Kapitel 8
Mit allerletzter Kraft zog sich Khione am Ast hinauf und japste nach Luft. Wie weit sie vom Lager der Arakis entfernt war, wusste sie nicht, aber ihr Körper signalisierte ihr, dass sie eine Pause brauchte. Da sie es nicht schaffen würde, bei Morgengrauen ihr Gebiet verlassen zu haben, musste sie die restlichen Stunden der Nacht ausharren.
Aufatmend setzte sie sich auf den dicken Ast, der ihr Gewicht mit einem Ächzen hielt. Wenigstens hatte sie einen Baum gefunden, auf dem sie Schutz vor den Tieren fand. Ihr war nicht geheuer, auf dem Boden zu schlafen und von ihnen angefallen zu werden. Es war erstaunlich, zwischen den Bergen solch ein altes Holzgewächs zu finden. Die Dicke des Stammes verriet ihr, dass er mehrere Jahrzehnte überlebt hatte.
Erst jetzt nahm Khione die Kühle der Nacht wahr. Die Angst hatte sie über den Punkt der völligen Verausgabung gebracht. Langsam ließ der Adrenalinkick nach und die Hitze wich aus ihrem Körper. Zähneklappernd rieb sich Khione ihre Arme und zog ihre Kleidung enger um sich. Noch immer spürte sie deutlich die Nachwirkungen von Makhahs Schlag. Zwar hatte ihre Nase zu bluten aufgehört, aber ihr Gesicht pochte unangenehm in einem gleichmäßigen Rhythmus wie ihr Kopf. Hoffentlich war nichts gebrochen. Ihre Zunge klebte am Gaumen und erschwerte ihr das Schlucken. Wenn sie doch nur etwas zu trinken hätte ...
Obwohl sie unsagbar durstig und ihr gewählter Schlafplatz ungemütlich war, übermannte sie die Müdigkeit. Khione schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihre Atmung. Durch das Zähneklappern fing ihr Kopf zu dröhnen an, aber sie ignorierte den Schmerz. Stattdessen rieb sie ihre Glieder und versuchte, warm zu werden. „Merkwürdig, dass ich mich auf dem Baum sicherer fühle als die vergangenen Wochen", murmelte sie. Hoch oben zwischen den Blättern der Baumkrone war sie für andere unsichtbar.
Khione entspannte sich und grübelte, welche Städte sie in kurzer Zeit erreichen würde. Das erste Problem war die Durchquerung der Steppe. Hatte sie überhaupt eine Chance, diese innerhalb eines Tages hinter sich zu lassen? Es fiel ihr schwer, einzuschätzen, wo sie sich genau aufhielt und wie weit sie laufen müsste, bis sie Einheimische fand.
Das nächste Problem war, dass sie kein Geld hatte. Hoffentlich bekam sie eine Arbeit, mit der sie sich ein Dach über dem Kopf leisten konnte. Zuerst würde sie auf der Straße leben, aber davor scheute sich Khione nicht. Sie würde jeden Tag aufs Neue kämpfen!
Grimmig folgte Makhah auf seinem Hengst den Fußspuren, die zuerst durch den Wald und dann am Fluss entlang führten. Als Jäger war es für ihn leicht, die Fährten zwischen Tier und Mensch zu unterscheiden.
Er hätte die Vision mit Khione ignorieren sollen, anstatt sie mit Asku, Sabah und Pahra zu besprechen. Auch seinen Berater Tehew hatte er zu Rate gezogen. Dank ihnen war er jetzt in der Nacht unterwegs, dabei würde er lieber um Ahyoka trauern und die kommenden Tage planen. Die Rückreise nach Pah Koha stand an und er hatte nicht die geringste Lust, die Sheikah zu suchen. Die Jagdnacht neigte sich dem Ende entgegen und es ärgerte ihn, dass sie kaum Beute gemacht hatten. Glücklicherweise verfügten sie über Reserven, die bis zur Heimkehr reichten.
Sanft nutzte Makhah seinen Körper, um seinen Hengst Denali zum Stehen zu bringen. Daraufhin sprang er von ihm ab und beugte sich zu den Fußspuren hinab. Sie gehörten eindeutig zu Khione. „Sie sind frisch", murmelte er und fuhr sie kurz mit dem Finger nach. Daneben war eine weitere Spur zu sehen und er fluchte.
Mit einem Sprung saß er wieder auf Denali und trieb ihn an. Die Zeit rannte, wenn er die Sheikah lebend finden wollte! Gegen einen Berglöwen hatte sie nicht die geringste Chance. Das Raubtier war geschickt im Anschleichen und Klettern.
Vorsichtshalber nahm Makhah seinen Speer vom Rücken. Im Notfall fand dieser Einsatz, aber er hoffte, dass er Inaras Jagdgesetz nicht brechen musste. „Arranoa, such nach ihr!", rief er seinem Adler zu, der sich stets in seiner Nähe aufhielt.
Mit einem spitzen Schrei stieg er in die Luft und Makhah atmete tief ein. Ein Stück weiter erkannte einige Blutspuren, die ihn anhalten ließen. Er betrachtete sie genauer und stellte fest, dass sie nicht zu Khione, sondern zu einem Reh gehörten. Ein kleines bisschen war er erleichtert, doch die Zeit drängte nach wie vor.
Makhah bog mit seinem Hengst in einen Wald ab. Dort trieb er ihn zum Galopp an und preschte mit ihm den Pfad entlang. Sicher war Khione das ein oder andere Mal gestolpert. In der Nacht waren die Wurzeln eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Hatte sich die junge Frau verletzt, war sie für den Berglöwen ein gefundenes Fressen.
Plötzlich hallte ein weiterer Schrei von Arranoa durch die Nacht. Kurz darauf rauschte der Adler auf Makhah zu und ließ sich auf dessen Schulter nieder.
„Hast du sie gefunden?", fragte das Oberhaupt. Das Tier sah aus, als würde es nicken. „Zeig mir den Weg."
Arranoa stieß sich ab, wobei er mit den Krallen ein Stück des Verbandes mit sich nahm.
Makhah ritt ihm nach und stutzte, da der Adler auf einen uralten Baum zuflog, der durch seine dichte Krone ein beliebter Schattenplatz für Tiere war und Schutz bot. Bis hierher hatte es Khione geschafft?
„Unglaublich", brummte Makhah, wobei er sein Staunen über die Zähigkeit der Sheikah verbergen konnte. Noch weniger, als er sie beim genauen Hinsehen hoch oben schlafen sah.
„Khione!"
„Lass mich schlafen, Nadir. Oder ich trete dir in die Eier", drohte Khione brummend. Dieser verflixte Anführer schien es mal wieder eilig zu haben weiterzuziehen. Warum gönnte er ihnen nicht, ein paar Stunden zu ruhen? Im Gegensatz zu ihm waren die Gefangenen vom Laufen erschöpft.
Zuerst ignorierte Khione das Rufen, doch als sie langsam zu sich kam, hielt sie den Atem an. Das ... das war Makhah! Seine wütende Stimme und sein Gesicht hatte sie nicht vergessen. Was tat er hier? Spionierte er ihr hinterher und wollte nun seine Drohung in die Tat umsetzen? Ihr Versteck schien nicht gut genug zu sein, wenn er sie mit Leichtigkeit fand.
Mucksmäuschenstill blieb Khione krampfhaft auf dem Ast sitzen. Alles in ihr wehrte sich dagegen, sich und ihren Standort preiszugeben, obwohl es sinnlos war.
Das schien Makhah nicht zu gefallen. „Ich weiß, dass du da oben bist. Setz deinen Hintern in Bewegung und komm runter", befahl er.
Khione befeuchtete sich die Lippen und wischte sich die plötzlich feucht gewordenen Hände an ihrer Hose ab. „Garantiert nicht", schnaubte sie. Dachte er wirklich, sie wäre so dumm und ließe sich freiwillig töten? Da hatte er sich geschnitten! „Gib mir noch ein paar Stunden Zeit, dann bin ich weg."
„Darum geht es nicht. Hör auf mit den Spielchen und komm endlich runter!", zischte das Oberhaupt.
„Worum dann? Glaubst du, ich renne in meinen eigenen Tod?", fragte Khione spöttisch, um ihre Unsicherheit zu überspielen. Gleichzeitig war ihr bewusst, dass sie mit dem Feuer spielte.
„Du rennst in deinen eigenen Tod, wenn du schutzlos und allein unterwegs bist", antwortete Makhah, wobei Khione hörte, wie widerwillig seine Worte waren. „Du hast drei Möglichkeiten: Du kommst freiwillig runter, oder ich schieße dich ab, oder ich komme rauf und hole dich persönlich."
Keine der genannten Alternativen gefiel Khione. „Und alle führen zum gleichen Ziel: dem Tod", bemerkte sie bitter. „Hau ab und lass mich in Frieden. Bis zu Mittag sollte ich euer Gebiet verlassen haben."
Eine Bewegung unter ihr ließ sie blitzschnell aufstehen und auf dem Ast stehen. Makhah hatte sein Pferd dicht an den Baumstamm herangeführt. „Geh weg!"
„Khione, ich sage es zum letzten Mal: Komm endlich runter. Wir gehen zurück zu den anderen."
Deutlich nahm sie seine Wut wahr. Sie war es, die Khione nicht rühren ließ. „Warum soll ich mit dir gehen, wenn du derjenige bist, der mich loswerden will?", fragte sie zitternd und hielt panisch nach einem Ast weiter oben Ausschau, den sie greifen konnte. „Es war abgemacht, dass sich unsere Wege trennen!" Kam es ihm nicht gelegen, dass sie früher ging?
„Du hast es nicht anders gewollt."
Binnen Sekunden sprang das Oberhaupt auf den Rücken seines Pferdes und griff nach einem Ast. Geschickt kletterte er den Baum hinauf und erreichte Khione so schnell, dass sie keine Zeit zur Flucht hatte. Fest presste sie sich gegen den Stamm und starrte in das Gesicht vor ihr. Makhah sah in der Dunkelheit noch angsteinflößender aus als sonst!
„Ich komme nicht mit", sagte sie und ärgerte sich über ihre zitternde Stimme.
Makhah seufzte und bemühte sich um Beherrschung. Zum Teufel noch eins ... Die Sheikah ging ihm gewaltig auf die Nerven! Warum tat sie nicht das, was er von ihr verlangte, und hinterfragte alles? Sie stellte seine Geduld auf eine harte Probe.
„Keine Widerrede." Mit diesen Worten packte Makhah sie an der Hüfte und warf sie sich über die Schulter.
Sofort fing Khione an sich zu wehren und trommelte mit einer Faust auf seinen Rücken. „Nein! Lass mich los", schrie sie, wobei sie sich mit der anderen Hand am Baum festhielt. Leider besaß sie aufgrund der Verletzung nicht genug Kraft, sodass Makhah ihren Griff mit einem Ruck befreite und ohne Vorwarnung zurück auf den Boden sprang.
Erst dort ließ er Khione wieder auf ihre Füße, packte sie an den Schultern und sah ihr ernst ins Gesicht. Im fahlen Mondlicht sah ihre Haut erschreckend bleich aus, aber das hatte sie sich selbst zuzuschreiben. Er roch die Angst, die ihr regelrecht aus den Poren triefte und stellte fest, dass sie wie Espenlaub zitterte.
Oh, wie gerne würde er sie ...
„Wir reiten zurück zum Lager. Steig auf", wies er sie an und ließ seinen Griff lockerer.
„Mit dir gehe ich nirgendwohin!", fauchte Khione.
„Entweder du steigst auf oder ich fessle dich und werfe dich hinter mich. Entscheid dich", erwiderte Makhah so gelassen wie möglich, dabei brodelte in ihm die Wut.
Einen Moment lang überlegte Khione. „Keine Fesseln", flüsterte sie schließlich ergeben. Davon hatte sie genug und sie war nicht darauf erpicht, den Ritt unangenehmer zu gestalten. Nicht im Leben hatte sie mit Makhahs Geschicktheit gerechnet, sie vom Baum zu holen. Er schien geschmeidig wie ein Löwe zu sein.
„Kannst du allein aufsteigen?"
Zögernd neigte sie den Kopf zur Seite und betrachtete das Profil seines Pferdes, das mit spitzen Ohren wartend dastand.
„Nicht mit der Verletzung", gestand sie widerwillig. Hoffentlich kam er nicht auf die Idee, sie hochzuwerfen oder nach oben zu reißen.
„Kannst du überhaupt reiten?", fragte er und ihr war, als zöge er gleichzeitig seine Augenbrauen in die Höhe.
„Nicht ... wirklich?", erwiderte sie kleinlaut. „Ich bin früher hin und wieder auf einem Pferd gesessen. Meine ...", fing Khione an, brach aber die Erinnerung ab.
„Dann sitzt du vor mir", entschied Makhah.
„N-Nicht notwendig!", wehrte Khione sofort ab. „Ich laufe."
„Kommt nicht in Frage. Ich habe nicht vor, den Weg zu Fuß zurückzulegen", sagte Makhah in einem Ton, der sie verstummen ließ.
Er war wütend, da gab es keinen Zweifel. Vielleicht war es besser, wenn sie ihn nicht weiter reizte. Seufzend stellte sie sich an die Schulter seines Pferdes, griff in dessen Mähne und winkelte ihr Bein an. Daraufhin beförderte Makhah sie mit einem Schwung nach oben, der sie fast auf die andere Seite wieder herunterfallen ließ. Krampfhaft hielt sich Khione am Mähnenschopf fest und war insgeheim froh, dass das Oberhaupt sie nicht losgelassen hatte.
Wenige Sekunden später saß er hinter ihr und nahm die Zügel in eine Hand. Diese bestanden aus einem Seil, das mit Knoten zu einer Trense geformt war. Khione war aufgefallen, dass die Pferde der Arakis keine metallischen Gebisse trugen, sondern nur mit einem Strang um den Pferdehals oder mit dieser einfachen Trense geritten wurden. Zudem ritten sie ohne Sattel.
Bevor Makhah das Tier in Bewegung setzte, rückte sie leicht nach vorne und krallte sich am Mähnenkamm fest. Sie wollte das Oberhaupt so wenig wie möglich berühren und war froh, dass die Abneigung auf Gegenseitigkeit beruhte. Auch er hielt einen Abstand zu ihr ein und seine Hände bei sich, aber sie spürte seine Wärme in ihrem Rücken, die die Kälte langsam aus ihrem Körper vertrieb.
Als er sein Pferd antrieb, nahm sie das kraftvolle Muskelspiel unter sich wahr. Jeder Schritt war ausholend und schwungvoll, aber Khione blieb verkrampft. Sie traute weder dem Tier noch Makhah über den Weg.
Schweigend ritten sie durch die Nacht, bis sich die Dunkelheit nach und nach zurückzog und dem Morgen Platz machte. Mit dem Kopf zum Himmel gewandt sah Khione, wie die Sterne verblassten. Der Anblick des Flusses ließ einen Plan in ihr reifen.
„Können wir bitte kurz anhalten? Ich bin durstig", bat sie leise und mit heftigem Herzklopfen.
Brummend hielt Makhah an und stieg ab. „Beeil dich", befahl er unwirsch.
Ungelenkig rutschte Khione vom Pferd und näherte sich dem Flussbett. Inständig hoffte sie, dass ihr Plan aufging. Sie ging in die Knie und schöpfte mit den Händen das Wasser, wobei sie sich absichtlich Zeit ließ und dabei so unauffällig wie möglich näher an das Ufer rückte.
„Bist du endlich fertig?"
Makhahs Frage ließ sie tief durchatmen und aufstehen. Mit einem kleinen Lächeln drehte sie sich zu ihm um. Er sah müde aus und schien sich ausruhen zu wollen. Nach allem, was passiert war, war das kein Wunder. Das war nachvollziehbar und für einen Moment empfand Khione ihm gegenüber sogar Mitleid. Dieser Funke verschwand jedoch in einem Wimpernschlag. Er hatte seine Wut und seinen Frust an ihr ausgelassen, obwohl sie nichts für die Geschehnisse konnte. Hätte er sie nicht davongejagt, wäre ihm die Suche erspart geblieben.
„Los, steig auf", forderte Makhah mit einem Nicken zu seinem Hengst.
„Nur über meine Leiche ...", erwiderte Khione, stürzte sich, ohne zu zögern, in den Fluss und ließ sich vom eisigen Wasser mitreißen.
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