E L F
Der dichte Nebel, der nur von einigen leichten Sonnenstrahlen durchzogen war, senkte sich sanft auf die Erde unter meinen Füßen. Das nasse Gras kitzelte meine nackten Beine und der alte Baum, jener, der neben mir seine Pracht entfaltete, spendete mir Geborgenheit. Es müsste gegen fünf Uhr morgens gewesen sein, als ich wieder anfing, das Leben zu spüren.
Ich starrte unkontrolliert und starr gerade aus, während ich meinen Gefühlen keine Grenzen bat. Träne für Träne kullerte meine Wange hinunter und ich wollte die letzten Tage und Geschehnisse endgültig hinter mir lassen. Ich versuchte zu entspannen, ich versuchte alles auf mich zu kommen zu lassen. Meine Atmung kontrollierte sich langsam und mit meinem zittrigen Körper versuchte ich mich an einer Yoga Übung. Meine Füße streckte ich, meine Arme hob ich und meinen Körper senkte ich.
Langsam, aber mit voller Entschlossenheit verschwand der Nebel und die güldene, leicht orangefarbige Sonne schien mir ins Gesicht. Inzwischen saß ich auf dem Boden und presste meine Hände, vor meinen Körper, dicht aneinander. Für einen kurzen Augenblick schien sich meine Welt in etwas tolles, etwas unendlich, unglaubliches verwandeln. Für einen Augenblick ließ ich alles vergessen, ließ ich den Schmerz um Emma vergessen, ließ die Sorge um das Sorgerecht vergessen und ließ die Welt um mich herum stillstehen. Ich erinnerte mich an den gestrigen Tag und an das Gespräch mit Alice. Ich überlegte genau. Sie hatte damals einen Fall verloren, den einzigen in ihrer Anwaltskarriere, ihre Stimme wurde ganz tief bei diesem Gedanken. Es handelte sich um eine gewisse Lancaster, deren Kind auch verstorben war. Aber hätte Frau Lancaster Alice wirklich angelogen? Ich überlegte noch weiter und kam langsam zum Entschluss, dass ich mich nach ihr erkundigen sollte. Auch die Gedanken, die meinen mussten, dass es sich hierbei wirklich um eine verrückte Kindermörderin handeln konnte, ließ ich auf mich einwirken.
Ohne ein Geräusch zu verursachen verließ ich den stillen Ort um gemütlich zu meinem Haus zu gehen. Ich streifte mit meinen Füßen wieder, durch das mit Tau bedeckte Gras und hielt meine Sandalen in den Händen. Mein weißes Top und meine hochgekrempelte Hose spendeten mir etwas Schutz, während ich durch die hohen Bäume streifte. Rechts von mir lag der Jacobssee und funkelte im Sonnenlicht, ehe ich wieder an Emma dachte, den Gedanken aber verdrängte.
Ich fand mich an meinem Computer wieder, wo ich Kaffee schlürfend saß und das große „world wide web“ nach ‚Fall Kathy Lancaster‘ unbarmherzig durchsuchte. Vor mir erschien eine Fülle von Zeitungsartikeln, Bildern und sogar Videos. Unsicher klickte ich auf eine Aufzeichnung und eine Reporterin des BBC erschien vor mir. Ihre blonden langen Haare ließen mich wieder an meine Arbeit und die damit verbundenen Sekretärinnen denken. Ich blickte wieder auf die Genesungswünsche und sah den spärlichen Brief meiner Vorgesetzten. Mit einem angewiderten Blick erinnerte ich mich an die Situation, wo mich mein Chef zur Sau gemacht hat. Es ist zwar makaber, aber jetzt habe ich meinen Urlaub.
Ich klickte auf Replay um das Video erneut zu sehen, ich konnte es kaum fassen. Es tat sich wieder die blonde Reporterin auf und sprach im selben Tonfall die selben Worte. Im Hintergrund sah ich, wie eine schwarzhaarige Frau mit weißer Hautfarbe, in Handschellen voranging und hinter ihr Alice. Die Reporterin wollte, wie so viele andere auch, mit einen von beiden sprechen und stichelte sie an. „Mrs. Claire, wie können sie eine Kindermörderin vertreten?“, sprach sie in ihr Mikro.
Kurz bevor Alice und Mrs. Lancaster in das Justizgebäude treten wollten, kamen wieder mehrere Reporter auf sie zu und bequatschten sie. „Glauben sie, dass sie den Fall gewinnen, Mrs. Curtis?“, „Was haben sie mit ihrer Tochter gemacht, Mrs. Lancaster?“, „Mrs. Lancaster, sind sie eine Kindermörderin?“ und auch die letzte Frage hatte die Kamera mit Bild und Ton aufgefasst: „Schadet das nicht ihrer Karriere, Mrs. Curtis?“
Bei dieser letzten Frage drehte sich Alice gelassen um, nahm sich ein Mikrofon mit einem blauen Kästchen und schob ihre Brille wieder auf die Nase. „Ich kann es nicht fassen, was man mir hier an den Kopf wirft. Schämen sie sich nicht? Wenn ich sie sehe, wie sie verzweifelt nach Vorwürfen und neuen Schlagzeilen suchen, dann schadet das wohl eher ihrer Karriere.“, stumm verließ sie den Vorplatz. Ich drückte auf zwei Balken, die das Video stoppten.
Ich drehte mich wieder zum Video zurück, nachdem ich mir kurz Zeit für mich selbst gegeben hatte. Wenn ich ehrlich bin, konnte ich nicht glauben, wie erbarmungslos Journalisten heutzutage waren, ich konnte es nicht wahrhaben. Ich überlegte, ob diese gefräßigen Geier auch bei meiner Verhandlung so herumlungern würden. Diesen Gedanken verwarf ich schnell, denn darüber wollte ich nicht nachdenken und mir ein genaueres Bild vorstellen.
Ich klickte auf das Dreieck und die Aufzeichnung wurde fortgesetzt. Es gab einen schwarzen Cut und in der nächsten Szene sah man, wie Alice und ihre Mandantin aus dem sandsteinfarbenen Gebäude kamen und die Reporter ignorierten. Nach kurzer Zeit trat Alice, die in ihrem fabelhaften blauen Anzug und weißem Hemd zur Verhandlung kam, erneut an ein Mikrofon, dies war diesmal rot. „Ich sage es ihnen nicht noch einmal, ich verklage sie.“, diesmal war ihre Ansprache weniger Nervenberaubend, als die davorige. Im Hintergrund sah man, den Kopf senkend, Mrs. Lancaster, die in ein Wagen stieg und davon fuhr.
Mein Drang Mrs. Lancaster ausfindig zu machen, wuchs. Ich musste erfahren, was passiert ist. Meine Gedanken kochten und verliefen im Sand. Sie waren auf Hochleistung und verschwanden wieder, der perfekte Zeitpunkt für noch einen Kaffee.
Während ich in meiner Küche auf meinen Kaffee wartete, dachte ich an Alice. Sollte ich ihr sagen, dass ich mich auf die Suche nach Mrs. Lancaster begab? Das klang schon wieder so beschlossen, noch wusste ich es ja noch gar nicht. Aber was wäre wenn? Sollte ich ihr sagen, dass ich an ihren Fähigkeiten zweifeln würde? Andererseits würde ich ihr vielleicht so auch zeigen, dass sie doch noch keinen Fall verloren hat, sollte rauskommen, dass Mrs. Lancaster unschuldig war.
Mit der Hand in der Hüfte und in der anderen die bunte Kaffeetasse, blickte ich auf unsere Kühlschranktür. Nach Emmas Tod hatte ich mir ein Bild von ihr angeklebt, um sie nicht zu vergessen. Die Gedanken an meine Erstgeborene quälen mich immernoch, aber ich kann nichts mehr dagegen tun, dass wusste ich. Mittlerweile dachte ich auch, dass ich irgendwann wieder lachen und bewusst lächeln konnte, es war mir nicht mehr so fremd, wie an jenem Tag.
„Hi Alice.“, sprach ich in mein graues Telefon mit den Gummiknöpfen und den abgeblätterten Ziffern.
„Hey Grace. Entschuldige wegen gestern, da ist wohl etwas mit mir durch gegangen.“, am anderen Ende der Leitung bemerkte ich schuldbewusste Geräusche. Alice spielte mit ihrer Kette, was sie immer Tat, wenn sie sich schuldbewusst fühlte. Selbiges sah man auch im Video. Das Geräusch der klimpernden Kette war einmalig, etwas stumpf aber gleichzeitig auch etwas hohes. Das Geräusch würde ich unter tausenden wieder erkennen.
„Kein Problem“, sagte ich und rieb mit meinen Füßen nervös auf dem Boden. Das Bein schwenkte ich dabei immer hin und her. „Ich wollte dir nur sagen, dass ich gerne mit Mrs. Lancaster sprechen würde. Kannst du mir sagen, wo ich sie finde?“, das Gespräch verstummte, Alice wurde ganz still.
„Wandsworth Gefängnis. Südwestlich von London.“, sprach sie kalt und erwartete eine Antwort.
„Ich will dir nicht verdeutlichen, dass du einen Fall verloren hast!“, sprach ich eindringlich, damit sie mich nicht missverstehen konnte. „Ich will viel mehr beweisen, dass du eine gute Anwältin bist und das ich Recht habe.“, erklärend beendete ich meinen Satz.
„Und jetzt?“, fragte mich Alice nach einer gefühlten Ewigkeit.
„Magst du vielleicht mitkommen?“, fragte ich interessiert und hoffte auf eine Zusage. Das Gegenteil war die Folge. Alice sagte ab, wünschte mir jedoch viel Glück und Erfolg bei meiner Suche.
Nachdem ich mich dazu durchgerungen hatte, Mrs. Lancaster doch einen Besuch abzustatten, vorallem um Alice zu beweisen, dass ich Recht und dass sie noch nie einen Fall verloren hatte, stieg ich ins Auto, wobei mein Blick auf den Sitz hinter mir schwenkte. Der Kindersitz von Eva blieb leer, ungewöhnlich. Nach genauerem Überdenken, vielleicht doch ganz sinnvoll, dass sie den Stress nicht mitbekam Eva war über die Tage freigestellt und zu meinen Eltern gefahren, jene hoffte ich, konnten sie ablenken.
Ich startete den rauchig - klingenden Motor und wartete auf das Piepen meines Wagen, welches durch das ‚nicht-angeschnallt-sein‘ ausgelöst wurde. Der schrille Ton erklang und imaginär lachte ich ihn sarkastisch aus, während ich den Gurt, der mich vor einen Unfall schützen sollte, in den dafür vorgesehenen Schlitz steckte. Mein Finger glitt zum schwarzen Schalter für das Radio und ich fuhr langsam aus der geflasterten Einfahrt.
Laut sang ich den Text von Bruno Mars mit, wie er in einer dieser Autowerbung jener Zeit gespielt wurde. ‚Lookin‘ out heaven’ schrie ich schon fast. Dies war der Zeitpunkt für mich, dann doch die Musik auszustellen und mich vollends auf die Fahrbahn zu konzentrieren.
Ich durchquerte die Innenstadt von London. Ich durchquerte fast 2000 Jahre Geschichte. In meinem Kopf malte ich mir aus, wie auf der anderen Seite der Themse die ersten Römer ihre Siedlung aufstellten und sie Londinium nannten. Jener Name erinnerte mich wiederum an das Chemische Element Lithium, was dem gesamten Sachverhalt eine gewisse Verwirrtheit in meinem Kopf hervorrief. Völlig unkonzentriert schüttelte ich meinen Kopf kurzzeitig, um mich wieder auf den Ernst der Lage zu konzentrieren. Mit meinen schwitzenden Händen umfasste ich nervös das ledernde Lenkrad, wobei meine Finger sich schon fast verkrampften.
Ich hielt an einer roten Ampel und Griff zu meinem Getränk, streifte mir dabei meine Haare hinter mein Ohr und trat wieder kräftig aufs Gaspedal, bevor ich meinen Tee an die Seite stellte. Staunend sah ich rechts aus meinem Fenster, als ich am London Eye vorbeifuhr und das Riesenrad beobachtete, wie es sich immer weiter drehte. Es verlief ohne zu zögern immer in die selbe Richtung und hielt immer in den selben Abständen an. Ich bezog mein Leben auf dieses Riesenrad und stellte so einen Zusammenhang her. Mein Leben wird wohl auch weitergehen, dachte ich. Auch wenn Emma gestorben war, würde ich nicht aufgeben. Der Gedanke kam mir immer realistischer vor, ohne dass ich mich dabei schlecht fühlte. Ich verstand, so trostlos es auch klingen mag, langsam aber sicher, den Sinn des Lebens. Denn, der Sinn des Lebens besteht darin, sich einen Sinn für sich selbst zu suchen. Der Tod von Emma, meiner erstgeborenen Tochter, schien vielleicht unfair und als ein Ding der Unmöglichkeit, aber dennoch werde ich kämpfen. Ich werde sie in meinen Gedanken bewahren, Eva wird das auch tun. Wir werden sie in unseren Herzen weiter tragen, denn Emma lebt in uns beiden weiter. Emma lebt in all den Dingen weiter, die sie liebte.
Meine poetische Denkweise wurde weitestgehend unterbrochen, als die nächste Ampel wieder grün aufleuchtete und ich ungestört weiter fahren konnte. Im Berufsverkehr von London, so würde ein Buch heißen, wenn ich schreiben würde, malte ich mir aus. Plötzlich sah ich, am weitentfernten Horizont, die groben Umrisse des steinernden, mittelalterlich - geprägten Wandsworth Gefängnisses. Ich runzelte die Stirn. Konnten da wirklich noch Menschen eingesperrt sein? Lebend, versteht sich natürlich. Das Gebäude sah aus, als würde es aus der Zeit der Römer selber kommen. Die schwarzen Backsteine bilden einen erkennbaren Kontrast zu den vergitterten Fenstern und den weißen Flaggen mit den roten Kreuzen.
Ich bog links in die Seitenstraße ab und fuhr durch die alten, gepflasterten Straßen von London. An den Wänden der, fast zerfallenen Häuser, befanden sich herunterhängende Rosen und andere Blumen, erkannte ich. Mein Sitz bebte, ebenso meine Wenigkeit, als ich rollend auf die geteerte Hauptstraße fuhr. Ich spürte, wie mein Sportwagen es mir dankte.
„Ich würde gerne mit Mrs. Lancaster sprechen.“, sprach ich etwas verunsichert den gelangweilten Gefängnisaufseher an. Seine blau - weiße Kleidung widerspiegelte sich in seinem Gesicht. Er sah etwas nach ‚Schlumpf‘ aus. Darauf wollte ich aber nicht weiter eingehen, da mich das nur wieder irritiert hätte.
„Haben sie denn einen Termin?“, missmutig starrte mich der Mann mit der blauen Haut und dem gleichfarbigem Anzug lustlos an. Wohl wusste er bereits über seine Lage bescheid und schämte sich nicht dafür.
Ich übergab Mr. Force, wie der ‚blaue Mann‘ hieß, wie sich später herausstellte, einen kleinen weißen Zettel und wartete auf seine Reaktion. Ich zerrieb mir vor Nervosität mein weißes T-Shirt an meinen zwei Fingern.
„30 45 96 M, ja?“, fragte mich Mr. Force, der hinter einer Glasscheibe saß und seine Brille, die er sich zum lesen aufsaß, auf seine Nase schob. Er sprach die Zahlen als Zehner aus und wartete auf meine Reaktion, ehe ich nach einer abwesenden Denkerpause zustimmte.
„Keine Sorge,“, begann der Gefängnisaufseher zu sprechen und betrachtete dabei meine Finger an meinem T-Shirt. „Mrs. Lancaster hat dem Termin zugestimmt und Sie wartet bereits. Zimmer drei bitte. Ich werde Sie begleiten.“ Mr. Force stand vor der etwas dreckigen Glaswand auf und kam mir entnervt entgegen, drückte die Tür zu seinem Sicherheitsbereich auf und zeigte mir den Weg.
Am Ende des langen, hellen und mit weißen Fliesen an der Wand befestigten Flures, kamen wir an eine große helle Tür, die nur durch den Schlüssel von ihm aufgemacht werden konnte. Langsam und ohne jeden Zeitdruck schob er seinen silbernen Schlüssel in das Schloss, jenes ‚knackste‘ einmal, öffnete sich jedoch schließlich ohne einen weiteren Ton von sich zu geben.
„Da wären wir.“, sagte mein Begleiter und wartete auf eine entlastende Antwort. Wohl wollte er endlich zurück an seinen Schreibtisch um sich irgendwelche pornographischen Inhalte herunterzulassen oder anzusehen, so sah er zumindest aus.
„Zimmer drei ist jetzt wo?“, fragte ich nochmal, um ihn etwas zu veralbern. Ich verzog mein Gesicht, um es Mr. Force glaubwürdig vorzuspielen.
„Na da!“, zum ersten Mal bewegte er energisch ein Körperteil, um genau zu sein, sein Zeigefinger und deutete auf eine große schwarze drei, über einer vergitterten Tür. „Kann ich sie jetzt alleine lassen oder brauchen Sie nochmal Hilfe?“, der Gefängniswärter verfiel wieder in seine monotone Tonlage.
„Nein, nein. Aber danke für ihr Angebot.“, entgegnete ich und verabschiedet mich, indem ich durch die große Tür schritt, die eher einer Barrikade ähnelte.
„Wenn sie fertig sind,“, begann er. „drücken sie bitte auf diesen roten Schalter. Dieser ruft mich und ich werde sie abholen.“ Er deutete nochmal auf den weißen Schriftzug ‚Abholung‘ und verließ mich schließlich ganz. Spätestens als die weiße Tür laut ins Schloss viel, wurde mir etwas unbehaglich. Ich konnte nicht glauben, dass ein einziger Polizist, welcher auch noch wie ein Schlumpf aussah und in einer bemerkenswerten monotonen Sprache redete, alleine ein uraltes Gefängnis, welches bis 1961 Menschen hingerichtet hatte, leiten konnte. Ich stellte mir vor, wie plötzlich und ohne jene Vorwarnung Gefangene aus den Räumen kamen und sonst was mit mir anstellten.
Erst als ich an dem ersten Besprechungsraum vorbei lief, viel mir auf, dass in jedem einzelnen Raum weitere Polizisten, kann man sie so nennen?, standen und mit einem starren Blick nach draußen guckten. Wie mir Mr. Force gesagt hatte, lief ich zum Raum mit der großen drei und atmete einmal tief ein und aus. Das ganze wiederholte ich viermal, bis ich mich endgültig entschlossen hatte, die silberne Klinke hinunter zu drücken. Mein Herz pulsierte und schlug mir bis in den Hals. Für einen kurzen Moment war mir, als würde ich mich drehen und gleich auf den Boden fallen. Ich zog die Tür auf und mein Körper hüllte sich in einen unangenehmen, stechenden Geruch, automatisch verzog ich mein Gesicht.
„Furchtbarer Geruch, nicht?“, fragte mich eine raue Frauenstimme. Erst jetzt realisierte ich die Person, die in orangefarbenen Sachen vor mir saß. Ihre schwarz gelockten Haare gingen bis zum Kopfende, Schminke hatte Sie nicht aufgetragen. Der Wärter hinter ihr, schenkte Mrs. Lancaster keine Aufmerksamkeit.
„Haha, ja.“, sagte ich unsicher und ungewohnt in diese Situation hineinversetzt. Ich ging auf den breiten Tisch zu und streckte meine Hand gegen Mrs. Lancaster aus um ihr ein freundliches ‚Hallo‘ zu symbolisieren. „Mein Name ist Grace Bonney.“, stellte ich mich etwas unsicher vor und wartete auf eine positive Reaktion, während ich mich auf den Stuhl, direkt gegenüber der Gefangenen, setzte. „Schön sie kennenzulernen.“
„Sofie Lancaster, aber den Namen müssten sie eigentlich bereits kennen.“, erwiderte sie etwas kalt und abweisend. Doch ich lies mich nicht entmutigen, ich hatte mein Ziel direkt vor meinen Augen. „Wissen sie,“, begann sie plötzlich. „ich wollte sie erst nicht sehen. Das gebe ich zu.“, ich zuckte etwas zurück. „Ich hätte sie hier herfahren lassen und dann abgesagt.“, erschrocken zog ich meine Augenbrauen kurze Zeit nach oben, wartete aber noch ab, bevor ich meine vernichtende Meinung geäußert hätte. „Aber,“, sprach sie dann weiter. „Ich habe es nicht gemacht.“
Die unausweichliche Frage brannte mir auf meiner Zunge. „Und warum haben sie es dann getan?“, neugierig wollte ich die Details wissen. Ich malte mir aus, dass sie doch ein ganz netter Mensch ist und an die unendliche Unschuld eines jenen Individuums glaubt.
„Alice hat mich angerufen.“, alle meine Gedanken erloschen bei diesem Satz. Wie eine flackernde Kerze im brausenden Wind, war nun mein Kopf, welcher noch mit mit allerhand Krimskrams vollgestellt war, wie leer gefegt und alle meine Antworten hatten sich einfach so aus dem Staub gemacht. „Finden sie wohl erstaunlich, was?“, Mrs. Lancaster sprach mit einer Gleichgültigkeit, die ich noch nie zuvor gehört hatte. Es schien mir, als hätte sie jeglichen Lebenswillen aufgegeben und kein Ziel mehr, worum sie hätte kämpfen können.
„Ich verstehe nicht.“, fing ich beinahe an zu stottern. Mit meinen Augen musterte ich ihr unebenes Gesicht. Sofie Lancaster sah alt aus. In meinem Kopf widerspiegelten sich die eingehämmerten Bilder einer Kindermörderin und mit Gewissensbissen versuchte ich jene Gedanken zu überspielen. Das Gesicht von Sofie war von tiefen Falten, Augenringen und sogar einer hellen Narbe auf der rechten Wange gezeichnet. Ich erinnerte mich an die Videoaufnahmen, die ich mir zu Hause stillschweigend angesehen hatte und verglich sie nun innerlich. Sofies alter Charme, von blutroten Lippen, perfekt geschminktem Gesicht, schwarzen Haaren und glänzendem Schmuck war abhanden gekommen und durch dieses alte, trübe Gesicht ersetzt worden.
„Alice hat mich halt angerufen.“, sie lehnte sich wie ein Kneipengänger ganz lässig an ihre Stuhllehne und beobachtete mich. In diesem Moment wäre ich wohl am liebsten im Erdboden versunken. „Sie meinte, dass ich einen äußerst hilfreichen und netten Besuch bekommen würde.“
„Moment.“, stoppte ich ihren ‚beinahe Monolog‘. „Hatte man ihnen nicht früher Bescheid gesagt, dass ich kommen würde?“, fragte ich und ging nochmal den gesamten heutigen Tagesablauf hintereinander durch. Ich hatte Alice angerufen, so gegen zwölf Uhr. Danach hatte ich mich sofort hier gemeldet und einen Termin festgelegt.
„Nein.“, beendete sie meine Gedankenreise in den heutigen Vormittag. „Aber das ist immer so, machen sie sich da bloß keine Schuldgefühle.“, Sofie kam etwas näher und der Wärter räusperte, ehe sie sich wieder lässig auf ihren Stuhl fielen lies. Beim genauen beobachten ihrer Mimik und Gestik kam sie mir immer mehr vor, wie ein Mann. Ich schmunzelte, gleichzeitig erzitterte ich vor der Realität.
„Kann ich sie was fragen?“, etwas kleinlich begann ich ein anderes Thema. Es war genau das Thema, weswegen ich eigentlich hergekommen war. „Wegen ihrer Tochter.“, fügte ich noch schnell hinten dran, damit keine Missverständnisse aufkommen konnten.
„Na dann fangen sie mal an.“, spielerisch legte Mrs. Lancaster ihren Kopf auf ihre, ineinander verhakten, Hände und schaute mich gespielt freudig an. Ich erkannte ihr sarkastisches Lächeln an ihren Lippen, das ist ein bemerkenswertes Merkmal. Sofie spitzte ihre Lippen unnatürlich nach vorne, was sie im gesamten Gespräch noch nicht getan hatte. Ich merkte, wie unwohl sie sich fühlte, was auch verständlich war. Ich war kurz davor ‚Wenn sie nicht wollen, dann gehe ich wieder‘ sagen, doch dann dachte ich nur eine Sekunde an mich und überlegte, wie ich meinen Gedanken am besten Aussprechen konnte.
„Ich weiß nicht, ob es Alice ihnen erzählt hat.“, sagte ich, bevor mich Sofie unterbrach und mich bei meinen Gedanken störte.
„Ach, Alice hat mir so einiges erzählt.“, ihre Augen täuschten Interesse an meinem Leben und meiner Geschichte vor. Ihre Augenbrauen zog sie ein wenig zusammen.
„Ich verstehe wie sie sich fühlen.“, begann ich erneut, wurde allerdings wieder von der rauchigen und nun im bösen Tonfall klingenden, Stimme unterbrochen. So langsam nervte mich dieses ständige stoppen meiner Gedankengänge. Ich war nicht Schuld daran, dass sie hier saß. Ich tat alles dafür, dass sie sich in meine und ich mich in ihre Lage versetzen konnte, da kann sie mich ruhig zu Wort kommen lassen.
„Sie verstehen gar nichts.“, Sofie haute mit ihrer geballten Faust auf den Tisch und sah mir tief in meine Augen. Ihre braunen Pupillen musterten mich von Kopf bis zu meinem Fußende und wohl wartete ich darauf, dass sie was sagte. „Sitzen sie im Gefängnis?“, warf sie mir zornig an den Kopf und starrte mich wieder an. „Haben sie ihre Tochter verloren?“
Vollkommen von mir selbst überzeugt schlug ich ebenfalls auf den Tisch und tadelte mit meinem Finger. „Jetzt hören sie mir Mal zu, ja?“, ich spürte, wie meine Stimme unbemerkt lauter wurde und ich mich nur schwer beherrschen konnte. „Ich versuche sie aus diesem, Entschuldigung, Dreckloch zu retten. Verstanden?“, meine Stimme wurde immer energischer und eindringlicher, ehe ich weiter sprach. „Alice hilft mir schon nicht, also muss ich diesen Scheiß wohl ganz alleine machen. Toll was?“, in meinem Kopf bildete ich eine Zusammenkunft gegenüber dem Leben von Sofie und dem von mir. „Es hilft mir nicht besonders, wenn sie mich immer unterbrechen und so tun, als ob sie das größte Opfer der Nation wären. Schauen sie sich doch mal an. Ihre Tochter ist gestorben und was machen sie? Denken nur an sich selbst und lassen nichts auf sie zukommen, wollen sie überhaupt Hilfe?.“, ich wurde langsam ruhiger und kam zum Höhepunkt. „Und ja, meine Tochter ist auch gestorben. Ich bin nur wegen ihr hier und wollte Hilfe haben, um zu beweisen, dass sie ermordet wurde. Aber anscheinend können und wollen sie das nicht. Auf Wiedersehen.“, wütend stand ich vom Tisch auf, blickte nocheinmal längs über meine Schulter um ihr verzerrtes Gesicht zu betrachten und riss schlussendlich die Tür auf.
Energisch ging ich den weiß - gefliesten Flur entlang, drückte häufiger auf ‚Abholung‘, als mir eigentlich lieb war und wurde nach fünf Minuten von Mr. Force abgeholt, der mich zurück zum Eingang und damit zurück in die Realität brachte. „Dankeschön.“, enttäuscht und vorwurfsvoll ging ich schnellen Schrittes zu meinem Wagen und wollte gerade einsteigen, als mein Handy einen schrillen Ton von sich gab.
„Ja?“, fragte ich um das andere Ende der Leitung ausfindig zu machen. Ich war nicht in Stimmung zu telefonieren.
„Grace? Ich bins, Alice.“, sagte meine Anwältin. Ich hätte niemals damit gerechnet, dass sie mich heute nochmal anrufen und mit mir reden würde. „Du darfst morgen zu Emma.“
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