//EINE GROSSE KÄFEREI//

»GUCK! DA IST SCHON WIEDER EINER!«

»Wo denn? Mensch, Susi, du gehst mir tierisch auf die Nerven mit deinen Viechern. Es ist Winter. Wo sollen da irgendwelche Käfer herkommen?«

»Wenn ich es dir doch sage, Max! Seit einiger Zeit sind da diese großen fetten Krabbeltiere.«

»Na sicher, und die verschwinden natürlich immer genau dann, wenn ich hinsehe.«

»Öhm, ja. So scheint es zu sein, denke ich.«

»Merkst du selbst, dass das Unsinn ist, ja?«

»Das ist kein Unsinn! Nach allem, was wir durchgemacht haben, solltest du mir vertrauen. Ich denke mir das nicht aus.«

»Dann haben deine Nerven bei unseren Abenteuern gelitten und du bist wieder das scheue Reh von früher geworden.«

»Maximilian! Ich dachte, dieses Thema hätten wir abgehakt.«

Hört ihr das? Wir sind kaum in Reichweite von Susis Elternhaus, da können wir die Vierzehnjährige bereits hören. Wie es scheint, haben sie und ihr bester Freund Max einen heftigen Streit. Dabei war ich mir sicher, dass die vergangenen Abenteuer die zwei fester zusammengeschweißt haben als jemals zuvor. Wir sollten uns da nicht einmischen und lieber wieder zurückgehen. Das ist eine Privatangelegenheit.

Hm? Käfer? Ach so! Ja, stimmt. Der Käfer. Deswegen sind wir ja hier. Ihr denkt also, dass es bei diesem Streit um eben jenen Käfer geht, den wir vor ein paar Wochen im Museum gesehen haben? Und ihr seid sicher, dass dieser Käfer mit einem neuen Abenteuer zusammenhängen könnte? Ist das nicht ein wenig zu weit hergeholt? Ich hatte damals ja auch ein ganz mieses Gefühl bei diesem Tierchen, aber mal im Ernst – was könnte so ein Krabbler schon für Probleme machen? Das wollt ihr herausfinden – aha. Und deswegen sollen wir zum Haus gehen und durch Susis Zimmerfenster gucken? Unsichtbar, wie damals? Ihr kleinen Spione, ihr! Da hab ich euch ja ganz freche Angewohnheiten beigebracht! In Ordnung. Dann gehen wir jetzt dorthin und überzeugen uns, dass der Käfer harmlos ist. Ob ich mir das wünschen würde, wollt ihr wissen? Nun, eigentlich schon. Wer weiß, was uns andernfalls erwartet? Neue Reisen und Gefahren – habt ihr darauf etwas Lust? Ja? Ihr seid nicht totzukriegen, was das betrifft. Also los.

Dort sind die beiden. Sie sitzen auf Susis kleinem mintgrünen Sofa und gucken ihre Hausaufgaben durch. Hat ihnen die Berg über die Ferien wieder einiges aufgegeben, was? Aber Susi ist nicht ganz bei der Sache, wie es aussieht.

»Susi, jetzt konzentrier dich doch mal. Wenn wir nicht die kompletten Ferien für den Kram hier opfern wollen, dann müssen wir heute schon mal das meiste schaffen.«

»Ich kann mich aber nicht konzentrieren, solange ich nicht weiß, wo das Viech ist.«

»In deinem Kopf!«

»Halt den Rand und sperr lieber die Ohren auf! Hier knistert was.«

Susi schließt die Augen und lässt ihren erhobenen Zeigefinger durch das Zimmer wandern, als würde sie damit das ominöse Geräusch orten wollen.

»Bei dir knistert's in der Birne.«

»Psst! Da! Da vorne in der Chips-Tüte bewegt sich etwas!«

Tatsächlich! Susanne hat recht. Seht ihr das? Die glänzende Oberfläche der Tüte schimmert bei jeder Bewegung. Es ist nicht zu leugnen. Auch Max kneift jetzt die Augen zusammen, um erkennen zu können, was in Susis Schrankwand vor sich geht.

»Gehst du mal gucken, Max?«, fragt Susi ihren Freund mit kleinlauter Stimme.

»Ich? Ist doch dein Zimmer. Außerdem, wer sich mit Gorillas und rosa Kaninchen herumschlägt, der sollte auch vor einer Tüte Kartoffelchips keine Angst haben.«

Unmöglich, dieser Kerl! Einen Gentleman haben die letzten Erlebnisse jedenfalls nicht aus ihm gemacht.

»Du hast Angst, was?«, stichelt Susi und trifft damit voll ins Schwarze.

Max erhebt sich erhobenen Hauptes und marschiert geradewegs zur linken Zimmerecke. Außerdem genau auf die Fenster und uns zu. Glücklicherweise sieht er uns nicht. Der Schreck über all die keifenden Gesichter, die an der Scheibe kleben, wäre bestimmt noch größer als der über die wackelnde Chips-Packung.

Letztere hält Maximilian nun mit spitzen Fingern hoch und verzieht angewidert das Gesicht. Gerade als er sagen will, dass sich nichts außer Knusperkram in der Tüte befindet, flattert mit lautem Gebrumm ein riesiger Käfer genau auf sein Gesicht zu!

Kreischend schmeißt er die Tüte weg und die Chips fliegen quer durchs ganze Zimmer. Susi wirft vor Schreck den Tisch um, wodurch sich die Schulsachen der beiden zu dem übrigen Chaos gesellen.

Max fuchtelt wie ein wildes Tier mit den Armen vor seinem Gesicht herum und Susi ist auf das Sofa gesprungen. Sie kreischt und wehrt mit einem Sofakissen irgendetwas ab. Den Käfer! Er umschwirrt das Mädchen. Max weckt seinen inneren Ritter, greift beherzt zu einer Kapuzenjacke, die über einem Stuhl hängt und schlägt damit in der Luft herum.

Bei diesem Manöver wirbelt er weiteres Interieur durch die Gegend und reißt sogar Susis Bücher vom Regal. Sie selbst ist mittlerweile vom Sofa gesprungen und rennt quiekend im Kreis herum.

Was für ein Tohuwabohu!

Aber da ist noch etwas? Wenn ihr genau aufpasst, dann könnt ihr es hören. So eine winzigkleine Stimme – kaum mehr als ein Summen. Sie ist ganz nah. Hier! Hier bei uns auf dem Fensterbrett. Der Käfer!

Er sieht eigentlich aus, wie ein gewöhnlicher Pillendreher aber viel größer und mit goldenen Symbolen auf seinen schwarz-grünlich glänzenden Deckflügeln. Seht mal! Er winkt! Mit seinem klitzekleinen flachen und gezackten Vorderbeinchen wedelt er unablässig in der Luft herum.

Aber Susi und Max sind so sehr mit ihrer Panik beschäftigt, dass sie gar nichts davon mitbekommen. Holger! Nimm bitte einen der kleinen Kieselsteine aus dem Garten und wirf ihn gegen das Fenster. Vielleicht werden sie dann auf den Käfer aufmerksam.

PLOPP

»Was war das?« Max hält inne und starrt entgeistert zum Fenster.

»Hat draußen jemand an die Scheibe geklopft?«, fragt Susi und schiebt eine zerzauste Haarsträhne aus ihrem Gesicht.

»Ich sehe niemanden. Vielleicht einer unserer Nachbarn, der sich über den Lärm beschwert«, überlegt Max und legt die Kapuzenjacke zusammen.

»Warum machen wir eigentlich so viel Krach?«

»Weil du Schiss vor diesem Käfer hast, Susanne!«

»Du bist doch völlig durchgedreht, als er dir ins Gesicht geflogen ist, Maximilian!«

»He! Hört endlich auf, zu streiten!« Wie süß! Der Käfer schimpft und streckt drohend sein Fäustchen in die Höhe.

»Hast du das auch gehört oder spinne ich wirklich?«, fragt Susi ihren Freund. Dessen weit aufgerissene Augen sind Antwort genug.

»Woher kam das? Hast du das Radio an?«

»Nein. Ich habe nichts angeschaltet und ...«

»Hier drüben auf der Fensterbank, ihr Nichtsnutze!« Das Käferlein flattert aufgeregt rauf und runter, bis die Freunde ihn entdecken.

»Da ist das Mistvieh! Hier, nimm den Diercke und schlag einmal kräftig drauf!«, sagt Susi und reicht Max den Schulatlas.

Oh weh! Nein, Max! Tu es nicht! Der Käfer spricht. Er ist kein gewöhnlicher Krabbler.

»Das wirst du schön bleiben lassen, Freundchen!«

Die Knirpsenstimme des Pillendrehers lässt Max dermaßen zusammenzucken, dass ihm der schwere Atlas genau auf die Füße fällt.

Glücklicherweise!

»Der spricht! Dieser Mistkäfer da hat was gesagt!«, ruft Max ungläubig aus, während er sich den schmerzenden Fuß massiert.

»Ich hab es auch gehört«, gibt Susi ihm tonlos recht. »Wie ist das möglich?«

»Mit dem Mund, Madame!«, antwortet das Insekt schnippisch.

»Aber Käfer können nicht sprechen. Weder mit dem Mund noch mit dem Hintern oder sonst was!«, protestiert Max gegen seine eigene Wahrnehmung.

»Hörst du doch, dass sie es können, du Suppenkasper!«

Neugierig kommt Susi näher, um sich das vorlaute Tierchen genauer anzusehen.

»Guck mal, Max! Der ist voll hübsch, irgendwie. Der hat da so Symbole auf dem Rücken. Sehen aus, wie ägyptische Hieroglyphen.«

»Was du nicht sagst.« Wie zufällig dreht sich der Käfer einmal langsam im Kreis herum und präsentiert seine schillernde Kehrseite. »Ich komme aus Ägypten, wenn ihr es wissen wollt. Mein Name ist Skarabäus CDLXXXIII. Scarafaggio*. Ein paar meiner Ahnen waren Römer – ähm, Italiener, wie man heute sagt. Darauf bin ich nicht besonders stolz.« Er räuspert sich und erhebt dann seinen Zeigefinger, um im Text fortzufahren.

»Meine Familie ist seit Tausenden von Jahren dazu auserkoren, das Portal zu bewachen. Jawohl!«

»Das Portal? Von welchem Portal sprichst du?«, fragt Max, der genauso wenig versteht, wie ich.

»Ich bitte euch! Ihr könnt mit Atlanten um euch werfen und kleine Tiere töten, aber habt noch nie etwas von dem Portal gehört?«

»Nein«, antworten Susi und Max gleichzeitig und zucken mit den Schultern.

»Schaut euch die Schriftzeichen auf meinem Rücken genau an. Was seht ihr da?«

»Einen Hasen, Wasser und, äh, keine Ahnung«, nuschelt Max und kneift seine Augen eng zusammen.

»Das ist ein Türflügel! Und auf meinem Bauch seht ihr noch was Tolles.« Skarabäus deutet auf den sitzenden Mann mit dem Nemes-Kopftuch** der Pharaonen und einem Wedel in der Hand. »Diese Hieroglyphe bedeutet König.« Heftiges Nicken unterstreicht seine Aussagen. »Ich bewache das Tor der Zeiten – das Portal des Pharaos. Jetzt alles klar?«

Schweigen war die vielsagende Reaktion.

»Muss ich wirklich im Urschleim wühlen? Chnum hat euch in so hohen Tönen gelobt, dass ich dachte, ich hätte es mit kompetenteren Leuten zu tun. Wie man sich irren kann. Aber was hatte ich erwartet, von diesem Schafskopf?«

»Du kennst Chnum?«

Er kennt Chnum?

»Ich kenne Chnum! Natürlich kenne ich ihn. Ich kenne jeden Gott persönlich. Den einen mehr, den anderen weniger.« Unbeeindruckt betrachtet der Käfer seine Finger. »Und wenn ihr jetzt eins und eins zusammenzählt, dann wisst ihr schon ein ganzes Stück mehr über mich und meine Aufgabe.«

»Häh? Mir brummt der Schädel von deinem hochfrequenten Gequatsche, sonst weiß ich nichts«, beklagt sich Susi und ich muss ihr zustimmen.

Was in aller Welt versucht uns dieser verzierte Pillendreher zu erklären? Was für ein Portal und was hat das mit unserem Freund Chnum zu tun?

Wie bitte, Holger? Du hast eine Idee? Komm, flüstere es mir ins Ohr. Aha! Hm? So so! Ach, deshalb! Denkst du wirklich? Schon möglich. Das vermute ich auch.

Ihr wollt wissen, worüber wir spekulieren? Na, ich würde sagen, dass wir dem Käfer weiter zuhören. Mal sehen, ob wir richtig liegen mit unserer Theorie.

* Skarabäus CDLXXXIII. Scarafaggio

- Skarabäus der 483.

- Scarafaggio bedeutet »Käfer« auf Italienisch

** Nemes-Kopftuch

- ein dreieckiges, gestreiftes Kopftuch, das die Pharaonen trugen. Es bedeckte die Stirn und fiel über die Ohren zur Brust herab. Der hintere Teil des Tuches wurde im Nacken in Form eines zopfartigen Wulstes zusammengedreht. Als Königssymbol befand sich auf der Stirn oft eine Kobra – die Uräusschlange.

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