Der Abtrünnige

Mit der Schrotflinte um den Rücken gehängt und dem begehrten Schalter unter seiner Jacke versteckt bahnte sich Kenneth laufend über die Treppen seinen Weg ins Freie. So weit waren sie alle gekommen, und da musste die Schlüsselfigur der erfolgreichen Belagerung die eigene Fraktion verraten und mit dem Objekt der Begierde einfach davonrennen. Es war an Schamlosigkeit kaum zu überbieten, aber nun war es traurige Gewissheit, dass der scheinbar so wertvolle Verbündete die ganze Zeit über nur ein Ziel vor Augen hatte: Den Schalter für sich zu beanspruchen. Norbert und Thomas liefen dem Flüchtenden hinterher.

Hastig lief Kenneth an den immer noch kämpfenden und sich gegenseitig schlagenden Menschen vorbei, schupfte einige aus dem Weg, bis er fast an der Haupteingangstür angekommen war. Dort bemerkte ihn Markus, der gerade eben damit beschäftigt war, ein Mitglied der Sekte zu verprügeln.

„Hey, wo geht's hin, Kenneth? Habt ihr Felder erledigt?", fragte er seinen Kumpanen, in dem er fast so etwas wie einen Freund sah.

„Ja, ist erledigt. Ich muss woanders hin." Kenneth war in Eile. Schließlich hatten Thomas und Norbert bereits die Verfolgung aufgenommen.

Nun kamen der Regisseur und der Junge über die Treppe ins Foyer gelaufen und erkannten Kenneth, der inmitten des Gemetzels mit Markus zu sprechen schien.

„Markus! Halt' ihn auf! Er hat den Schalter gestohlen!", schrie Thomas so laut er konnte in Richtung Markus.

Dieser wandte seinen verdutzten Blick sofort zu dem verschwitzten Regisseur, doch da schlug ihm Kenneth mit dem Schaft seines Gewehrs so fest auf das rechte Knie, sodass der sonst so taffe Markus aufschreiend zusammenknickte. Diesen Moment nutzte der Ire, um schließlich über die Eingangstür ins Freie zu verschwinden. Sofort liefen Norbert und Thomas ihm nach, jedoch wurde der Regisseur noch im Laufen von einem dazwischenkommenden Sektenmitglied umgestoßen. Norbert machte Halt.

„Re... Renn' weiter! Stopp ihn!", stieß Thomas, der gerade am Boden mit einem Ex-Kameramann ringte, aus. „Ich... krieg' das schon hin!"

Norbert zögerte nicht lange, ließ den Filmemacher hinter sich und eilte über die Tür nach draußen, wo er in der Ferne Kenneth über die alten Crewzelte davonlaufen sah. Der junge Mann begann damit, dem Rotschopf mit seinem höchsten Tempo zu folgen. Auch Markus hatte sich von dem Schlag auf sein Knie mittlerweile erholt, kam ebenfalls raus und verfolgte zusammen mit dem Burschen den Abtrünnigen.

Immer wieder stolperten die beiden über herumliegende Filmset-Utensilien, Dosen, Flaschen, die lieblos am Boden neben den Crewzelten verstreut lagen. Allerdings wurde das schlimmer, als sie den Wald selbst erreichten, in den Kenneth reingerannt war, denn ab waren es die Dornen, die Wurzeln, die Baumstämme und das unebene, matschige und dreckige Gelände an sich, das die Jagd nach dem Verräter erschwerte. Der allgegenwärtige Nebel war keineswegs verschwunden. Im Gegenteil, es schien, als wäre er über die Zeit der Belagerung intensiver und dichter geworden. Dementsprechend sah man kaum, was sich vor einem befand, und es war ein wahrlich hartes Vorhaben, dem geschickten Iren hinterherzueilen. Zudem trieb ein sausender, unangenehmer und peitschender Wind sein Unwesen. Nur das in der heutigen Nacht merkwürdigerweise äußerst hell-leuchtende Mondlicht sorgte für ein wenig Sicht. Kenneth war agil, lief im Zick-Zack und verwirrte seine Verfolger, indem er in unregelmäßigen Abständen lästige Gegenstände wie kleinere Äste oder Steine nach hinten warf. Das führte dazu, dass die Beiden oftmals hinfielen, die Orientierung kurzzeitig verloren oder sich gegenseitig behinderten.

Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis selbst dem dermaßen ausdauernden Kenneth die Puste ausging. Dieser Moment war erreicht, als er in einer mittelgroßen Lichtung vor einem sehr dicken Baum stoppen musste. Unmittelbar hinter dem fetten Baum befand sich eine tiefere und längere Grube, was bedeutete, dass Kenneth hier sowieso nicht weitergekommen wäre, ohne sich Zeit zu nehmen und zu klettern. Es war ein eigenartiger Platz, an dem sie gelandet waren. Hier, in dieser Lichtung, schien das Mondlicht so stark, dass selbst der Nebel ein bisschen transparenter wurde. Der Ire beugte sich nach vorne, schwitzte stark am ganzen Körper und hechelte wie ein Wahnsinniger. Auch Norbert und Markus, die jetzt ebenfalls die Lichtung erreicht hatten, atmeten schnell. Sie alle hatten durch die ganze Lauferei keine Ausdauer mehr.

„Kenn... Kenneth?", stammelte Markus runter, der sich langsam wieder von der Erschöpfung erholte. „Was hast du vor mit dem Schalter?"

Der Angesprochene packte den Killswitch aus der Innentasche seiner weiten, grünen Jacke heraus und legte ihn auf den Boden neben sich. Danach nahm er die Schrotflinte wieder in die Hand und zielte auf die Zwei.

„Oh... Ihr habt mich echt... verfolgt... Bravo, kids, das habt ihr gut hingekriegt! Ich hätt' nicht gedacht, dass ihr so schnell seid!", sagte Kenneth mit einer bedrohlich klingenden Stimme.

„Du willst uns... töten, Kenneth?", fragte ihn Norbert, dabei möglichst ruhig klingend, um ihn nicht zu provozieren. „Kenneth... Du hast uns geholfen, und wir dir! Wir haben das Anwesen wieder für uns! Die kämpfen zwar noch im Haus, aber sobald die rausfinden, dass ihr Guru nicht mehr ist, werden sie aufhören! So schnell kommen wir vielleicht wirklich nicht heim, aber immerhin könnten wir uns die Zeit angenehmer machen – zusammen!"

„Ich hör' nicht auf euch Schweine, ganz ehrlich." Der Ire hörte nicht auf, seine eigentlichen Verbündeten anzuvisieren. „Auf den ganzen Dreck hab' ich keinen Bock mehr. Ich hab' das Teil haben wollen, damit ich es benutzen kann, und nicht ihr!"

„Du Trottel glaubst noch immer, dass wir ein Preisgeld kriegen, wenn wir den scheiß Schalter aktivieren?", war Markus' direkte Frage mit einem harschen Unterton. „Wie dumm bist du eigentlich?"

Der Rotschopf aber grinste weiter. „Tja, blöd gelaufen, würd' ich mal sagen. Ich rück' euch das Ding nicht raus, das könnt ihr vergessen!"

Wieso nicht?", rief Norbert. Er hatte keine Geduld mehr.

„Wieso? Weil kein Mensch weiß, was geschieht, wenn man ihn drückt! Ihr könnt ja niemals wissen, was passiert, oder? Was, wenn's das Preisgeld gibt und tatsächlich einer kommt, um das hier zu beenden, hä? Falls das so ist, dann will ich mein Geld mit niemandem von euch teilen! Dann will ich wenigstens einmal in meinem scheiß Leben reich sein, versteht ihr?"

„Wir wissen aber auch nicht, ob nur du allein gerettet wirst, wenn du wegläufst und ihn drückst! Also haben wir beschlossen, ihn gemeinsam zu benutzen! Jeder von uns will hier weg!", warf Markus ein, dabei langsam auf den Iren zugehend.

„Lustig, als du vor einigen Wochen das erste Mal zu mir in den Wald gekommen bist, hast du dich noch ganz anders angehört, Markus... Was ist'n mit dir passiert? Hast dich verändert, Freund", meinte Kenneth. „Du hast früher gesagt, du würdest auf die Anderen scheißen und dass sie dich nur nerven! Wie oft hast du mir gesagt, wen du nicht alles im Haus umbringen würdest... Du warst auch dabei, Junge!" Der Ire schaute kurz zu Norbert.

„Kenneth..." Markus ging weiter langsam auf den Mann mit der Schrotflinte in den Armen zu. „Leg' die verdammte Waffe runter und gib uns den Schalter!"

„Ha, das hättest du gerne, was? Du bist blöder, als ich gedacht hab!"

„Tu' es einfach! Bitte!"

„Mein Gott, der große Markus bittet mich um etwas... Da kann ich doch nicht nein sagen, richtig?" Der ironische Ton des Satzes war kaum zu überhören.

Markus war Kenneth mittlerweile bedrohlich nahe gekommen. Das Mondlicht wurde heller und der starke Wind blies seine ungemütliche, laute Melodie weiter. Ein Pfeifen war das, das die vorherrschende Stille durchbrach. In diesem Licht sah Norbert die Gesichter der Zwei relativ klar. Während Kenneth leicht grinste und kaum eine Regung zeigte, wirkte Markus überraschend nervös, zitterte am Körper, schwitzte auf der Stirn und hatte verblüffend große Augen bekommen. Das sah der Junge bei ihm zum ersten Mal. Aber wer verspürt denn schon keine Angst, wenn man sich jemandem nähert, der bereit ist, einen ohne zu zögern umzubringen? Im Grunde war der bis dahin stets wahnsinnig erscheinende Markus doch nur ein Mensch aus Fleisch und Blut, der sich vor dem Tod fürchtete. In diesen Sekunden war es eher Kenneth, der den Eindruck eines Geisteskranken vermittelte. Und das war er wohl auch. Das war er.

„Ich sag's nochmal, Kenneth, lass' die Scheiße sein!" Schritt für Schritt kam Markus dem Gewehrschützen näher. „Wir kommen nach Hause... Wir alle!"

„Wie gesagt... Eine Patrone. Kommst du mir einen Millimeter näher, Markus, blas ich dir den Schädel weg, genau wie diesem fetten Stück Scheiße von Sicherheitschef! Und den schwachen, dünnen Jungen dahinten – den schlag' ich auch so in Stücke!", drohte Kenneth.

Markus hörte nicht auf die Warnung und ging dennoch weiter auf ihn zu. „Kenneth... Es ist do..."

Schuss. Der Ire machte seine Ankündigung wahr und feuerte seine letzte Patrone mitten in den Bauch des großen Mannes. Markus gierte unter all den Schmerzen nach Luft, griff sich auf die durchschossene Stelle im Bauch und klappte zusammen.

„Nein!", schrie Norbert.

Anstatt dass Kenneth dazu überging, Norbert zu attackieren, warf er die Schrotflinte auf den Boden, nahm den Schalter auf, drehte sich um und lief in Richtung des Grabens hinter dem dicken Baum. Norbert rannte ihm sofort hinterher, während sich der Rothaarige bereits daran machte, den tiefen und abgestuften Waldgraben runterzuklettern, an dessen unterem Ende ein kleiner Bach mit vielen Steinen lag. Der geübteste Kletterer war Kenneth nicht, und so rutschte er ein bisschen an dem steilen Hang aus und musste sich an herausragenden Wurzeln festhalten, um nicht völlig in die Tiefe zu stürzen. Allerdings kam nun auch Norbert dazu, der aufgrund seines leichten Körpergewichts einen Vorteil in diesem steilen Gelände hatte und sich geschickt oberhalb von seinem Gegner positionierte. Zuvor hatte er die leergeschossene Schrotflinte genommen und benutzte sie jetzt als Schlagwaffe gegen den unbewaffneten Iren.

„Verpiss' dich, du Wichser!", rief Kenneth zu ihm rauf.

Norbert jedoch schlug von oben herab mit der Waffe so fest auf den Schädel des sich festhaltenden Kenneths, dass dieser die Haltung verlor und mitsamt dem Schalter den restlichen Graben runterrollte. Schließlich stieß Kenneth mit dem Kopf an den Steinen am Bach unten fest auf, wodurch sein Genick brach. Er war sofort tot. Zwei Meter neben ihm lag der Killswitch.

Er ist tot. Endlich.

Der junge Mann kletterte den Graben hinab zum kleinen Bach, untersuchte kurz den Leichnam des Rotschopfs und hob dann den unversehrt gebliebenen Killswitch auf. Das Gewehr warf er weg und stieg mit dem Schalter in der Hand wieder zur Lichtung rauf. Dort angekommen lief er schleunigst zu dem schwer verletzten und stark blutenden Markus, der kraftlos am Boden lag und mit seinen beiden Händen vergeblich versuchte, die Blutung aufzuhalten.

„Markus! Ich helf' dir!" Norbert griff in seine Jackentasche und holte eine Packung Taschentücher heraus, die er dann allesamt auf die großflächige Wunde am Bauch hielt.

Es half wenig. Die Blutung war zu stark und der präzise Schuss hatte zu gut gesessen. Der muskulöse Mann keuchte, atmete schwer und spuckte ständig Blut aus.

„Du wirst nicht sterben, Markus! Halt' durch!"

In der Hoffnung, dass sich irgendwas ändern würde, drückte Norbert den Knopf des Killswitch. Es geschah nichts. Nichts unmittelbar Sichtbares.

„La... Lass'... gut sein, Junge...", brachte Markus mit schwacher Stimme raus und drückte Norberts Hände weg, die der Junge auf dessen Wunde gelegt hatte. „Es ist... zu spät... für mich."

„Nein! Ist es nicht! Ich hab' den Knopf gedrückt! Es kann Hilfe kommen! Halt' durch!" Eine Träne zeigte sich auf Norberts linker Wange. Insgeheim wusste er ja, dass es aussichtslos war und wohl keiner kommen würde, um zu helfen. Aber sagt man das einem, der im Begriff ist, zu sterben? Wohl kaum.

„Es war... mein Sohn, hörst du?", sagte Markus, dessen Augenlider stetig weiter zugingen.

„Dein Sohn? Was meinst du?"

„Sie habe... haben... ihn umgebracht... In Deutschland. Meinen Sohn... Meinen Sohn!", versuchte der Sterbende zu schreien. Vergebens. Er war bereits zu schwach.

Wer hat ihn umgebracht? Und warum sagst... du mir das?"

„Sie... Ich weiß nicht, wer sie genau waren... Ich hab' Schulden gemacht bei Leuten, mit denen man sonst keine Geschäfte macht... Alkohol, Automatensucht, Zigaretten, Nutten... Ich konnte es irgendwann nicht... zurückzahlen. Also haben sind sie nachts eingedrungen, haben meinen sechsjährigen Paul erwürgt und..."

„Oh nein...", stöhnte Norbert. Er konnte es kaum fassen, dass sein ehemaliger Erzfeind am Set eine derart grauenvolle Vergangenheit hatte. „Das tut mir so Leid..."

Markus hustete zweimal Blut und sprach dann mühevoll weiter: „Meine Frau hat's mir angehängt... Sie hat mir die Schuld für seinen Tod gegeben... Sie alle haben das... Und sie haben Recht – ich war schuld, nur ich. Kein anderer. Ich hab' dieses Preisgeld gebraucht... Ich muss das Geld zurückzahlen, bevor sie auch ihr was antun und mir damit alles nehmen, verstehst du?"

Wenn ich ihm nur irgendwie helfen könnte... Ihm helfen, ausgerechnet ihm... Das hätt' ich mir nie gedacht.

„Das... Das ist so... schrecklich. Ich weiß nicht, was ich dazu überhaupt sagen soll..."

„Ich weiß, ich hab' den Trottel gespielt, den Irren... Dabei hab' ich nachts, wenn ihr geschlafen habt, jeden Millimeter im Haus nach dem Schalter abgesucht... Ich fand ihn nicht... Ich fand ihn nirgendwo! Dabei hatte ihn Felder schon längst! Ich war zu spät... Das Geld brauchte ich so schnell wie möglich... Mein Gott, und dann ist diese ganze Scheiße passiert! Es ist... doch sowieso alles... zu spät!"

„Es ist nie zu spät!"

„Ich hab' versagt..."

„Nein, hast du nicht! Vertrau' mir, du wirst nicht sterben!"

Obwohl er sich im Angesicht des Todes befand, begann Markus, zu lächeln. „Ich hab' dich echt liebgewonnen, Junge... Verzeih' mir das alles, was zwischen uns so war. Ich bitte dich drum."

„Es ist alles in Ordnung..."

Markus nahm die Hand von Norbert. In dem grellen Mondlicht erkannte der junge Mann, wie viel Menschlichkeit eigentlich in Markus' Augen steckte. Derweil wurde der Wind stärker und seine bösartige Melodie lauter.

„Eine scheiß Welt, in der wir leben... nicht?", fragte der Verletzte.

„Ja, eine scheiß Welt...", bejahte Norbert.

Die Atmung des Verwundeten wurde auf einmal schneller, seine Pupillen wurden größer und sein Herz pochte rasant. Das ging solange so weiter, bis Markus einen tiefen Atemzug nahm und anschließend langsam ausatmete. Seine Augen wurden völlig starr und sahen gebannt zum Mond hinauf, dessen Licht seine blasse Haut umso mehr verdeutlichte. Er starb. Und mit dem Tod von Markus hörte fast zeitgleich das unerträgliche Pfeifen des Windes auf und eine absolute Stille kehrte ein, wie sie Norbert so noch nie wahrgenommen hatte. Die Musik hörte auf zu spielen. Es war surreal.

So muss es sich anfühlen, tot zu sein... Stille. Kein Ton. Kein Schreien. Kein Zischen. Nur Ruhe... ewige Ruhe...

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