1. Kapitel
Amelie betrachtete den immer dunkler werdenden Himmel. Nicht mehr lange und die Vampire würden aus den Katakomben treten und ihrer sogenannten Arbeit nachgehen. Das hieß, sie würden wieder den Mondjägern zur Hand gehen und Unterweltbewohner, die nicht nach den Regeln spielten, die ihre Eltern aufgestellt hatten, wieder in ihre Ebene zu schicken.
Leise seufzte sie. Zu gerne hätte sie ihre Eltern begleitet. Oder ihren Onkel Magic. Aber sie musste zu Hause bleiben. Wie jeden Abend würde Duncan bei ihr sitzen und ihr die ganze Nacht zuschauen, wie sie für ihr Medizinstudium lernte. Er ging ihr so auf die Nerven.
Duncan sah sich eigentlich als Leibgarde ihrer Mutter, aber schon allein der Gedanke daran, dass ihre Mutter einen Beschützer benötigte, war so lachhaft, dass Amelie schon anfing zu grinsen, wenn sie nur daran dachte. Amelies Mutter Ava war wie ihr Vater Jason eine neue Generation von Unterweltbewohnern, auch wenn sie beide selbst sich nicht so oft in der Unterwelt aufhielten. Diese kleine Kirche, beziehungsweise die Katakomben unterhalb der Kirche, waren ihr Zuhause.
Sie holte eine Schachtel Zigaretten hervor und zündete sich eine Zigarette an. Langsam blies sie den Rauch aus und lehnte sich zurück gegen die Schindeln.
Wie fast jedem Abend hatte sie sich auf das Kirchendach zurückgezogen. Irgendwie fand sie hier die nötige Ruhe, die sie in den Katakomben manchmal vermisste. Dort war immer etwas los. Seit ihre Mutter angefangen hatte, Waisenkinder regelrecht zu sammeln, wurde es in den Katakomben nie einen Moment leise. Außer wenn sie alle zur Jagd gingen und die Kinder ins Pfarrhaus zu den Menschen gebracht wurden, die schon seit Jahren den Vampiren zu Dienste waren. Aber dann war da eben Duncan bei ihr. Er war nun wirklich ruhig. Zu ruhig für Amelies Geschmack. Fast zwei Meter groß und von der Statur her fast so kräftig, wie ihr Vater, war er beeindruckend, aber leider eben sehr ruhig. Er sprach kaum einen Satz mit ihr und wenn doch, waren es nur Vorhaltungen oder Ermahnungen. Sie hasste das. Aber ihre Mutter war der Meinung, dass Duncan ein ruhiger Pol zu Amelie bilden würde.
Amelie musste selbst zugeben, dass sie nicht der ruhigste Mensch war. Flynn O'Connelly, der Arzt des Vampirclans, hatte schon früh festgestellt, dass Amelie unter ADHS litt, die Folge des Drogenkonsums ihrer richtigen Mutter während der Schwangerschaft.
Nein, ihre jetzigen Eltern hatten es nie leicht mit ihr gehabt. Erst hatten sie ihren Entzug mitmachen müssen. Daran konnte sich Amelie nicht mehr erinnern, aber Kian, auch ein Mitglied der Leibgarde, hatte ihr es einmal erzählt, wie ihre Eltern stundenlang an ihrem Bett gesessen waren, um ihr bei zu stehen, wenn sie zu große Schmerzen litt.
Als Kind selbst war Amelie auch nicht einfach gewesen. Immer wieder bekam sie heftige Wutausbrüche, die auch eine Folge des Drogenmissbrauchs der Frau waren, die sie geboren hatte. Nur ihr Vater konnte sie meist beruhigen und er tat es mit so viel Geduld und Liebe, wie man einem Mann wie ihm vom Aussehen her gar nicht zutrauen würde. Denn ihr Dad sah eher wie ein Soldat als ein Vater aus.
In den ersten Jahren hatte Amelie mit ihren Eltern in den Katakomben gelebt, doch als sie alt genug für den Kindergarten wurde, holte man sie Abends zur Schlafenszeit immer wieder ins Pfarrhaus, so wie jetzt ihre Geschwister. Aber in den frühen Morgenstunden war sie zu ihren Eltern geschlichen und ins Bett gekrabbelt. Sie hatte diese Stunde geliebt, wenn sie mit ihren Eltern kuscheln konnte. Und wenn sie wieder abgeholt wurde, dann bekam sie meistens einen ihrer berühmten Wutausbrüche. Sie hatte es damals nicht verstanden, dass ihre Eltern so anders waren, wie die Eltern der anderen Kinder. Nie wurde sie von ihrer Mutter zur Schule gebracht. Nie hatten ihre Eltern mit ihr gemeinsam am Tisch gesessen und gegessen. Ihre Mutter hatte zwar für sie gekocht, aber nie etwas davon essen können.
Irgendwann hatte Amelie aber verstanden was ihre Eltern waren und warum sie nichts von ihnen erzählen durfte. Wenn man sie nach dem Beruf ihres Vaters fragte, dann hatte Amelie immer geantwortet, dass er Diplomat sei. Was im Prinzip ja auch stimmte. Nur eben nicht für Länder, sondern für die Unterwelt.
Wieder nahm sie einen tiefen Zug, als auf einmal eine Hand in ihr Blickfeld kam und ihr die Zigarette wegnahm.
„Du weißt aber schon, dass Zigaretten gesundheitsschädlich sind, oder?"
Ihr Vater grinste sie liebevoll an und setzte sich neben sie, bevor auch er einen tiefen Zug nahm.
„Du rauchst selbst wie ein Schlot, Dad!"
Er lachte dröhnend.
„Das ist etwas ganz anderes, Liebes! Ich bin ja schon tot. Aber du bist ein Mensch und außerdem eine Medizinstudentin. Dir müsste ich so etwas eigentlich nicht sagen müssen."
Amelie verdrehte genervt die Augen.
„Du könntest es leicht ändern, Dad!"
Jason seufzte.
„Nicht schon wieder dieses Thema, Amelie. Ich habe dir gesagt, dass ich dich nicht uns angleichen werde. Nicht bevor du zumindest das Medizinstudium beendet hast. Und auch dann werde ich kaum bereit dazu sein."
Amelie lehnte sich wieder zurück.
„Das ist unfair, Dad! Wenn du nichts dagegen unternimmst, siehst du bald jünger aus als ich! Du gehst schon jetzt nicht mehr als mein Vater durch!"
Er zuckte mit den Schultern.
„Dann stell mich halt als deinen Lover vor!"
Sie verzog angeekelt das Gesicht.
„Das ist krank, Dad! Krank und ekelhaft!"
Er lachte wieder dröhnend und strich ihr kurz über das Haar.
„Das ist es... ja! Muss ich leider selbst zugeben. Und Mum würde mir den Kopf abreißen, wenn sie wüsste, dass ich dir so etwas vorgeschlagen habe! Noch mal auf deinen Wunsch zurückkommend, ich habe meine Prinzipien. Ich wandle keine Menschen. Es reicht, dass ich es bei deiner Mum getan habe. Frage doch Mum, wenn du unbedingt ein Vampir sein willst."
Ihre Mutter würde genau dasselbe sagen, dass wusste Amelie. Sie hatte es schon oft genug versucht, aber ihre Eltern weigerten sich, ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Das lag vor allem daran, dass ihr Vater nie ein Vampir werden wollte. Mittlerweile hatte er sich zwar damit abgefunden, aber nur, weil er Ava, ihre Mutter kennen und lieben gelernt hatte. Ihre Mutter hatte zwar eine Wahl gehabt, aber auch sie wollte nicht, dass Amelie sich in einen Vampir wandeln würde.
„Es gibt noch eine andere Möglichkeit und das wisst ihr!"
Jason seufzte tief.
„Mädchen! Auch diese Diskussion haben wir schon so oft geführt. Wir haben es damals abgelehnt als Flynn es uns angeboten hat, um dir den Entzug zu erleichtern. Warum sollten wir jetzt deinen Launen nachgeben und dich zu einem Halbvampir machen?"
Amelie schnaubte unwirsch.
„Dad! Es ist nicht nur eine Laune!"
Jason seufzte leicht und lehnte sich zurück.
„Es ist mir schon klar, dass unser Dasein sehr reizvoll für dich ist, aber es ist nicht so romantisch, wie du es dir immer ausmalst."
Wieder ein Schnauben.
„Dad. Ich bin der einzigste Mensch in unserer Familie. Lucian ist Halbdämon, Devon ist ein Werwolf, Lydia eine Nymphe und Liv ist Halb-Halb!"
Liv war das einzigste leibliche Kind von Ava und Jason. Die beiden hatten nicht damit gerechnet, dass Ava schwanger werden würde, denn technisch gesehen war es eigentlich unmöglich. Irgendwie hatte es Liv aber doch geschafft auf die Welt zu kommen und war wie ihre Elten ein Halbwesen, nur noch nicht so mächtig wie sie. Amelie konnte es auch nicht erklären, wie ein Vampir, auch wenn er ein halber Mondjäger war, ein Kind zeugen konnte, aber es war ihr egal. Sie liebte Liv über alles. Genauso wie ihre andere Geschwister, auch wenn sie Amelie nervten.
Jason seufzte wieder. Er hatte schon so oft mit ihr darüber diskutiert.
„Ich weiß das alles, Liebes. Können wir uns vielleicht darauf einigen, dass du wenigstens dein Studium beendest, bis du dich für ein Dasein ein Unterweltbewohner entscheidest? Ich liebe dich einfach zu sehr, Kind, um dich mit so einer Realität zu konfrontieren zu müssen!"
Amelie wusste, dass sie sich im Moment damit zufrieden geben musste. Wenn sie ihren Vater weiter bedrängen würde, dann konnte sie sicher sein, dass er auf stur stellen würde. Dabei war es schon immer Amelies Traum, sich ihrer Familie endlich anzugleichen. Sie fühlte sich so verdammt hilflos und gerade ihre Brüder erinnerten sie oft genug daran, dass sie ein schwacher Mensch war.
Doch nun war wirklich nicht der Zeitpunkt, um das mit ihren Vater zu diskutieren. Er war immer ein liebevoller Vater gewesen und Amelie wusste, dass er wirklich nur das Beste für sie wollte.
„Okay, Dad! Aber wir unterhalten uns nach dem Studium darüber. Versprochen?"
Jason nickte und drückte ihr einen Kuss auf den Kopf.
„Natürlich, meine Kleine. Ich verspreche es dir und auch deine Mutter wird sich daran halten, wenn ich es ihr erkläre."
Amelie nickte um den Anschein zu erwecken, dass sie mit dieser Antwort zufrieden wäre. War sie aber nicht. Innerlich fluchte sie, aber das würde sie vor ihren Vater nie offen zugeben. Er wusste es auch so, denn er konnte ihre Gedanken lesen, auch wenn er es vermied, dies zu tun.
Jetzt sah er gerade sehr betroffen aus und Amelie wusste, dass er ihre Gedanken sehr wohl gehört hatte. Und die waren nicht gerade nett gewesen.
Schnell lenkte sie ein.
„Du bist aber bestimmt nicht hier hoch gekommen, um mit mir zu diskutieren. Also, was gibt es, Dad?"
Er sah sie noch einmal traurig an, dann verfiel er aber wieder in sein jugendliches Grinsen. Amelie wusste aber, dass es ihn lange beschäftigen würde und das machte sie auch traurig. Sie wollte ihrem Vater keinen Kummer bereiten.
„Duncan sagte mir, dass du ihm heute verboten hast, dich zu begleiten? Ohne einen Grund. Ich will dich nicht kontrollieren, aber Duncan ist so...so...!"
Amelie lachte nun lauthals und wunderte sich, dass sie darin ihren Vater doch ähnlich war.
„Ich weiß, Dad. Er lässt dir keine Ruhe, bis er nicht den Grund dafür weiß! Hätte er mich mal ausreden lassen, dann wüsste er, dass mich heute Onkel Flynn in die Klinik begleitet. Er will dort einen alten Kollegen treffen!"
Ihr Vater hob überrascht eine Augenbraue.
„Joel ist in der Stadt? Warum hat Flynn mir nichts gesagt?"
Amelie zuckte mit der Schulter.
„Vielleicht liegt es daran, dass der Professor nach meinem Dienst mit hier her kommt? Er bleibt wohl eine Weile. Sag mal, stimmt es Dad, dass er schon über achtzig Jahre alt ist?"
Jason rechnete kurz nach.
„Ja, das könnte stimmen. Wieso fragst du?"
Amelie riss erschrocken ihre Augen auf.
„Er sieht aus wie fünfzig! Ist er auch ein Halbwesen?"
Ihr Vater schüttelte den Kopf.
„Nein, Joel war ein Sonnenjäger. Einer der Wenigen, die sich damals auf unsere Seite geschlagen haben. Helios hatte ihm die Wahl gelassen, ob er wieder in einen Mensch verwandelt werden wollte. Joel hat sich für das menschliche Leben entschieden, aber Helios lässt ihm zum Dank für seine Taten langsamer altern. Mann, wenn das deine Mutter erfährt flippt sie aus. Wir haben Joel schon seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen. Naja, wenn man von seinen Interviews und Vorlesungen absieht, die im Fernseher übertragen wurden."
Amelie lächelte ihren Vater an. Sie liebte es, wenn er ausgelassen war. In der letzten Zeit war es leider viel zu selten der Fall.
„Ich bringe den Professor auf jeden Fall mit in die Katakomben. Aber dafür hältst du mir Duncan vom Hals. Nur für heute Abend, Dad."
Jason nickte.
„Ja, natürlich. Heute Abend begleitet dich Flynn. Ich verstehe dich schon, dass du es nicht magst, wenn Duncan dein Schatten ist, aber wir leben in gefährlichen Zeiten."
Amelie hob eine Augenbraue.
„Es ist doch friedlich momentan."
Einen Moment sah er sie ernst an, aber dann lächelte er, als ob ihre Sorgen unbegründet waren, die sie gerade hegte.
„Natürlich, meine kleine Elfe. Es ist alles in Ordnung!"
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