Einigkeit macht stark


Es war ein schwieriges Unterfangen, genau zu erfassen oder zu beschreiben, was in dem Kopf des jungen Norbert Bundam vor sich ging, als er mit tränenüberströmtem, blassem Gesicht und weit aufgerissenen Augen wortwörtlich zurück zum Lager des rassistisch-motivierten Kenneths gekrochen kam. Und es war der längst paranoid gewordene Regisseur Thomas, der die halbe Leiche sofort bemerkte und ihr bald aufhalf, als dieser dabei war, kaputt einzubrechen. Das alles spielte sich am frühen Morgen ab, wo das herunterfallende Licht der Sonne die seelische Verstümmelung des Burschen sehr, sehr deutlich machte. Es folgten Ernst Marak und Daniel Xander, die ihn mithilfe von Thomas in das Innere der Holzhütte trugen und dann auf ein bereits vorbereitetes Bett legten. Der Arzt Arnold und der Schnittmann Richard waren bereits im Inneren und schraken auf, als sie das Scheusal in Form von Norbert erkannten. Kenneth selbst war in der Zwischenzeit mit dem dubiosen Markus auf eine Jagd gegangen, um die Essensrationen der Außenseiter halbwegs aufrecht zu halten. Arnold tat das, was er tun musste und versorgte die paar Wunden, die der Junge am Gesicht und am Körper hatte mit dem wenigen Verbandszeug, das noch übrig war. Zusätzlich rannte Thomas schnell nach draußen, holte von dort eine herumliegende Wasserflasche und gab sie im Anschluss dem Bettlägerigen. Seitdem sie bei Kenneth angekommen waren, stieß Thomas' Sehnsucht nach Kontrolle wieder empor. Er durchlebte mehrere Tiefs und kurzzeitig schien es so, als wäre sein Niedergang als Chef der ganzen Sache komplett, aber langsam kam in ihm die Hoffnung zurück – die Hoffnung auf Besserung, auf Ordnung, auf Führung. Denn er sah sich eigentlich immer noch in seiner ursprünglichen Rolle des Anführers, des Regisseurs, der für gewöhnlich das Sagen hatte, während die anderen nur ausführten. Aber der Unhold Felder hatte ihm das abgenommen, und was den Regisseur wahrscheinlich am meisten frustrierte war die Tatsache, dass dieser es vermutlich besser machte als er. Immerhin strömten die Leute zu ihm, verehrten ihn sogar teilweise, wenngleich die Meisten eher die Vorteile sahen, die der ehemalige Bankangestellte mit sich brachte.

Jetzt aber, da lauschten sie gespannt auf das, was der geschickte Spion zu berichten hatte. Seine Wunden waren mit Pflastern und Verbänden überdeckt, eine Decke wurde ihm übergezogen und er konnte trinken. Er musste nur mehr sprechen. Die neugierige Stille war bemerkenswert – selbst der immer desinteressierte Marak richtete seine Augen aufmerksam auf den Gesandten.

„Ich... Ich...", begann Norbert mit gebrochener Stimme. „Will nicht mehr. Sie haben es... tatsächlich getan" Er stoppte, brauchte ein, zwei Minuten und sprach dann weiter. „Felder war's, das weiß ich noch genau. Ich hab's gesehen."

Was gesehen?", hakte Daniel ungeduldig nach.

„Das Messer... Das verdammte Messer, das er reingebohrt hat."

„In wen, verdammt?"

„Julia! Es musste so sein, ich hab's so geahnt, aber ich hab' nichts dagegen tun können! Ich war so schwach! Ich will sterben! Ich hab' sie ja nicht mal retten können, ich Idiot, ich bin nur davongelaufen wie ein Feigling!", schluchzte der Bursche, der scheinbar bereits so viel geweint hatte, dass nicht mehr viele Tränen aus ihm raus kamen. „Wieso hat sie das verdient? Sagt es mir! Warum ist er so ein Schwein? Töten wir ihn, bringen wir's hinter uns!", schrie er auf einmal.

Sein Jaulen und Schluchzen wurde so heftig, dass er sich aufrichtete, aber Daniel und Richard drückten ihn sanft wieder ins Bett zurück. Dann vergrub der entkommene Spion sein trauriges Gesicht in seinen Händen. Thomas erkannte die Hautunreinheiten, die fast erschreckende Blässe, die gelben Fingernägel, die blauen Lippen und die markanten Augenringe – alles Anzeichen dafür, dass er durch seine persönliche Hölle gegangen war.

Die anderen in der Runde aber verzogen auch ihre Gesichter oder wurden teilweise weiß, als sie das hörten, was der Arme erlebt hatte. Marak sah entsetzt aus, Daniel blickte gebannt an die Wand, Richard griff sich mehrere Male auf den Hinterkopf, Arnold schloss die Augen und Thomas selbst blieb der Mund weit offen.

„Also hat Felder Julia... umgebracht?", fragte er.

„Ja... Hat er... Das hat er...", kam leise von Norbert zurück.

„So ein Scheißdreck!", fluchte Thomas und stand auf.

Er ging nachdenkend und offensichtlich ebenfalls angeschlagen durch den Raum, bis er sich letztlich direkt vor das eine Bett, das eigentlich Kenneth gehörte, stellte und etwas sagte: „Jetzt müssen wir handeln! Das war so eine Sauidee von Kenneth! Ich hab' klipp und klar gesagt, dass es Tote geben wird, wenn wir das durchziehen! Aber der Idiot hat darauf beharrt... Ich dreh' noch durch."

„Und was machen wir jetzt?", fragte Richard.

„Wir warten auf Kenneth und Markus. Dann machen wir Norbert wieder gesund und fit. Und danach greifen wir endlich an. Ich halt's nicht mehr aus. Ich will auch, dass es vorbei ist. Das alles macht mich verrückt!"

„Macht es jeden... Jeder hier ist müde", kommentierte der nickende Arnold.

„Das weiß ich selber auch! Deswegen ist ab hier Schluss, es gibt keine scheiß sinnlose Warterei mehr."

„Das willst du befehlen?" Die Tür der Hütte wurde aufgerissen. Natürlich waren es Kenneth und Markus, die eintraten, mit frischer Beute. „Du bist jetzt der Leiter hier, oder was?", wollte der aufgebrachte Kenneth wissen.

Thomas drehte sich zu ihm, kam ihm näher und blickte auf den kleineren Mann herab. „Ich bin als Chef hergekommen, das lass' ich mir nicht nehmen!"

Kenneth gab ihm eine Ohrfeige.

„Du hast nichts verstanden, oder? Ich führ' den scheiß Kampf! Nicht du!"

Thomas wollte zum Gegenschlag ausholen, aber der Ire kam ihm zuvor. Er boxte ihn so tief in den Bauch, dass der Regisseur zusammenknickte. Markus grinste nur, während er die Szenerie vom Hintergrund aus betrachtete.

„Hört auf, ihr Idioten!", schrie Ernst. „Die eigenen Leute verprügeln sich gegenseitig, und da sollen wir das Haupthaus einnehmen?"

„Das werden wir auch, aber mit mir!" Kenneth warf das bereits zerstückelte Rehfleisch wütend auf den Boden. „Ohne mich würdet ihr entweder verhungernd im Wald kauern oder schon tot sein! Also zeigt Dankbarkeit! Und was sucht der Junge in meinem Bett, verdammt?"

„Er ist halbtot. Er braucht Ruhe und einen ordentlichen Schlafplatz", argumentierte Arnold.

„Mir egal, schafft ihn hier raus!"

Thomas hatte sich langsam erholt, stand wieder auf und blockierte Kenneth weiterhin den Weg: „Der Bursche bleibt hier!"

„Willst du etwa noch einen Schlag abkriegen?", Kenneth packte den großen Mann am Kragen.

„Fresse jetzt!" Endlich schaltete sich der hinten stehende Markus ein. Wie von Zauberhand ließ Kenneth von dem Filmemacher ab. „Kenneth, lass' den da liegen!"

„Hmpf!", stieß der Rothaarige beleidigt aus.

Irgendwie musste der bärtige Ire Respekt vor dem kahlen Muskelmann haben, weswegen er sofort zornig seine eigenen vier Wände verließ.

„Ich hätt' nicht gedacht, dass ich das je mal zu dir sagen würde, Beck, aber danke", meinte Thomas.

Markus ignorierte ihn und ging direkt zum liegenden Norbert.

„Sag' mir ganz schnell, was passiert ist im Haus", verlangte er von ihm.

„Felder hat Julia abgestochen. Haben ein Ritual gemacht... Er hat uns reingelegt, das Schwein... Die sind richtig organisiert", antwortete Norbert.

„Gut. Hört her!" Er wandte sich an alle im Raum. „Wir werden angreifen, so bald wie möglich. Und das mit voller Kraft! Sobald der Bursche sich erholt hat, geht's los, okay?"

Kopfnicken und Zustimmungen. Zum allerersten Mal in der gesamten Laufzeit von Killswitch waren sich alle einig – sie würden Felder besiegen.

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