Z W Ö L F
Heute war der große Tag, dachte ich. Aber war es wirklich ‚der‘ große Tag? Ich meine, wie reagiert man darauf? Wie reagiert man auf die Besichtigung seiner toten Tochter? Ich stand vor dem großen Spiegel im Flur und zückte mir den Kragen meiner weißen Bluse, mit den kleinen blauen Blümchen, zurecht. Die Ärmel meines Hemdes gingen nur knapp über meine Schultern und meine Haare steckte ich mir, wie immer, zu einem Dutt. Es war der Tag der Tage. Heute durfte ich Emma ein letztes Mal sehen, durfte ich sie ein letztes Mal berühren, durfte ich ihr ein letztes Mal verdeutlichen, wie sehr ich sie liebte, durfte ihr ein letztes Mal ‚Auf Wiedersehen‘ sagen. Heute war alles vorbei. Heute war der Schmerz vergessen, heute war die Angst vergessen. Heute ging es nur um Emma. Ich hatte lange mit mir gerungen, ob ich es zulasse, dass Eva mitkam. Eva war halt Emmas Schwester, sie hatte meine Erstgeborene in soviel Varianten schon gesehen und erlebt. Sie hatte mitbekommen, wie Emma fast Suizid begehen wollte. Sie hatte Emma gesehen, wie sie betrunken nach Hause kam. Sie hatte Emma gesehen, wie sie fröhlich von Schule nach Hause lief und wie Emma sich jeden Tag neu anzog. Sowohl persönlich, als auch modisch. Sollte ich es nun Eva verwehren, dass sie mit auf das letzte Mal ‚wir gehen Emma besuchen‘ kommt? Überhaupt, wie sollte ich ihr es erklären? Einem kleinen, achtjährigen Mädchen? Vor Nervosität sah ich mich am Küchentisch, während ich nervös und vollkommen abgelenkt auf einen kleinen weißen Zettel immer die selben ‚a’s schrieb. Wie sollte ich Eva erklären, dass wir gleich ihre tote Schwester in einem stinkenden und mit Leichen - überfüllten Raum treffen würden? Da, wo ein in grün gekleideter Mann mit Scheren und Skalpellen die Haut ihrer Schwester aufgeschnitten hatte.
Ich vereinbarte mit mir selbst, dass Eva nicht mitkam. Wer weiß, was für traumatische Erfahrungen sie gemacht hätte, wie ihre Träume ausgingen und wie sie dann weiter leben konnte. Es musste ausreichen, dass sie ihre Schwester auf der Beerdigung ein letztes Mal ins Gesicht sehen konnte, wenn es dazu kommen sollte und sie, durch ihre Wunden, nicht vorsichtshalber eingeäschert werden würde.
Leise und ganz vorsichtig drückte sich die Klinke der Haustür nach unten, sie quietschte ein wenig. Ich drehte mich um und sah, wie Eva ihre linke Schultasche auf den Boden ablegte und zu mir in die Küche kam.
„Gut, dass du da bist.“, sagte ich etwas zwanghaft und sah verstohlen auf mein zerknittertes weißes Papier. Durch das beschreiben, falten und schwitzen meiner Hände, war es unleserlich geworden.
„Gibt es was?“, Eva setzte sich gegenüber von mir an den weißen Küchentisch und sah mich lächelnd an. Sie überkreuzte ihre Arme, blinzelte ein paar Mal und wartete darauf, dass ich ihr etwas liebes sagen würde.
Ich blickte von dem Papier hinauf und zerknüllte es in meiner Hand nun ganz und lehnte mich etwas über den Tisch. Meine Arme waren ebenfalls verschränkt und mein Blick suchte einen Ausweg aus dieser Situation, als ich zu reden begann: „Eva, Schatz, es tut mir Leid, aber“, nervös schluckte ich und drückte das Papier enger in meine Handfläche, meine Hände waren zu Fäusten geballt, als würde ich diesen Moment zerstören wollen. „ich werde heute alleine zur Besichtigung von Emma gehen. Ich hoffe du verstehst das und bitte“
„Schon gut, ist nicht schlimm.“, unterbrach mich Eva. Für einen kurzen Moment viel dieser schwere Klumpen, welcher auf meinem puckerndem Herzen lag, hinab. Erst später realisierte ich, dass sie enttäuscht gewesen war.
„Schatz, weißt du“, begann ich wieder und hoffte auf Verständnis. „Ich möchte nicht, dass du das siehst. Behalte deine Schwester in deinen Erinnerungen, wie sie war. Hübsch, jung und Emma halt. Wenn du sie heute sehen würdest, wüsste ich nicht, was mit dir passieren würde.“
„Wie gesagt, ist in Ordnung.“, sagte sie und stieß sich vom Stuhl, nahm ihre Tasche vom Korridor und ging die Treppen hinauf.
„Oma und Opa werden auf dich aufpassen!“, rief ich ihr noch hinterher und vernahm nur ein undeutliches ‚Mhm‘, ehe eine Tür laut zu knallte.
Ich starrte auf den Tisch und massierte meinen Kopf. Habe ich das Richtige getan? Fragte ich mich immer und immer wieder. Jedoch merkte ich, nach einer gewissen Zeit, dass man hierbei nie ‚richtig‘ handeln kann. Jeder muss abstriche machen, bestimmte Wege gehen und vorallem, das Wichtigste überhaupt, muss man sein Kind beschützen. Wenn ich Emma schon nicht beschützen konnte, so musste ich Eva umso mehr beschützen.
Es war Dreiviertel Drei, als meine Eltern an meine Tür klopften. Zum Glück war Freitag, so konnten sie bis Sonntag bei mir bleiben und mich im Haushalt und psychisch unterstützen.
Ich machte die Tür auf und in meinem Blickfeld erschien ein Strauß Amaryllen, meine Lieblingsblumen und ein Korb mit Naschwerk.
„Für dich, Süße!“, Mutter kam wie ein aufgescheuchtes Huhn in die Wohnung, drückte mir den Strauß in die Hände und rannte in die Küche, während mir Vater einen Kuss gab und mich umarmte. Vollkommen verwirrt machte ich zuerst die Tür zu und folgte anschließend meiner Mutter in die Kammer, welche bereits unter dem Waschbecken nach Vasen suchte.
„Nur weil deine Vasen bei euch zu Hause unter deinem Waschbecken sind, heißt das nicht, dass meine bei mir zu Hause auch da stehen.“, etwas genervt musterte ich die Unordnung auf den weißen Küchenfliesen. Meine Mutter hatte tatsächlich den Bio-Müll-Korb, mit vollem Inhalt, die Wischlappen und drei Eimer hervorgekramt und sie machte nicht den Anschein damit aufzuhören.
Ich setzte ein neutrales Gesicht auf, ging ins Wohnzimmer und öffnete die rechte Tür meiner Kommode, zog eine alte - braune Glasvase hervor und ging zurück in den vermeintlich - verwüsteten Raum. Mutter hatte alles wieder eingeräumt, präsentierte sich mit Vater nun allerdings als liebende Eltern, in dem sie mich mit freudig - strahlendem Lächeln am Küchentisch, mit vollem Korb, erwarteten.
„Schön dich zu sehen, liebes. Wobei können wir dir helfen?“, Mutters Lächeln war schon fast spöttisch, wie eine dieser gruseligen Marionetten, die es oft in diesen Klischee - Horrorfilmen gibt.
„Mir ist nicht mit Lachen zu Mute, Mutter.“, setzte ich einen ernsten Ton an und stellte die Blumen vor ihr Gesicht auf den Tisch.
„Ich weiß, tut mir Leid. Ich wusste nicht, was ich machen und wie ich mich verhalten soll. Aber nun sag, was können wir für dich tun?“, sie kam auf mich zu und umarmte mich, während sie diesen Satz sprach und ich gab mich ihrer Liebe hin. Mein Blick wanderte plötzlich zu den drei Bordeaux-farbenen Koffern.
„Wozu braucht ihr denn bitte drei Koffer? Ihr bleibt doch nur bis Sonntag?“, erschrocken aber immer noch einladend musterte ich die drei Kasten und mein Blick wanderte zu Vater.
„Keine Sorge, wir bleiben wirklich nur bis Sonntag, Schatz.“, mein erleichtertes Ausatmen verkniff ich mir Anstandshalber. „Deine Mutter hat nur noch ein paar Kleinigkeiten eingepackt.“, er zwinkerte mir zu.
„Und die wären?“, fragte ich neugierig, als auch etwas besorgt und zog die rechte Augenbraue erwartend nach oben.
„Musst du nicht langsam los?“, Mutter versuchte mich anscheinend aus meinem eigenen Haus zu schmeißen. Aber Recht hatte sie, ich sah auf die Uhr. Es war bereits drei Uhr und spätestens jetzt musste ich los fahren, um nicht zu spät zu erscheinen.
„Und passt mir ja auf Eva auf!“, sagte ich, als ich durch die helle Haustür ging und eine erleichternde Antwort bekam. Nicht das ich meinen Eltern nicht vertraue, aber sie können manchmal ziemlich eigen sein. Das Chaos in der Küche wäre nur ein Beispiel, von zu vielen.
Ich setzte mein Auto in Bewegung und rollte die Straße hinab. Das Wetter war heute ungewöhnlich heiß, stellte ich fest und suchte den Weg zur Pathologie. „Wo zum Teufel gibt es in London die Pathologie? Navi? Hallo!“, schrie ich mein Navi an und stoppte kurz danach am Straßenrand um mein Gerät besser bedienen zu können.
Nachdem ich herausgefunden hatte, dass wir gar keine Pathologie, sondern nur ein pathologisches Institut, ich weiß den Unterschied nicht, hatten, welches im Kellergeschoss der Kriminalpolizei lag, fuhr ich weiter und beschimpfte ein letztes Mal die Technik. „Scheiß Teil.“
Ich setzte meine Sonnenbrille wieder hinauf und drückte kräftig auf das Gaspedal, ich fuhr bestimmt viel zu schnell. War mir allerdings auch relativ egal, hier waren eh keine Blitzer, wir waren ja ein Vorzeigebezirk, und die Anwohner kannten mich alle. Wir konnten hier, oberflächlich gesagt, tun was wir wollten. Hätte niemanden interessiert, solange wir uns nicht selber anzeigen würden.
Mein Wagen stoppte langsam und vor meinen Augen baute sich das große, kantig - gebaute und dunkelgrüne Gebäude auf. Ein schwacher Wind fegte eine Zeitungsseite und ein paar Blätter vorbei, als ich auf dem Gehweg stand. Meine Handtasche, welche bis zu jenem Zeitpunkt noch in meiner Hand war, hob ich auf meine rechte Schulter und atmete tief ein, als ich schnellen Schrittes zum Haus lief.
„Ja, Bonney.“, meine sonst so starke Stimme wurde ziemlich weich, als ich mit der Sekretärin sprach und sie in ihrem Computer meinen Namen eintippte. Mir viel auf, dass sie die erste Vorzimmer-Dame war, die keinen metertiefen Ausschnitt hatte. Sie wurde mir umso sympathischer, als sie mir noch den Weg zum pathologischen Institut beschrieb.
Ich folgte den Anweisen und ging die Treppe hinunter. Stufe für Stufe ging ich in den Abgrund, Stufe für Stufe wurde mir immer schlechter. Stufe für Stufe wollte ich endlich Gewissheit haben.
Ich stand vor der großen Glastür und beobachtete eine Zeit lang die zwei Menschen, die sich im Keller aufhielten. Mein Körper war wie zusammengeklebt, nichts wollte mehr irgendetwas machen. Ich fühlte mich wie in Trance, wie von Medusa angeschrieen.
Ich wagte es und drückte mit aller Kraft die Tür auf, so stark, dass sie beinahe an die Steinwand gekracht wäre.
Ich wollte mich stark fühlen, mich kräftig präsentieren. Ich wollte zeigen, dass ich es aushalten würde, meine Tochter zu sehen. Ich wollte keine Schwäche zulassen.
Etwas erschrocken drehten sich die zwei Männer zu mir um und der ältere Herr von beiden kam mit großen Augen und einer ausgestreckten Hand auf mich zu. Ich verzweigte und lächelte ihn kurz und nervös an, ehe er auf seine Finger sah und mit dem Kopf zustimmend nickte.
Der andere Mann, wesentlich jünger, begrüßte mich mit einem „Winker“ und drehte sich anschließend um, damit er das Besteck säubern konnte.
„Mein Name ist Peterson, Theodor. Ich bin leitender Pathologe hier und das ist mein Assistenzarzt Zed Shaw.“, Mr. Peterson schob seine kleine Brille ein Stück höher, während Mr. Shaw mir den Rücken zudrehte und nur so etwas ähnliches, wie ein „Hi.“ murmelte. Er schien ziemlich beschäftigt.
„Also Mrs. Bonney, sind Sie bereit? Ich würde den Kopf jetzt aufdecken. Den Rest erspare ich Ihnen.“, schlug der ältere von den beiden Herren schon fast spaßhaft vor.
„Ja.“, antwortete ich kurz und schloss für einen Moment die Augen. Ich bereite mich in dieser einen Sekunde auf alle Varianten vor. Färbungen, Kratzer, Zertrümmerungen. Ich war bereit.
Meine Augen öffneten sich und vor mir lag regungslos das Gesicht meiner verstorbenen Tochter. Zitternd fasste ich mir an meinen Mund und wendete mich einen Moment ab. Meine Augen waren weit aufgerissen, genau so schnell drehte ich mich wieder zurück und sah mir ihr Gesicht genau an. Der ganze Kopf war Blau, die Lippen im Todeskampf blutig aufgebissen. Es war ein Bild des Horrors, wie eine Illusion. Mister Peterson versuchte mich davon abzuhalten um den Kopf zu gehen, doch ich lies mich nicht aufhalten. Am Hinterkopf war eine klaffende Wunde, musste ein stumpfer Gegenstand gewesen sein.
Schweigend ging ich zu Mr. Peterson zurück, nickte ein Mal und kauerte mich an die Glastür. Ich sah noch, wie der alte Pathologe das grüne Tuch wieder über die Leiche legte und zu mir kam. Ich vergrub meinen Kopf unter meinen verschränkten Armen und bildete eine Barrikade mit meinen angewinkelten Beinen gegen das ganze Böse der Welt.
„Mrs. Bonney, Sie hätten das nicht sehen sollen und auch nicht sehen müssen.“, sagte Mr. Peterson zu mir, der sich inzwischen neben mich hingekniet hatte. „Das war wirklich unnötig.“, der einfühlsamste schien er nicht zu sein. Kein Wunder, dass er in der Pathologie arbeitet, da zeigt man keine Gefühle. Schon gar nicht als Mann. Da schaltet man diese unsinnigen Gefühle einfach ab, kann ich nachvollziehen.
„Sie verstehen das nicht.“, erwiderte ich kindlich und fühlte mich wie ein Baby, was nicht aus dem Bällebad wollte.
„Darum geht es nicht.“, entgegnete Mr. Peterson und ich dachte, jetzt würde eine weitere kalte Antwort kommen. „Sie sehen so schön aus, machen Sie nicht ihr Make-up kaputt und stehen Sie auf. Sie müssen noch einen Zettel ausfüllen.“
„Ganz schön dreist eine Mutter, welche ihr Kind verloren hatte, mit ihrem guten Aussehen ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern.“, warf ich ihm vor und wischte meine Tränen aus meinem Gesicht, während ich mich aufstellte. Mr. Peterson führte mich zu einem, kaum bemerkbaren Nebenzimmer.
Ich setzte mich an den modernen Tisch, während der Pathologe im grünen Kittel in seinen Akten kramte. Die gelben und mit Blut befleckten-Handschuhe hatte er mittlerweile von seinen kräftigen Händen gezogen und sie auf einem silbernen Tablett abgelegt.
Er holte ein weißes Papier hervor, was mit einigen schwarzen Kästen und Zahlen beschrieben war, blickte einmal drüber und übergab es mir. Peterson setzte sich mir gegenüber und sah mittlerweile wie ein richtiger Arzt aus, nicht wie einer, der tote Menschen aufschnitt um ihre Todesursache zu bestimmen.
„Vor Ihnen liegt die Bestimmung der Identität, würden Sie das bitte ausfüllen?“, der Blick von Mr. Peterson ging über seine Brille und er beäugte das Blatt, anschließend mich. Mit meinem Blick überflog ich das Blatt, um mir einen ersten Eindruck zu verschaffen. Ich bekam einen Schweißausbruch bei den ganzen rechtlichen Fragen, am Liebsten würde ich jetzt Alice anrufen und sie würde das für mich regeln, aber beim erneuten Hinsehen fiel mir auf, dass es doch ganz anständige Fragen waren.
Frage für Frage beantwortete ich und wurde zusehends nervöser. Wozu will er, wozu will dieses verdammte Institut wissen, ob Emma eine Schwester hat? Ich blickte stirnrunzelnd vom Blatt auf und sah ihn verwundernd an.
„Keine Sorge, ist nur für die Versicherung und zur weiteren Abklärung.“, versuchte mich der Pathologe zu beschwichtigen.
„Aha.“, misstrauisch beantwortete ich alle Fragen weiter und fühlte mich wie bei einer Gewinnshow. Würde ich die richtige Lösung eintragen, hätte ich gewonnen. Aber was hätte ich gewonnen? Emma würde nicht mehr zurück kommen. Daran würde auch Frage Nummer 26C nichts ändern: Ihr Angehöriger wurde lebensverletzlich verletzt. Ermordet, richtig Sherlock. Sollte der Täter überführt werden, wünschen Sie sich ein persönliches Gespräch?
Völlig entsetzt blickte ich erneut vom Blatt auf und musterte meinen Gegenüber. „Die neuen Auflagen. Dafür kann ich nichts.“, anscheinend wusste er genau, welche Frage mich stutzig machte. ‚Ein persönliches Gespräch‘, soweit kommt es noch.
Ich kam zur letzten Aufgabe, wie ich die Beschriftung des Arbeitsblattes liebevoll nannte, und legte das beschriftete Dokument kurz auf den Tisch.
„Alles in Ordnung?“, fragte Peterson und guckte kurz hinunter zum Papier, ehe er mich ansah und die Augenbrauen hochzog. Inzwischen hatte sich der Pathologe um eine Haltung bemüht, die aussagen sollte: „Das muss ihnen nicht peinlich sein, wenn sie jetzt gleich heulen wie ein Schlosshund.“ Er hatte seine Arme verschränkt und kam etwas über den schwarzen Tisch, der uns beide trennte. Ich hingegen hatte mich bereits mit einem Taschentuch bewaffnet.
Ich nahm das Schriftstück wieder in die Hand und versuchte den krakelig vorgeschriebenen handschriftlichen Text zu lesen. Peterson zeigte mit seinem Finger auf seine Schrift, guckte sie kurz an und sagte: „Feuerbestattung. Ihre Emma wird von uns in einen Ofen geschoben und dann verbrannt. Die Wunden, die sie am ganzen Körper hat, würden eine Erdbestattung nicht ermöglichen.“, erklärte er ganz fachspezifisch und unglaublich sentimental.
Ich malte mir in meinem Kopf aus, wie Emma in das Krematorium rollen würde. Wie sie von Peterson in den Ofen geschoben würde. Wie Peterson den Ofen anmachen würde und sich die Flammen um Emmas Körper legen würde, wie jede Zelle verbrannt, jedes Haar zu Asche und jeder Knochen in seine Grundbausteine zerlegt werden würde. Am Ende blieb nur dieser triste graue Haufen. Der triste graue Haufen, der einst meine Tochter war, so grau.
Ich musste meinen Gedankengang beenden, als der Assistent, so taufte ich ihn, also Mister Shaw an die Tür klopfte und Mister Peterson verdeutlichte, dass es wieder Zeit für die Arbeit war. Es gab schließlich noch weitere Leichen, die unbedingt aufgeschnitten werden mussten und für die eine Untersuchung angesetzt war.
Ich setzte meine Unterschrift auf das Dokument. Jeder Buchstabe, jede Tinte die ich vergoss, fühlte sich schmerzhaft an. Es fühlte sich ausweglos an, das Schicksal meiner geliebten Tochter war besiegelt. Verbannt. Das sollte ihr Schicksal gewesen sein? Verbrennen im Krematorium? Ich entwickelte einen Hass auf dieses Wort und verlies schließlich, unter einem hastigen Blick von Mister Shaw das pathologische Institut und raste an der Sekretärin vorbei, zurück zu meinem Auto.
Es war bereits fünf Uhr, als ich die Bar der 7th Avenue betrat. Meine Eltern würden um diese Zeit eh noch nicht mit mir rechnen, erst gegen sieben. Ich hatte also genügend Zeit mir ein paar Gläser zu gönnen.
Ich setzte mich auf den roten Lederhocker und blickte nach links. Hier saß keiner, nicht Mal Evelyn. Ich kam mir ganz alleine vor und blendete das typische Gelächter der angetrunkenen Gäste in der hinteren Ecke aus. „Ein Doppelten.“, bat ich den mürrischen Barkeeper, der mir sofort ein Glas gab und auffüllte. Plötzlich und ganz unwillentlich wurde er mir sympathisch, ich hatte das Gefühl, er würde ich verstehen.
Ich spülte das Getränk meinen Rachen runter und stellte das Glas auf dem schwarzen Tresen ab. „Noch einen.“, forderte ich und man gab mir nach. Ich schwenkte das Getränk in meiner Hand hin und her, lies es an den Rand kommen und wieder zurück auf die normale Höhe gleiten. Meine Augen suchten in der Bar etwas Interessantes, was mich hätte ablenken können. Mein Blick wich hastig von Ecke zu Ecke, bis er an die Decke stieß und ich mir die Lampen genauer ansah.
„Sie haben die Glühbirnen ausgewechselt.“, bemerkte ich und bekam nur ein dumpfes. „Mhm.“ als Antwort.
Ich drehte meinen Rücken zur Bar und spielte weiter mit meinem Getränk, ehe ich tastenartige Töne des entsprechenden Instrumentes vernahm und jeden einzelnen, wie ein Schwamm es tut, in mich aufsog. Jemand spielte eine Tonleiter und wiederholte immer die selben Töne, bis er zu einer hinreißenden Melodie kam und mit seiner Mundharmonika dazu spielte.
Ich hatte diesen Flügel noch nie bemerkt, stand er schon immer hier? Es fühlte sich so heimisch an, diese Klänge, der Gesang, als wäre es nie weggewesen, als wäre er hier geboren.
Der Mann sang und das, was er sprach, passte perfekt zur Atmosphäre. Die restlichen Leute im Lokal beachteten ihn nicht. Diesen, etwas dickbäuchigen, braunhaarigen Mann. Doch ich schenkte ihm meine ganze Aufmerksamkeit und schwang meinen Kopf zur Musik mit.
‚Sing us a song, you're the piano man.‘ wiederholte ich seinen Refrain, als ob ich zu ihm flüstern würde und ihm Mut machen wollte. Sein Gesang wurde im zweiten Teil seiner Strophen lauter, als würde er etwas verdeutlichen wollen.
Wieder spielte er die selben Töne, doch es störte nicht. Wieder setzte seine Mundharmonika ein, und es passte.
Er schrie schon fast ins Mikrophon und ich hob mein Glas und verdeutlichte ihm ein ‚Prost‘, als er ‚But it's better than drinkin' alone‘ sang und sich damit ein Platz in meinem Herzen sicherte.
Er hämmerte in die Tasten und schrie: ‚And the piano, it sounds like a carnival‘ und sang dazu mit einem freien, bewusst - geschehenen ‚Lalala‘. Beim letzten Refrain spürte ich die Energie des Liedes, entfesselte meine Stimme und schüttete mir mein Getränk in den Rachen, als er schließlich zum Ende kam und die selben Töne wiederholte, die er am Anfang spielte. Jedoch leise und beruhigend.
Er klappte den Flügel zu und kam langsam auf mich zu. Still setzte er sich neben mich und legte lässig seinen Arm auf den Tresen des Barkeepers ab, ich drehte mich zu ihm.
„Ich bin Bill.“, sagte er etwas verlegen und lächelte mich an, ehe sein Blick zurück auf den Boden huschte und ich sein Lächeln erwiderte. Ich sagte nichts, bis er sich einen Cognac bestellte und ich ihm antwortete.
„Danke für das Lied.“, sagte ich als wär es unser letztes Treffen und es ein Geheimnis bleiben sollte, wer ich war. Ich kramte in meinem Portemonnaie und legte den lila Schein auf den Tresen.
„Sie gehen schon?“, fragte er mich, als wollte er, dass ich blieb.
„Its better than drinkin’ alone.“, wiederholte ich seine Worte, lächelte ihn an und schlenderte aus der Tür hinaus.
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