungs standen versammelt in einer Runde und schauten mich mit unterschiedlichen Graden eines Grinsens an. Ich konnte nur hoffen, dass sie nach meiner Rückkehr vergaßen, mich aufzuziehen. Doch mindestens von Cash erwartete ich irgendwelche Sprüche. Es war nicht an meinen Freunden vorbei gezogen, dass #Colinda in den Medien aufgetaucht war und ich kurz darauf tatsächlich jemand Neues in unsere Runde integrierte.

Keiner der Jungs hatte mir geglaubt, dass nichts zwischen uns lief. Ich musste eingestehen, dass wir auch nicht gerade viel gegen diese Annahme taten. 

Mich innerlich bereits auf die Kommentare einstellend, zog ich Callie zur Tür. Ich drehte mich noch kurz zu Elena, die neben den anderen stand, als hätte deren Präsenz ihr nicht noch vor wenigen Tagen die Luft genommen, dann nickte ich ihr zum Abschied zu. Sie lächelte und winkte zurück.

Ich schob Callie voran und nahm fälschlicher Weise an, dass sie ihre Augen inzwischen ein wenig geöffnet hatte. Da das nicht der Fall war, lief sie prompt gegen den Türrahmen. Zischend prallte sie daran ab und rieb sich die Stirn, welche glücklicherweise von ihrer Mütze geschützt wurde. 

"Aua..."
Ich verzog leicht schuldbewusst mein Gesicht und zog sie vorsichtig zu mir, sodass sie dieses Mal mit Sicherheit nach draußen kam. Als diese Hürde geschafft war, hielt ich sie bis zu meinem Auto fest, damit ihr nicht noch mehr Unfälle passierten. 

Erfolgreich öffnete ich ihr die Beifahrertür und mit etwas mehr Hilfe, schaffte sie es, sich auf den Sitz zu hieven. Ich sah zu, wie sie sich ordnungsgemäß anschnallte, schloss die Tür und lief zur anderen Seite. 

"Uff, es ist kalt." Callie schlug ihre Hände auf ihre Oberarme und rieb über die Ärmel ihres Mantels. Wortlos startete ich den Wagen und drehte sie Heizung auf. 
Als ich losfuhr, schien meine Beifahrerin endlich etwas mehr zur Besinnung zu kommen. Ich sah kurz zu ihr, beobachtete, wie sie ihre Mütze mit gerunzelter Stirn richtete und dann zu mir schaute. Unsere Augen trafen sich.

"Wieso fährt mich El nicht nach Hause?" Ihre Stimme war noch immer müde und sie sah ziemlich knautschig aus. Ich schaute wieder auf die verschneite Straße.
"Sie meinte, dein Haus ist ein Umweg." Daraufhin sagte sie nichts. Stattdessen beugte sie sich in Richtung Mittelkonsole und blinzelte die vielen Knöpfe an. 

Als sie schließlich fand, wonach sie suchte, drückte sie eine Taste und das Radio sprang an. Meine Ohren wurden verschont, als anstatt der von ihr wahrscheinlich vermuteten Weihnachtshits ein Rock-Klassiker ertönte.

Zu meiner Überraschung, versuchte sie allerdings nicht, den Sender zu wechseln. Sie lehnte sich einfach in ihren Sitz zurück und nickte ihren Kopf im Takt. 
"Ich gebe zu, ich habe erwartet, dass du das ganze Jahr über Weihnachtsmusik hörst und alles andere verabscheust." Callie schnaufte belustigt.

"Selbst ich würde das nicht tun. Dann wäre es ja auch gar nichts Besonderes mehr. Wenn Weihnachten Alltag wäre, würde es irgendwann seinen Charme verlieren."
"Wieso magst du es so sehr?", hakte ich nach. Im Augenwinkel konnte ich sehen, wie Callie sich zu mir drehte.

"Ich weiß auch nicht. Vielleicht mag ich es, weil alles so schön dekoriert wird. Oder weil die Musik so nostalgisch ist." Sie schien zu grübeln und ich ließ ihr Zeit. Ich hatte die Vermutung, dass ihre eigene Antwort noch nicht den richtigen Punkt rübergebracht hatte.

"Weißt du, ich hatte früher kein wirkliches Weihnachten. Ich bin in einem Heim aufgewachsen und auch wenn sich dort alle größte Mühe gegeben haben, um die Magie der Weihnacht zu verbreiten, hat das nie so wirklich geklappt." Ich erstarrte, als das Thema nun von ihr höchstpersönlich genannt wurde. 

Elena schien jedoch Recht gehabt zu haben, was Callie's Stellung dazu betraf. Sie erzählte so, als ob es nichts Schlimmes für sie war.
"Ich schätze was Weihnachten wirklich besonders macht, ist das Zusammensein von einer Familie. Dass man gemeinsam isst und Geschenke auspackt, den Weihnachtsbaum schmückt, Filme schaut oder Spiele spielt. Solche Sachen. Man hat Traditionen, die man jedes Jahr wiederholt und über die man sich jedes Jahr aufs neue freut oder ärgert."

Sie seufzte tief und ich warf einen kurzen Blick zu ihr. Sie schien für einen Moment woanders zu sein. Ich traute mich nicht, sie zurück zu holen. 

"Ich war früher immer so unglaublich neidisch auf die Familien, die ich in TV-Werbungen und Filmen gesehen habe. Sie hatten irgendwie alles, was ich mir wünschte. Das war etwas, was selbst der Weihnachtsmann mir nie bringen konnte. Nichts desto trotz, haben wir immer irgendwas geschenkt bekommen. Es war nur nie das, was man wirklich wollte. Wenn man auf die Spenden anderer angewiesen ist, kann man nicht wählerisch sein und freut sich über alles."

Ich schluckte schwer, beim Gedanken daran, wie unterschiedliche wir aufgewachsen waren. Wie unfair es war, dass ein unartiger Bengel, wie ich, alles bekam, was er wollte und trotzdem nie zufrieden war, während Callie und so viele andere, Geschenke schätzten, die sie sich nicht einmal gewünscht hatten.

"Irgendwann hab ich mir dann geschworen, dass ich Weihnachten so erleben würde, wie die Leute in Filmen. Ich habe Listen geschrieben und Pläne geschmiedet, was man für das perfekte Weihnachten braucht. Wenn ich zufällig die Feiertage bei einer Pflegefamilie verbracht habe, konnte ich unterschiedliche Bräuche sammeln und tatsächlich manchmal ein richtiges Fest miterleben. Und als ich irgendwann auf eigenen Beinen stehen musste, hatte ich endlich meine Chance, Weihnachten so auszuleben, wie ich es wollte." Sie lachte leise, als wäre die Erinnerung lustig.

"Ich hab schnell festgestellt, dass es nicht so war, wie ich es mir vorgestellt hatte. Obwohl ich alles genauso so umsetzte, wie ich es über Jahre gesammelt hatte... Versteh mich nicht falsch. Es war keinesfalls ein schlechtes Weihnachten. Aber ich war allein und auch, wenn mir die Sachen gefielen, die ich tat, fühlte es sich nicht so an, wie das, was ich in Filmen gesehen hatte." 

Callie stieß einen lauten Seufzer aus und man konnte hören, wie sie ihre Emotionen zurück halten musste.
"Ich hatte echt Angst, dass ich meine Chance ein echtes Weihnachten zu erleben vergeben hatte. Nur, weil ich niemals mit meinen Eltern und Geschwistern auf dem Wohnzimmerboden Geschenke auspacken würde. Und weil ich keine wertvollen Erinnerungen hatte, wie ich bei meinen Großeltern als kleines Kind Weihnachtsmusik auf Schallplatten hörte."

Als wir an einer Ampel hielten, beobachtete ich, wie Callie sich das Gesicht rieb, als müsse sie ihre Muskeln entspannen. Sie schien meinen Blick zu spüren und drehte sich wieder zu mir. Dann legte sie ein Lächeln auf ihre Lippen und schaute mich mit glitzernden Augen an.

"Die Angst ist völlig unbegründet. Immerhin weiß niemand, was die Zukunft bringt. Es ist zwar nicht zu ändern, dass ich keine sonderlich tollen Erinnerungen an frühere Weihnachtszeiten habe, aber das bedeutet nicht, dass ich völlig verloren bin. Jedes Weihnachten, was noch kommen mag, kann das perfekte Weihnachten werden. Vielleicht packt mich das Gefühl erst eines Tages, wenn ich als Oma in einem Sessel sitze und meine Enkel vorm Weihnachtsbaum hocken. Wer weiß das schon... Solange ich nicht die Hoffnung verliere, kann ich ganz schnell überrascht werden. Deshalb gebe ich jedes Jahr mein Bestes, Weihnachten zu etwas Besonderem zu machen."

Ich nickte leicht, als sie ihren Monolog beendete. Die Ampel wurde grün. Ich fuhr los.

Die restliche Fahrt verlief ruhig und ich verbrachte die Zeit, über ihre Worte nachzudenken. Ich verstand plötzlich, wieso sie so fanatisch war und eine leise Stimme in meinem Kopf warnte mich davor, ihre geliebten Festtage mit meiner Abneigung zu ruinieren.

Auf einmal schossen mir eine Menge wilde Ideen durch den Kopf, die ich nur mit äußerster Konzentration filtern konnte. Ich wäre ganz sicher nicht dazu in der Lage, ihr ein perfektes Fest zu geben. Aber es wäre durchaus machbar, es nicht zum Schlimmsten aller Zeiten zu machen. Sofern sie mich nicht als komplettes Arschloch abstempelte und jede Erinnerung an mich nach Auslauf unseres Deals verbannte. 

Immer noch tief in Gedanken versunken, bemerkte ich kaum, dass ich an Callie's Adresse angelangt war und am Bordstein anhielt. Erst, als sie sich abschnallte, kehrte ich in die Realität zurück.

"Danke für's Fahren. Schreib Elena, wann du Zeit hast. Sie wird's mir weiter leiten und dann sagt sie dir Bescheid, wann wir uns wieder sehen." Callie nickte, als wäre das ein perfekter Plan. Innerlich stöhnend, fuhr ich mir durch die Haare. 

Ich konnte nicht fassen, dass wir über das Social Media ihrer besten Freundin kommunizierten. Es fühlte sich an, als wäre ich im Mittelalter gelandet und darauf angewiesen, dass meine Brieftaube heil beim Empfänger ankam. Seufzend streckte ich meine Hand aus, damit sie mir ihr Handy gab.

Stattdessen legte sie ihre eigene in meine und schüttelte sie. 
"Wir sehen uns, Cowboy!" 
Perplex schaute ich zu, wie sie die Autotür öffnete und dann wieder hinter sich zuschlug. Das zählte wohl als weiterer missglückter Versuch, ihre Kontaktdaten zu bekommen.

Kopfschüttelnd, stieg ich aus und lief ihr hinterher. Sie hörte meine Tür und drehte sich verwirrt um.
"Hab ich was im Auto vergessen?"
"Gib mir mal dein Handy." Sie tat, was ich verlangte. Ihr Smartphone war nicht gesichert und ich brauchte nur zur Seite swipen, da öffnete es sich schon. Im Handumdrehen hatte ich meine Nummer zu ihren Kontakten hinzugefügt.

"Schreib mir einfach, wenn du was wissen willst. Oder auch, wenn du nichts wissen willst. Schreib mir einfach, wann immer." Sie starrte mich mit ihren großen, dunklen Augen an und ich musste wegschauen. Was sie wohl von mir dachte?

"Okay. Hast du keine Angst, dass ich deine Nummer weitergebe oder verkaufe?" Sie schmunzelte mich neckisch an und ich verdrehte die Augen. Das würde sie wohl nie los lassen. 
"Nein, hab ich nicht."
"Das solltest du aber. Elena würde mich verprügeln, wenn ich sie ihr nicht gebe."

Ich lachte kurz auf und steckte meine Hände in die Jackentaschen. 
"Aber keine Sorge, sie wird dich bestimmt nicht belästigen. Oder vielleicht doch. Keine Ahnung. Sie hat sich so schnell an euch gewöhnt, man würde kaum glauben, dass sie sich zu einer Statue verwandelt hat, als sie dich zum ersten und zum zweiten Mal gesehen hat."

Ich musste bei der Erinnerung daran schmunzeln, doch als ich das Schlüsselklimpern aus Callie's Hand hörte, wurde ich ernst. Das Wissen, dass sich unsere Wege gleich trennen würden, rief ein ungewohntes Gefühl in meiner Magengegend hervor und platzierte einen Impuls in meinem Hirn.

Bevor ich auch nur die Chance hatte, darüber nachzudenken, platzten auch schon Worte aus mir heraus.
"Wie wär's, wenn du mit den Jungs und mir mitkommst? Zu unserem Videodreh." 

Callie's Augen weiteten sich und ihr Kopf schob sich nach vorn, als müsse sie näher kommen, um zu verstehen, was ich da gesagt hatte. 
"Das ist natürlich kein Muss. Nur so eine Idee." In Gedanken ratterte ich weitere Worte runter, doch ich schloss meinen Mund, bevor ich mich blamierte. Oder hatte ich das bereits? Ich war mir nicht sicher. 

"Ich hab kein Geld, um irgendwo hinzufliegen. Außer auf den Boden, versteht sich." Sie kicherte leise.
"Du musst nichts bezahlen. Ich übernehme das."
"Das klingt nach einem Sugar Daddy Angebot." Sie grinste mich an und ließ ihre Augenbrauen nach oben und unten tanzen. Ich starrte unbeeindruckt zurück. 
"Schau nicht so. Das war ein Witz. Aber ich hätte durchaus nichts dagegen, wenn du mein Leben finanzieren würdest." Sie kam auf mich zu gehüpft und schnappte sich meinen Ärmel, dann blinzelte sie mich mit übertriebenem Wimpergeklimper von unten an. 

"Kaufst du mir ein Rentier? Ich hätte gern eins." Lachend schüttelte ich den Kopf und fuhr mir mit einer Hand übers Gesicht. 
"Überleg's dir, ob du mitkommen willst oder nicht. Und schreib mir oder ruf an, wenn du eine Antwort hast, okay?" Ich schaute zu ihr runter und sie rümpfte die Nase, als fände sie es mies, dass ich ihre Rentier-Idee so einfach ignorierte.

"Okay. Ich schau mal, was sich machen lässt." Dann strahlte sie mich an und ließ meinen Ärmel los.
"Bye, Coda!" Sie machte ein paar Schritte rückwärts und winkte mir zu, bevor sie sich zur Tür drehte.

"Bye, Belly."




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