Gesprächsstoff

           

Erneut war es Abend geworden. Der Regen hatte endlich aufgehört zu wüten und die Runde um Kenneths selbstgebautem Haus saß an unterschiedlichen Plätzen. Ernst, Daniel, der Arzt Arnold und der Koch quetschten sich gemeinsam in die enge Hütte, die zumindest über die schöneren Tage hinweg ein ganz klein wenig Wärme gespeichert hatte und sie sich somit geringfügig wohler fühlen konnten als im Freien. Richard war gerade damit beschäftigt, sich selbst ein kleines Dach aus an einen dickeren Baum angelehnten Ästen und Zweigen zu bauen. Das war vonnöten, zumal nicht jeder bei Kenneth in der Hütte schlafen oder verweilen konnte. Sie alle hatten sich deshalb darauf geeinigt, dass jeder abwechselnd dort nächtigen durfte, um die Sache wenigstens ein bisschen fairer zu gestalten. Und die, die dran waren, außerhalb zu bleiben, improvisierten. Kenneth selbst durfte natürlich immer drinnen sein, das war gar keine Frage. Er führte sie immerhin an.

Und genau das gefiel Thomas, der gerade auf einem Baumstumpf saß und nachdachte, überhaupt nicht. Der Umstand, dass er als eigentlicher Projektleiter weder Autorität noch sonst etwas mehr besaß, das schnitt tief – sehr tief. Er hielt es nicht aus. Er hatte es versucht; und er hatte sich auch definitiv viel, viel Mühe gegeben, doch letzten Endes ging er im Tumult, der in und außerhalb des Hauses zu herrschen begann, unter. Anfangs war er noch der Feldmarschall, der Höchste von allen, der Projektleiter, der Gestalter in seiner natürlichen Aufgabe. Aber mit der Zeit degradierte er zum Feldwebel, dann zum Zugsführer, zum Gefreiten und schließlich zum einfachen Soldaten, der nun auf die Befehle eines rothaarigen Iren namens Kenneth hören und seinen Befehlen und Strategien Folge leisten musste. Regisseur zu sein hat etwas Göttliches an sich. Das war das, was Thomas an seinem Beruf so liebte. Als Kind schon nahm er herumrennende Wildtiere auf und schnitt die entstandenen Bilder zu einem richtigen Film. Im Grunde war dies nichts Besonderes, doch die Art und Weise, wie er die Szenen zusammenfügte, machten das simple Werk zu einem Action-Thriller. Er erkannte früh, dass es darauf ankam, wie man etwas inszeniert, welche Kameraperspektiven man benutzt, bei welcher Tageszeit man filmt oder mit welcher Musik man das Ganze besetzt. All diese Faktoren machen einen Filmemacher zu einem Art Schöpfer. Und ein Schöpfer strebt danach, die Kontrolle über sein Werk zu behalten. Wenn nicht, so entwickelt es ein Eigenleben und wendet sich am Schluss sogar gegen den eigenen Erschaffer, welcher in diesem Falle Thomas wäre. So dachte er, und nicht anders.

Ein Mann stieß zu ihm. Es war Markus, der eine blaue Regenjacke anhatte, Gummistiefel trug und eine Zigarette im Maul mit seinen Zähnen festhielt. Ungewöhnlich. Normalerweise zog der Kerl es vor, seine Muskeln zu präsentieren und deswegen weniger Kleidung zu tragen. Aber die einsetzende Kälte machte offenbar sogar ihn schwach.

„Ha, Cheffe. Was'n los mit dir?", Markus' Stimme klang so verrückt, wie man es von ihm gewohnt war.

Er setzte sich neben Thomas auf den großen Baumstumpf, auf dem locker zwei weitere Personen Platz gehabt hätten.

„Was soll sein?", Thomas war sichtlich mürrisch. Keine Lust hatte er, mit ihm jetzt zu diskutieren.

Markus klopfte ihm ironisch auf die Schulter. „Wird schon alles gut, Chefchen", gab er in so einem sarkastisch klingenden Ton von sich, dass man es für unmöglich halten konnte, dass er es ernst gemeint hätte.

„Wird's nicht. Überhaupt nicht. Es ist alles aus."

Markus inhalierte tief und pustete dann sehr viel Rauch aus; die Zigarette tat ihm gut. „Kopf hoch, Flimmermännchen. Bald hauen wir Felder den Schädel ein. Du wirst das tun. Ja, ich zähl' auf dich."

„Warst du eigentlich immer schon so ein verdammter, gefühlsloser Bastard, Markus? Erkennst du eigentlich, was du für eine Bestie bist? Für ein gestörter Hund? Und tut dir das manchmal weh?"

Der Angesprochene verzog den Mund, stand auf, spuckte die Zigarette förmlich auf den Boden, drückte sie aber noch nicht aus, sondern ließ sie vorerst brennen.

„Ah, der alte Spruch", zunächst blieb Markus ruhig.

„Bist es wohl schon gewohnt, so genannt zu werden, hm?", niemand konnte sich Thomas' plötzlich Wut, die er in den letzten Tagen aufgebaut hatte, erklären. Wahrscheinlich nicht mal er selbst. Es war aber der Frust, der ihn kränkte.

Der Muskelmann hob die Zigarette, die am Boden lag, elegant auf, begann damit, Thomas' Hals mit der rechten Hand zu würgen und drückte mit der Linken den brennenden, glutheißen Glimmstängel an seiner Schläfe aus. Er tat es ganz langsam, und der Regisseur schrie und schrie und schrie. Aber keiner kam. Keiner half ihm. Nicht einmal Richard, der aus seinem laienhaften Unterschlupf herausspähte oder der alte Ernst, der für einige Sekunden sogar aus Kenneths Hütte starrte, nur um im Anschluss wieder hinein zu verschwinden. Es war ein extremer Schmerz – ein Schmerz, den man keinem anderen wünschen würde, nicht einmal seinem schlimmsten Nemesis. Und auch zur Wehr setzen konnte er sich nicht, denn dafür war er körperlich unterlegen.

Irgendwann stoppte Markus und warf die ausgebrannte Zigarette weg.

„Ja, ich war immer schon so, Regisseur. Was glaubst du, warum ich sonst hier bin? Wegen dem Geld? Ha, das glaubst du ja selber nicht. Ich hab's dir ganz am Anfang gesagt, nämlich dass es die Kohle wäre. Aber das war gelogen, he."

Thomas hielt sich seine beiden Hände auf die Schläfe, die noch immer außerordentlich wehtat.

„Wa... Was ist dann dein... deine Motivation, Beck?"

„Ich sammle Gesprächsstoff...", eine offensichtlich lustig gemeinte Lüge von Markus, mit der er sich sozusagen verabschiedete und irgendwo anders hinging.


Nach einer halben Minute lief Richard zu seinem ehemaligen Vorgesetzten und versuchte, ihm ein nasses Taschentuch auf die schmerzende Stelle zu halten. Aber der Regisseur schlug seine Hand weg.

„Zisch' ab, Richard!", rief der Filmemacher zornig und mit einer schluchzenden Stimme.

„Aber...", Richard war ganz schockiert von der Reaktion seines Kollegen. „Ich wollte nur... helfen!"

„Warst du schon immer so eine feige Drecksau, Richard? Oder hast du dir das erarbeitet?"

„Wie... meinst du das denn?"

„Na ganz einfach...", kurz musste Thomas unterbrechen, um durchzuatmen. „Du warst schon die ganze Zeit so ängstlich... Hast immer schön im Van gehockt, hinter den Monitoren, wenn wir irgendeine Show am Laufen hatten... Hast geschnitten oder gestreamt, aber nie hast du auch nur eine Sekunde daran verschwendet, mal selbst ins Geschehen zu tauchen und mitzugestalten. Nein, dafür warst du dir zu schade! Hast die harte Arbeit lieber andere erledigen lassen. Genau wie jetzt! Anstatt mir, deinem verdammten Chef, zu helfen, hast du einfach auf mich geschissen und glaubst jetzt, du könntest mir in den Arsch kriechen, wenn du mich verarztest! Freu' dich mal auf einen lustigen Brief von Divine, wenn wir je wieder in Deutschland sind! Dann kannst du deine scheiß Kündigung endlich lesen, du Arschloch!"

"Halt dein Maul, Altmann", ertönte eine andere, laute Stimme hinter dem Regisseur.

Es war der alte Ernst Marak, der seine Arme verschränkt hatte.

„Was? Du? Was wollt ihr alle von mir?"

„Altmann... Hast du mal von einem Hedgefonds gehört?"

Thomas schüttelte – wie ein beleidigtes Kleinkind – ahnungslos den Kopf: „Nein, woher soll ich den Scheiß bitte kennen?"

„Das sind hochriskante Investmentfonds... Ich will dir mal ein bisschen was drüber erzählen... Ein Kaufmann investiert in solche Geldmittelbestände, wenn er überdurchschnittliche Rendite erzielen will. Dafür nimmt er vielleicht vorrübergehend Fremdkapital auf. Dann gibt es aber noch die dummen Menschen. Gierige, selbstsüchtige Menschen, die auf Pump neue Autos, Eigenheime, Shopping-Trips, Flüge, Kleidung, Fernseher, Computer, Handys oder teure Urlaube kaufen. Beide Dinge sind hochriskant und gefährlich. Allerdings gibt es hier einen eklatanten Unterschied, denn der Typ, der für reinen Konsum Schulden aufnimmt, verliert immer. Er riskiert und tötet sich selbst, er verreckt förmlich, er zerbricht am Schuldenberg, wird sich vielleicht irgendwann eine Pistole in den Mund stecken, und das nur, weil er sich erhofft hat, dass er das Geld irgendwann wieder einbringen kann... Blödsinn. Der Hedgefond-Kerl aber geht ein Risiko ein, das etwas bringt, weil er genau weiß, dass er eine reelle Chance hat, zu gewinnen. Und wenn er gewinnt, gewinnt er richtig. Dann frisst er alles vom Kuchen und lässt keinen scheiß Krümel – nicht mal das Fragment eines Bruchstücks eines weiteren Bruchteils eines Krümels - übrig.

Genauso war's jetzt. Wir beide, Richard und ich, wir konnten Beck nichts anhaben. Wir können's auch jetzt nicht. Wir werden's vielleicht nie können. Und war hätt's gebracht, wären wir dir zu Hilfe geeilt, außer, dass er uns auch vermöbelt hätte? Vielleicht sogar ärger als dich? Es war zu riskant, und deshalb haben wir nichts getan. Verstehst du überhaupt, was ich dir damit sagen will, Altmann?"

„Du schwafelst mir zu viel...", Thomas tat zwar so, als hätte ihn das gar nicht bewegt, aber das hatte es definitiv. Das merkte man an seinen feuchten Augen.

„Ich bin... noch immer ganz perplex, um ehrlich zu sein...", Richard machte einen traurigen Gesichtsausdruck. Er schien ernstlich von Thomas seiner Hetzrede gegen ihn mitgenommen zu sein. Er fasste sich unsicher auf den Hinterkopf.

„Anstatt einen anderen, der dir nur helfen will, zu verletzen, solltest du endlich anfangen, so wie früher zu sein! Als man sich noch auf dich verlassen konnte, Altmann!", schrie der alte Mann den Jungregisseur an.

„Es tut mir ja Leid...", Thomas warf einen reumütigen Blick zu dem ihn anstarrenden Richard. „Aber was soll ich denn tun, wenn man mir die Leitung abnimmt? Wenn sie ein rassistisches, konservatives Arschloch wie Kenneth hat, der dazu noch zwei von meinen Kandidaten in den sicheren Tod schickt? Was glaubt ihr denn, werden die mit Hader und Bundam anstellen? Ihnen den roten Teppich ausrollen? Ihnen den Champagner herrichten? Ihr denkt also auch, dass das gut ausgeht? Dieser Felder wird sie häuten, verdammt... Und ich konnte nichts tun. Das alles wird irgendwann auf mich zurückfallen, weil es meine Aufgabe war, die Kontrolle zu bewahren! Und ich habe versagt! Wundert's euch noch immer, wenn ich meine ganze Wut dann an euch rauslasse?"

„Tut's nicht. Aber es geht um viel mehr."

„Um was, Marak? Um was zur Hölle geht's denn? Willst du mir wieder irgendwas Wirtschaftliches runterlabern? Ich hab' verstanden, dass du ein reicher Geschäftsmann bist, der sich gut am Markt auskennt, danke!"

„Ich mochte dich eigentlich", Ernst seufzte laut. „Aber du hast dich vom Thron stoßen lassen. Da hast du Recht. Was ich dir sagen will ist, dass du so schnell wie möglich wieder auf ihn zurückklettern sollst."

„Und wie, wenn ich fragen darf?"

„Nachdem wir das Haus wieder erobert haben. Dann musst du Kenneth vertreiben. Ich werd' dir helfen, dich beraten. Ich weiß, wie man führt. Ich hab' mich selbst vom Habenichts zum Multimillionär gemacht. "

Der Regisseur klang wenig beeindruckt: „Verdammt, das ist eine Serie, kein Unternehmen!"

„Und wenn schon! Ich musste über tausend Mitarbeiter kontrollieren und gefügig machen! Ich weiß halt, wie man das macht!"

„Ist okay... Ist okay..."

Thomas sah kurz hinauf zum Himmel, der heute wenig zu bieten hatte. Er streckte danach seine Hand zu Richard aus, ganz wortlos. Er nickte ihm zu. Richard tat das Gleiche. Schließlich gaben sie sich offenbar versöhnend die Hände.

„Das war unfair von mir, tut mir Leid", murmelte Thomas runter.

„Keine Ursache. Wir alle haben unsere Fehler", kam es von Richard selbstbewusst zurück.

Trotz der Tatsache, dass der Zwischenfall scheinbar gelöst werden konnte, interessierte sich Thomas noch für eine ganz andere Sache. Denn er wusste noch immer nicht, wer denn dieser Ernst Marak in Wirklichkeit war. Wer war der ominöse Reiche, der sich stets zurückhielt, logisch dachte, Bücher verschlang, sich als Einziger die Nahrungsrationen mit Bedacht einteilte und Konflikte mied? Keiner wusste das, denn keiner war ihm auch nur irgendwie näher gekommen. Er hatte sich keine Freunde gemacht – oder besser ausgedrückt, Ernst hatte niemanden zum Freund erklärt. Also packte Thomas den alten Herren bei der Jacke, als dieser schon in die Hütte zurückkehren wollte.

Wer bist du, Marak? Und was suchst du hier? Du bist doch so gescheit, so klug, was also treibt dich gerade hierher, zu Killswitch?", fragte er.

„Sagen wir's mal so...", Ernst rollte die Augen. „Meine Eltern waren arme Schweine. Mein Vater war ein Nichtsnutz, der nur Fehler machte. Ich aber... für mich stand schon immer fest, dass ich nie so leben wollte. Also erklomm ich Leiter für Leiter, arbeitete zuerst geringfügig als Putzer, verdiente dann Geld als richtiger Angestellter, wurde irgendwann Unternehmer und schließlich Geschäftsführer eines großen Konzerns. Im Nachhinein betrachtet war der Anfang aber das Schönste, wo einen alle noch belächeln und es einem niemand zugetraut hätte, dass das gemobbte, ärmste Kind der Schule oder der krumm gehende Reiniger es so weit bringen könnte. Dieses Gefühl vermisse ich. Ich bin jeden Tag der Mächtigste in meinem Umfeld gewesen. Ich wollte wieder ein Niemand sein, einfach, weil ich es wieder haben will, dieses Streben nach Aufstieg und diese Unterschätzung meiner Person."

Nun aber schien Ernst keine Lust mehr zum Reden zu haben. Er legte Thomas' Hand weg und schritt wieder zu Kenneths Holzhaus, dessen Tür er durchtrat und anschließend von innen zumachte.

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