14|Geheime Talente
»Zieh nicht so, du reißt noch alles runter!«
Ich versuchte das Geschrei aus dem Flur zu ignorieren, auch wenn ich insgeheim etwas Angst hatte, dass Leon und Brody sich in den nächsten Minuten die Schädel einschlugen oder einfach von den Stühlen purzelten, auf denen sie momentan balancierten.
Irgendwie hatten sie noch nicht ganz den Dreh raus, was das Schmücken anging. Zumindest, wenn sie gemeinsam Lichterketten aufhängen sollten.
»Jungs, bitte seid vorsichtig!«, rief ich und lief ins Wohnzimmer, wo ich Coda vermutete. Er hatte sich nicht gerade begeistert seinem Schicksal gefügt und akzeptiert, dass auch er etwas dekorieren musste. Und drücken, konnte er sich nicht, da ich mich selbst zu seinem persönlichen Aufseher erklärt hatte.
»Da bin ich wieder! Jetzt können wir auch endlich loslegen.«
Strahlend schaute ich zu meinem ganz persönlichen Grinch. Natürlich gab er mir nicht das gleiche Level an Enthusiasmus zurück, doch das konnte ich verkraften. Ich würde ihn schon noch dahin bringen, wo ich ihn wollte. Daran zweifelte ich kein bisschen.
»Komm schon! Schnapp dir einfach die Kiste da und stürz dich auf deinen Kamin!«, wies ich an. Coda seufzte, stemmte sich aber von der Couch hoch und tat, was ich verlangte. Ich beobachtete, wie er auf die wunderschöne Feuerstelle zu trottete und dann anfing, alles mögliche an Deko aus dem Karton zu ziehen.
"Woher hast du überhaupt den ganzen Kram?", fragte er.
"Das sind Dekorationen, die sich über die Jahre angesammelt haben, aber keinen Platz mehr in meiner Wohnung finden. Das meiste ist Secondhand oder im Sale gekauft... du weißt schon, ich muss Geld sparen."
"Wieso sortierst du nicht einfach ein bisschen aus?"
"Wenn ich irgendwann mal ein Haus besitze, oder zumindest eine größere Wohnung, dann kann ich all das verwenden, was ich bereits habe. Ich sorge sozusagen vor."
Coda lachte nur leise auf, sagte aber nichts weiter dazu. Als ich zuschaute, wie er versuchte Festtagsgirlanden zu entwirren, schmunzelte ich und entschied, mich selbst meiner eigenen Aufgabe zu widmen. Der Weihnachtsbaum sah bisher noch sehr trostlos aus. Das würde sich schon bald ändern.
Ich machte mich daran, die Kisten und Beutel auszupacken, sodass ich eine ungefähre Vorstellung hatte, mit was ich überhaupt arbeitete. Da ich mich auf ein recht dezentes Farbschema für Coda geeinigt hatte, konnte ich bestimmte Kugeln direkt ignorieren. Als erstes mussten so oder so die Lametta-Girlande angebracht werden.
Insgeheim war ich froh, dass Cash sich vorhin bereits mit der Lichterkette abgemüht hatte. Das war alleine immer eine ganz schöne Herausforderung und ich konnte glatt darauf verzichten. Er hatte gar nicht mal so eine schlechte Arbeit geleistet, stellte ich zufrieden fest. Eine Baustelle weniger, um die ich mich kümmern musste.
Voller Tatendrang begann ich schließlich, meine Bahnen um den Baum zu ziehen und die goldene Girlande so gleichmäßig wie möglich über die Äste zu drapieren. Vertieft in meine Aufgabe, tönte ich die Kabbeleien aus dem Flur aus und konzentrierte mich nur noch auf die Musik, die weiterhin durch das Haus schallte.
Eine Weile ging das so weiter, bis ich an meine Grenzen kam. Der Baum war zu groß für mich und ich hatte keine Chance, die obere Hälfte zu schmücken. Frustriert schaute ich mich nach einem Stuhl um, der als Leiter dienen könnte und setzte den Plan kurzerhand um. In Null Komma Nichts tat ich es Brody und Cash gleich und reckte mich, um den Baum weiter zu schmücken.
Ich vermutete allerdings, dass die Jungs es leichter hatten, da ich trotz Stuhl kaum an die Äste ran kam. Der untere Durchmesser der Tanne, hielt mich davon ab, meine behelfsmäßige Leiter nah genug zu stellen, dass ich mich nicht allzu weit nach vorne lehnen musste. Das hielt mich aber nicht davon ab.
Ich reckte mich hochkonzentriert weiter und weiter auf den Baum zu. Das wäre ja gelacht, wenn ich mich gegen einen Baum geschlagen geben müsste!
Langsam positionierte ich die Girlande weiter und stellte einen meiner Füße auf die Rückenlehne. Ich versuchte, das Kippeln des Stuhls zu ignorieren und weitestgehend auszubalancieren. Doch es kam, wie es kommen musste. Von einer zur nächsten Sekunde, verlor ich das Gleichgewicht und mit einem überraschten Aufschrei, kippte ich in Richtung Baum.
Ich konnte von Glück reden, dass es sich hier wohl um ein robustes Exemplar handelte und er fest in der Halterung auf dem Boden steckte. Denn zu meiner Erleichterung, riss ich ihn nicht um. Stattdessen klapperte der Stuhl auf den Boden und eine Sekunde später folgte ich ihm.
Ich landete unsanft und mit Tannennadeln im Gesicht, aber wenigstens landete ich nicht auf meiner scheinbar nicht ganz so funktionellen Leiter. Das hätte blaue Flecke gegeben.
"Shit. Hast du dir wehgetan?" Coda's Stimme ertönte über mir, dann später spürte ich seine Hände, wie sie unbeholfen an meinem Körper tasteten.
Ich rappelte mich stöhnend auf und nahm seine Hilfe an, als er mir die Hand reichte und mich hochzog. Seine Augen flogen über mich und analysierten den Schaden, während ich meine Haare glattstrich.
"Hui. Das war so nicht geplant. Aber keine Sorge, mir geht's gut."
"Was war denn bitte der Plan?", fragte Coda irritiert und ließ seine Hände über meine Schultern fahren.
"Offensichtlich bin ich beim Baumschmücken. Aber ich komme nicht oben ran."
"Dann sag Bescheid und frag nach Hilfe, anstatt sowas Gefährliches zu machen. Du hättest dich ernsthaft verletzen können!" Ich hielt mich zurück, zu kommentieren, dass ich mich auch mit gebrochenem Bein an unseren Deal halten würde und er sich darum keine Sorgen machen musste. Stattdessen tat ich einfach so, als wäre er tatsächlich um mich besorgt und nicht nur seine Investition.
"Meldest du dich etwa freiwillig, zum Baumschmücken?"
"Wenn es dich davon abhält, lebensmüde zu sein, ja." Ich konnte mich nicht zurück halten und grinste den Drummer an. Der verdrehte nur die Augen und ließ mich los.
"Hätte ich gewusst, dass du Dinge tust, die du nicht tun willst, sobald ich draufgängerisch bin, hätte ich das schon eher getan." Coda sah mich an, als wolle er mich warnen, doch ich sparte mir eine Lektion und schaute stattdessen zum Kamin.
Meine Augen weiteten sich und ich schaute nicht schlecht drein, als ich sah, was mein Gegenüber geschaffen hatte. Es war wundervoll! Die Kette aus unechten Tannenzweigen war mit roten Schleifen, Weihnachtskugeln und kleinen Lichtern versehen, die langsam im Wechsel blinkten. An den Zweigen, die seitlich nach unten hingen, waren goldene Glocken angebracht und selbst vor der Feuerstelle hatte er ein paar Kerzen positioniert.
Das Bild, was sich mir bot, war alles andere, als was ich mir von einem Weihnachtsmuffel erhofft hatte. Er hatte es geschafft, dass ich mir nichts sehnlicher wünschte, als selbst einen Kaminsims zum Dekorieren zu besitzen.
»Wow. Wieso hast du mir nicht davon erzählt, dass du so talentiert im Dekorieren bist?«
Coda hatte die Arme verschränkt und sah mich sichtlich stolz an.
"Hätte ich das gewusst, hätte ich dich das ganze Haus alleine schmücken lassen.", scherzte ich, woraufhin er seine Miene verzog.
"Ganz sicher nicht. Ich hab meinen Teil erfüllt. Noch mehr, mache ich nicht." Coda drehte sich um und spazierte zurück in Richtung Sofa. Mit geschürzte Lippen sah ich zu, wie er sich in die Polster fallen ließ. Da kam mir ein brillanter Gedanke.
Meinen Blick weiterhin auf ihn gerichtet und den Augenkontakt haltend, schlenderte ich zurück zum Weihnachtsbaum. Für einen Moment stand ich tatenlos da, dann bückte ich mich und ergriff den gefallen Stuhl.
Er war noch nicht mal vollständig aufgerichtet, da sprang Coda auch schon wieder auf und eilte auf mich zu.
"Keine Höhenübungen mehr für dich!", sagte er und nahm mir das Möbel ab. Ich grinste siegessicher und widmete mich den Baumkugeln, als ob nichts passiert wäre. Coda setzte sich schließlich ebenfalls in Bewegung und führte meine Girlanden-Arbeit fort.
Ich machte mir keine Sorgen, dass die Tanne mit seinem Zutun chaotisch enden würde, immerhin hatte der Superstar seine geheimen Talente im Dekorieren bereits unter Beweis gestellt. Deshalb hatte ich auch keine Einwände, als er schließlich half, Kugeln anzubringen.
Wir arbeiteten in einem entspannten Tandem, kamen uns nicht in die Quere und gingen mehrfach zusammen ein paar Schritte zurück, um zu entscheiden, wo eine Lücke gefüllt werden musste und welche Farbe wo genau fehlte.
Als zu guter Letzt alle Kugeln aufgebraucht waren und der Baum nun meinem eigenen Konkurrenz machte, entschied ich, dass eine kleine Devianz an der Ästhetik der Tanne nichts ausmachen würde. Ich kramte in einem der Beutel nach dem samtigen Säckchen und hielt es letztendlich triumphierend in den Händen.
Flink enthüllte ich das kleine, pinke Monstrum, welches ich gewonnen hatte und befestigte es an einem Zweig.
"Was soll das denn sein?", fragte Coda verwirrt und betrachtete das Ornament mit gerümpfter Nase.
"Hey! Sag nichts gegen den kleinen, pinken Tannenbaum mit gruseligem Lächeln! Du kannst dich geehrt fühlen, dass ich ihn dir diese Weihnachtssaison überlasse. Ein kleines Kind hat ihn mühselig kreiert und ich hatte das Glück, ihn bei einem Weihnachtskalender zu gewinnen. Ich habe entschieden, dass dein Baum der ganz besondere Ort sein wird, an dem das kleine Monster sein Debut machen darf."
Coda hob belustigt die Augenbrauen, sagte aber nichts weiter gegen meine Gabe. Wir stellten uns gemeinsam am anderen Ende des Raumes hin und schauten unser Werk an. Grübelnd, legte ich meinen Kopf schief. Irgendetwas fehlte noch.
"Ich hab's! Es muss noch ein Stern drauf."
Ich machte mich auf den Weg zu einer Kiste, in der ich Weihnachtsbaumspitzen aufbewahrte und rangierte ein wenig darin herum, bis ich einen passenden Stern gefunden hatte.
"Probier mal, ob du ganz oben rankommst.", wies ich Coda an, der etwas widerwillig tat, was ich verlangte. Wie sich herausstellte, war selbst für ihn die oberste Spitze nicht zu erreichen.
Ich zögerte nicht und schnappte mir erneut den Stuhl. Coda schüttelte sofort seinen Kopf.
"Ganz sicher nicht. Es hat beim ersten Mal nicht geklappt, es wird auch beim zweiten Mal nicht gut enden." Ich sah ihn böse an und hoffte, dass er nicht vorschlagen würde, den Stern einfach wegzulassen. Jetzt, wo ich einmal die Vorstellung hatte, würde ich nicht ohne das korrekte Ergebnis leben können.
Coda schien das ebenso zu wissen, denn er seufzte nur ergeben und kniete sich plötzlich hin. Verwirrt sah ich zu.
"Komm schon. Setz dich auf meine Schultern, ich heb dich hoch."
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen.
Freudestrahlend, positionierte ich seinen Kopf zwischen meinen Oberschenkeln und dann stellte er sich auch schon auf. Ich hielt mich schnell in seinen Haaren fest, denn wirklich sicher fühlte ich mich nicht. Doch Coda verschränkte seine Arme und klemmte meine Füße darunter fest, sodass ich nicht mehr so leicht abstürzen konnte.
Er trat näher zum Baum und ich streckte mich zur Spitze, doch selbst soweit oben, war es keine leichte Aufgabe. Mal wieder war das Problem, dass ich zu weit weg war.
"Kannst du noch näher ran?"
"Ich stehe quasi schon im Baum drin.", jammerte Coda, machte aber einen weiteren Schritt nach vorne.
Ich beugte mich weiter und weiter, bis mich keinerlei Gleichgewicht, sondern ausschließlich Coda's Arme vom Fallen abhielten.
Mit einem letzten Schwung nach vorne, setzte ich schließlich den Stern auf den obersten Zweig. Dummerweise hatte meine plötzliche Bewegung die Folge, dass Coda mit einem panischen Laut den Halt verlor. Ich rutschte gefährlich nah auf den Baum zu und bereitete mich vor, erneut Tannennadeln zu essen, da zog er mich zurück.
Daraufhin folgte ein wildes Greifen und Fangen, wobei beide Parteien versuchten, einen Absturz zu verhindern.
Es klappte.
Nur lag ich plötzlich in Coda's Armen, eins meiner Beine halb verrenkt über seiner Schulter , meine Arme fest um seine Taille geschlungen.
»Wie ich sehe, habt ihr hier drin ziemlichen Spaß, während wir uns draußen in der Kälte abmühen.«
Cash und Elena standen an der Wohnzimmertür. Beide waren in ihre Winterklamotten gekleidet und hatten rote Nasen und Wangen. Ich fühlte mich augenblicklich schlecht, weil sie die Aufgabe übernommen hatten, Coda's Hausfassade und Vorgarten zu schmücken.
Der Leadsänger und meine beste Freundin waren ohne jeden Zweifel die mit der lästigsten Mission.
Anstatt uns das weiter und völlig zurecht vorzuhalten, verfielen die beiden allerdings nur in ein simultanes Grinsen. Elena's Augen fanden meine und sie ließ ihre Augenbrauen auf und ab tanzen.
Es würde wohl nichts bringen, wenn ich sagte, dass es nicht so war, wie es aussah.
"Eigentlich sind wir hier, um tolle Neuigkeiten zu verbreiten, aber wenn ihr noch einen Moment alleine wollt, kommen wir einfach später wieder." Cash ergriff Elena's Arm und drehte sich weg, doch ich rief empört hinter ihnen her.
"Hey! Ich will aber wissen, was es für Neuigkeiten gibt!" Mit nicht gerade erfolgreichen Bewegungen, versuchte ich mich aus der ungünstigen Position zu befreien. Ich schaffte es wenigstens mit Coda's Hilfe, dass mein Bein nicht länger hinter seinem Kopf festhing. Stattdessen lag ich nun vollends in seinen Armen und er hob mich mit einem Ruck höher gegen seine Brust.
Cash und El schauten das Spektakel an. Zum Glück hatten sie meinen Einwand nicht ignoriert und waren stehen geblieben.
Mein erwartungsvoller Blick schlug meine Freundin letztlich weich und sie lächelte mich mit kindlicher Freude an.
"Wir wollten nur Bescheid sagen, dass der erste Schnee fällt."
Meine Augen weiteten sich plötzlich, mein Mund war zu einem stummen O geformt und auf einmal konnte ich gar nicht schnell genug aus Codas Armen fliehen. Dieses Jahr hatten die ersten Flocken so lange auf sich warten lassen, dass ich es gar nicht abwarten konnte, den ersten Schnee zu sehen.
Aufgeregt schob ich mich von Coda's Brust weg und stand endlich wieder auf meinen eigenen Beinen. Kaum war das geschehen, schnappte ich mir seine Hand und versuchte mit ihm im Schlepptau nach draußen zu rennen. Natürlich war ich nicht stark genug, um ihn von alleine zu bewegen, doch Coda war nett genug, meine Freude nicht zu dimmen und folgte mir freiwillig.
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