Hausherren
Eine ganze Woche war vergangen. Sieben sehr unspektakuläre Tage, in denen sich die Filmcrew hauptsächlich langweilte und die Darsteller nichts Außergewöhnliches gemacht haben. Weder gab es einen besonderen Zwischenfall, noch sonst irgendein Skandal, der nur im Entferntesten beachtungswert gewesen wäre. Die Drehtage nahmen ihren üblichen, sich ständig wiederholenden Lauf: Aufstehen in aller Früh, ein bisschen im Haus herumfilmen, die Kandidaten aßen hin und wieder, unterhielten sich manches Mal, dann checkten die Filmleute die Technik ab und als sich dann langsam das prägnante Abendrot zeigte, verschwanden sie wieder zurück in ihre wenig komfortablen Zelte. Zweimal war Markus ausgerastet, was vor allem Norbert sehr zu spüren bekam. Es ging dabei einmal wieder um das Essen und beim anderen Mal um einen frechen Kommentar von Norberts Seite, der sich gegen die ständigen Provokationen seines Peinigers zur Wehr setzen wollte und innerlich hoffte, mit einer verbalen Retourkutsche für Ruhe sorgen zu können, doch dem war natürlich nicht so. Dann fanden da die beiden Damen einen weiteren Hinweis, auf dem allerdings nur ein verschwommenes, kaum sichtbares Schwarz-Weiß-Bild des Schalters zu sehen war. Anhand des vage zu erkennenden Hintergrunds versuchten sie herauszufinden, in welcher Umgebung er liegen könnte, aber sie scheiterten an dem Versuch. Das Foto schien gar mit völliger Absicht so miserabel geschossen worden zu sein, damit die Betrachter verwirrt sein würden. Dieses Vorhaben gelang dem Fotografen wohl sehr gut. Auf jeden Fall aber änderten sich diese trivialen Dinge an einem bestimmten Tag, nämlich exakt am Abend des siebten Drehtages, also nach genau einer Woche.
Thomas befand sich mit Gerold und den anderen Ageloin-Mitarbeitern in den Zelten draußen, während die Teilnehmer drinnen verteilt im Haus die Zeit totschlugen. Ein feststehendes Faktum aber war jenes, dass die Nahrungskiste für die Anrainer beinahe zur Gänze aufgebraucht worden war. Zu gierig waren sie gewesen, und so fraßen sie mehr in sich rein, als sie hätten nehmen dürfen oder gebraucht hätten. Lediglich Ernst Marak und überraschenderweise Anton Felder hielten sich diesbezüglich etwas zurück, aber all die anderen behandelten die fette Nahrungskiste so, als würde ihr Vorrat nie erschöpfen oder zu Ende gehen. Allerdings trat dieser Fall am siebten Tage ein, und nun mussten sie sich was überlegen. Eine Strategie, eine Taktik, ein Plan eines Unterfangens musste her, weswegen es vor allem Norbert und Daniel waren, die die meisten anderen Hauseinwohner dazu drängten, sich im Foyer zu versammeln, unweit von der Küche entfernt, in dessen unmittelbarer Nähe auch die entsprechende Kiste stand – die nun nichts weiter als eine Holzkiste mit einigen wenigen Krümeln Brot und Gemüseresten war. Außer Markus, Anton und Peter erschienen seltsamerweise alle zu diesem einberufenen Treffen, das dazu dienen sollte, über das weitere Vorgehen zu beraten. Schließlich war das unbedingt vonnöten.
„Jetzt sind wir fast alle da... Sehr gut", beurteilte Daniel den Sachverhalt, nachdem die Leute eingetroffen waren.
„Sehr schön. Was machen wir jetzt?", fragte Mira aggressiv nach.
Norbert leckte seine Lippe hie und da mal mit der eigenen Zunge, seiner leichten Nervosität wegen: „Da waren wir wohl zu hungrig, was?", er deutete mit dem Finger auf die leere Kiste.
„Ich finde das eigentlich gar nicht witzig, Kollege", Ernst trat hervor und sprach zum ersten Mal direkt mit Norbert, den er bis dato eher ignoriert hatte, und das noch mit einer erzürnt klingenden Stimme. „Das ist pure Idiotie, was ihr hier alle aufgeführt habt. Wie kommt ihr dazu, hm? Die Kiste hätte laut Altmanns Aussage noch vierzehn Tage gereicht, aber ihr verfressenen, verwöhnten Kinder musstet ja nicht so darauf achten... War ja schließlich eh nur unsere einzige Nahrungsquelle... Da seid ihr selbst schuld daran, ich habe keinen Funken Mitleid mit eurer Dummheit. Hätten wir taktisch klug agiert, dann hätten wir von Anfang an gerade so viel gegessen, dass es für den ganzen Monat gereicht hätte. Ich für meinen Teil habe genau das getan. Es hätte sicher über die zwei Wochen hinaus gereicht, wenn's jeder gemacht hätte."
Jetzt aber setzte Mahoud eine ernstere Visage auf und starrte dem Rentner in dessen graue Augen: „Warum hast du das dann nicht gleich gesagt, alter Mann? Du hättest auf uns einhämmern sollen, es uns gefälligst klar machen müssen! Im Nachhinein ist es leicht, sich über was aufzuregen!"
„Und wenn schon! Ich dachte, ihr würdet von selbst drauf kommen! Ich habe nicht gedacht, dass ihr so dumm seid!"
„Eine schwachsinnige Argumentation... Und du schimpfst dich gebildet und weise", ein lauter Seufzer aus Mahouds trockenem Mund.
„Lasst es gut sein!", ging Norbert dazwischen. „Es hat doch keinen Sinn, jetzt zu streiten! Wichtig ist, was wir machen, wie wir vorgehen, was wir angehen werden. Jagen? Draußen schauen, ob es irgendwo Beeren gibt?", er griff sich auf die Stirn. Danach sah er nachdenkend zu Boden. "Ich kenne den Mjasnoi-Bar nicht so gut... Ich kenne ihn eigentlich gar nicht, kein Wunder auch. Aber es muss ja irgendetwas zum Fressen dort geben, oder?"
„Oder wir hungern. Ich denke, ein Mensch kann ein bis zwei Monate ohne Essen überleben. Bis dahin sollte Killswitch längst aus sein", schlug Mahoud unüberlegt vor.
Sein Vorschlag schien so dämlich, dass sich einige Gesichter der Umstehenden mit sofortiger Wirkung verzogen. Keiner wusste so Recht, ob der junge Mann das denn gerade im Spaß meinte oder nicht.
„Ach, das mache ich sicher nicht", verlautbarte Julia. „Ich werde garantiert nicht hungern. Darauf kannst du Gift nehmen!"
Daniel zeigte zum sichtbaren Wasserhahn in der Küche: „Wasser gibt's genug, darüber sollten wir uns keine Sorgen machen. Aber auch ich habe keinen Bock, Hunger zu leiden. Auch wenn's theoretisch möglich ist, solange nichts zu fressen, irgendwann kippt man einfach um. Und im russischen Krankenhaus will ich nicht landen, von dem her..."
Der angehende Ingenieur trat in den Kreis aus Stehenden vor, damit er den anderen etwas erzählen konnte: „Ich war im Keller. Öfters schon. Die Tage waren anstrengend und so extrem lange... Deswegen war ich dort unten – hab mich ein bisschen umgesehen. Da war ein Hammer, auf dem eine Aufschrift war – ‚Schlage' war dort eingraviert, keinen Dunst wieso. Dann gab's da noch ein paar Äxte, viel Hart- und Weichholz, Schnüre, Drähte, Schraubenzieher, Sägen, Bohrer, Nägel, Sensen, Scheren... Alles Mögliche. Wenn ich mich anstrenge, dann kann ich vielleicht eine Art Bogen bauen, vorausgesetzt wir gehen wirklich Wildtiere jagen, denn ich bezweifle stark, dass in dem Wald viele Beeren wachsen. Und die anderen Sachen funktionieren ja auch als Waffen, wenn man so will. Warum bedienen wir uns nicht einfach daran und gehen morgen auf so eine Jagdtour? Was spricht dagegen? Dann haben wir mal was Richtiges zum Verspeisen. Nicht diesen Fraß von Blaubeeren oder was, von dem kein Mensch leben kann!"
Ernst nickte zustimmend, ebenso wie Julia, Mira und Daniel, die es ihm gleichmachten.
Auch Norbert bejahte die Idee: „Dann sollen wir das tun... Aber was ist mit Anton, Markus und Peter? Wo stecken die wieder?"
„Die sollen meinetwegen nichts abkriegen von der Beute, wenn sie nicht mal mitmachen. Selbst Schuld, meine ich. Wer zuletzt kommt, den beißen schließlich die Hunde", schimpfte Mahoud darüber.
Ein Anderer begann zu sprechen.
„Ihr habt was abzugeben", just in dem Moment, als Mahoud das von vorhin sagte, stieg ein sehr, sehr selbstbewusst wirkender Anton die Treppen runter, begleitet von Peter, der ihm sich unterordnend nachging und fast schon wie ein Diener wirkte.
Anton hatte nicht mehr seine typischen, edlen Klamotten an, sondern bevorzugte nun scheinbar ganz schlichte Sachen wie ein weißes Shirt, kurze Hosen und Turnschuhe. Peters bescheidener Kleidungsgeschmack hatte sich jedoch nicht verändert. Auch nicht seine Hygiene. Trotzig stießen die beiden zu dem Kreis.
„Was meinst du, Anton?", wollte Norbert wissen. Über die Ankunft von dem Unsympath schien keiner erfreut zu sein.
„Was glaubst du denn? Dass ich mich abziehen lasse von euch? Na klar gebt ihr was ab!"
„Wieso denn so befehlerisch, Felder?", fragte Ernst nach. "Bist du über Nacht zum Khan geworden, oder wie?"
„Ganz einfach, du alter Kauz, der fast an seinem schweren Atmen erstickt, wenn er was von sich gibt: Ich bin so etwas wie ein Auserwählter."
Gelächter. Ungelogen kam jedem außer Peter und Anton selbst das Lachen, als sie das hörten. Der Bankangestellte jedoch nahm das nicht so spaßig auf.
„Was gibt's da zu lachen?", fragte er harsch nach.
„Du und auserwählt? Klar doch, und ich bin gleich der König der Welt, ha!", lachte Mira sarkastisch.
„Dann lach' doch, bis du daran krepierst... Was uns angeht, mich und Peter... Wir haben erkannt, was wir in diesem Haus tun müssen. Wir haben viele Dinge gefunden – Hinweise, Zeichen, Deutungen... Und das alles veranschaulicht, dass es an mir ist, den Schalter zu finden, denn er verbirgt was viel Größeres. Ihr blöden Idioten glaubt das halt nicht, aber es ist real. Ich gebe keine Scheiße von mir. Wer bin ich denn, wenn ich das machen würde? Stimmt's, Peter?", sagte Anton und richtete seinen Kopf zu seinem Begleiter.
„Ja, das ist korrekt. Zum Beispiel haben wir ein Holzpferd gefunden, eine verdeckte Nachricht hinter einem Spiegel, eine Schriftrolle, eine Signatur, und, und, und... Anton hatte das alles interpretieren und auslegen können, denn sonst wären wir nach dem Fund des ersten Tipps nie auf die anderen gekommen. Es scheint, als wäre er damit beschenkt worden, die Wahrheit zu finden, und deswegen helfe ich ihm", gab Peter von sich. Die Message schien einstudiert und auswendig gelernt zu sein.
Julia verdrehte die Augen: „Du lässt dich von dem aber ziemlich verarschen und ausnutzen, Peter. Der redet dir irgendeinen Mist ein. Von wegen, der ist irgendwie auserwählt... Was für ein Unsinn."
„Ihr werdet früher oder später auch eure Augen aufmachen müssen... Ihr seht nur den Wald vor lauter Bäumen kaum. Irgendwann werdet ihr einsehen, warum es wert ist, mir zu folgen..."
„Wenn man so ein arrogantes Verhalten an den Tag legt, Felder, dann wird dir und deinem neuen Freund erst recht keiner was abgeben von der Beute... Da gebe ich diesem wahnsinnigen Markus doch noch eher was als dir, der es wagt, uns irgendwas befehlen zu wollen", fluchte Daniel, dem das alles sowieso sehr bizarr vorkam.
Anton stampfte einige Male sinnlos auf den Boden und entfernte sich dann mit einem Lächeln dezent von dem Schauplatz und ging wieder Richtung Treppe zu. Aber er wollte keinen französischen Abschied machen, ohne eine Nachricht mit bleibendem Eindruck zu hinterlassen.
„Ich sag's euch, es ist es wert, mir zu folgen. Und es ist es auch wert, mir und meinem Freund Nahrung abzugeben, und zwar nicht nur einen scheiß Bissen! Denn wir kontrollieren ab heute den zweiten Stock. Ich schwör's euch, ich werd' den Zugang zu diesem blockieren. Ihr habt doch keine Ahnung, dass der Schalter dort ist. Wir haben's rausgefunden, ob ihr mir glaubt oder nicht. Darüber hinaus gibt es hier oben ein nettes kleines Kästchen an der Wand neben dem Badezimmer, welches man aufmachen und drinnen ein paar Rohre betrachten kann. Eines davon hat sogar ein prägnantes Handrad, und wenn man an diesem ein paar Male kräftig dreht, dann gibt es kein Wasser mehr im Haus. Habe ich ausgetestet. Aber wir, wir müssen es nur wieder drehen, wenn wir was zum Trinken brauchen... Ihr da unten aber könnt scheißen gehen, wenn's so ist. Überlegt es euch gut, das ist keine einfache Show hier, das ist ein reines Schlachthaus. Jeder normal denkende Mensch würde spätestens jetzt zur Gewinnerseite wechseln, also zu mir. Denkt einfach dran, wenn ihr beim Jagen seid. Und denkt auch daran, dass wenn ihr gegen Ende von Killswitch hungernd vor dem Haus kauert und um Einlass oder Nahrung bettelt, wem ihr euch lieber hättet anschließen sollen - irgendeinem Trottel, der euch ins Verderben gestürzt hat oder mir, einem geborenen Anführer. Wie wollt ihr euch entscheiden?", meinte er abschließend und ging hinauf in den zweiten Stock, wo er sich die Tage zuvor schon des Öfteren zusammen mit seinem Genossen aufhielt.
Er beschwur mit dieser deutlichen Ansage konfuse und skeptische Blicke bei den Zuhörern, die noch immer im Kreis standen und sich eigentlich unterhalten wollten. Meint der das ernst? Will der sich zum Anführer küren? Was hat Anton mit Peter gemacht? Das war nur ein Bruchteil der Gedanken, die in den Köpfen der Versammelten schwirrten. Seinen gesamten Auftritt konnte sich keiner genau erklären, genauso wenig wie die Ernsthaftigkeit seiner Rede.
Im Crew-Zelt indes lauschten Thomas, Richard und Gerold, der das zuvor alles kommentierte, dem Geschehen, das sie durch einen Bildschirm beobachten konnten.
„Schneiden wir das raus?", wollte Richard, der Hauptverantwortliche für den Schnitt, wissen.
Thomas blieb der Mentalität Ageloins zunächst noch treu: „Nein. Ab sofort wird nichts mehr rausgeschnitten, vollkommen egal, ob es im Nachmittagsprogramm von Zehnjährigen geschaut wird oder um drei Uhr in der Früh von erwachsenen Selbstbefriedigern. Das ist das, was sich Divine gewünscht hatte – Unterhaltung und Spannung. Ich wette, der Stream explodiert gerade."
„Die letzten Zuschauerzahlen waren eher gering. Wir hatten mehr erwartet", äußerte Gerold.
"Zuschauerzahlen? Seit wann können wir denn Zuschauerzahlen dokumentieren?"
"Ah, hab' da irgendwas gesehen."
„Ist ja egal. Jetzt, da die Kisten leer sind, geht es erst richtig los. Die werden sich noch anschauen, das sag' ich dir", prophezeite der Regisseur.
„Und meint der das wirklich so, wie er das gesagt hat, Thomas? Was denkst du?", fragte Richard wieder.
Ob er es ernst meint? Natürlich. Sollte er etwa lügen? Anton Felder war schon im Zweigespräch eine herablassende, überhebliche Gestalt mit Gott-Komplex, warum also sollte er das nicht wörtlich gemeint haben? Aber wen kümmert das? Die Quoten sicher nicht.
„Wer weiß. Wir werden es noch früh genug sehen. Lassen wir das drinnen, jetzt startet aber erstmal die Show. Warten wir's ab."
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