Kapitel 50
Zärtlich strich Khione Sakaris Stirnhaare zur Seite und drückte einen Kuss auf ihren kleinen, weißen Fleck. Der kurze Ausritt mit Sabah hatte ihre Sinne beflügelt und sie bemerkte, wie sehr ihr das regelmäßige Reiten fehlte. Ihre Beine zitterten so, dass sie bei jedem Schritt ins Wanken kam.
„Möchtest du, dass ich dir ein Bad einlasse?", fragte Makhahs Schwester. „Ich komme dann und helfe beim Laufen", schlug sie vor.
Dankbar nickte Khione. Schon jetzt nahm sie jeden einzelnen Muskel in ihrem Körper wahr, daher war warmes Wasser genau das Richtige. Zudem würde es ihr helfen, sich innerlich aufzuwärmen. Der wolkenlose Himmel versprach erneut eine klirrend kalte Nacht. Seitdem Khione wieder im Stall schlief, schien das Wetter alles daran zu setzen, sie zu vertreiben. Davon ließ sie sich jedoch nicht abbringen. Asku hatte ihr zusätzliche Felle besorgt, mit denen sie warm blieb. Dafür hatte sie ihn gebeten, dickere Kleidung zu tragen.
„Ich bin bald wieder da", sagte Sabah und ließ sie stehen.
Nachdenklich sah Khione ihr nach. Ihr Eifer in allen Ehren, aber es war noch immer merkwürdig, eine Dienerin zu haben. Daran würde sie sich nie gewöhnen. Sie brachte es nicht fertig, Makhahs Schwester als eine zu sehen, was vorrangig an ihrer Freundschaft lag.
Kaum war Sabah zwischen den Reihen der Khemahs verschwunden, wandte sich Khione wieder Sakari zu und sah in deren dunkle Augen, die sie liebevoll ansahen. „Gibt es bei euch Diener?", fragte sie schmunzelnd und rieb ihr sanft über die Nüstern. Die Vorstellung, wie die Pferde davonstoben, um Denali etwas zu bringen, ließ sie leise glucksen.
Minutenlang kraulte Khione Sakaris flauschige Ohren und grübelte. „Wie es wohl beim König und bei den reichen Leuten ist? Sicher rühren sie keinen Finger und haben für jede Kleinigkeit Diener. Ob sie überhaupt einen Moment für sich haben?", überlegte sie laut. So könnte sie nicht leben. Sie brauchte die Bewegung und Arbeit, ohne sie würde Khione verkümmern.
„Führst du Selbstgespräche?"
Khione warf einen Blick über ihre Schulter und lachte. „Nicht ganz. Ich unterhalte mich mit Sakari", bemerkte sie und drehte sich halb zu Asku um. „Eine Antwort werde ich zwar nicht erhalten, aber sie hört zu, egal, was ich sage."
„Tiere sind die besten Zuhörer", stimmte Asku zu und nickte in die Richtung der Burg. „Ich glaube, Sabah kommt."
Eilig verabschiedete sich Khione von ihrer Stute mit dem Versprechen, sie vor dem Schlafengehen noch einmal zu besuchen. „Ich bringe dir ein Leckerchen mit", flüsterte sie und schlüpfte an Asku vorbei, der ihr das Weidentor offenhielt. Sie konnte es kaum erwarten, sich ins heiße Wasser zu begeben und zu entspannen.
Am späten Abend schlenderte Khione durch die Reihen der Khemahs. In den meisten war es still, aber in einem hörte sie das Weinen eines Kleinkindes, das mit geduldigem Flüstern nach kurzer Zeit nachließ. Die Art, wie ruhig die Arakis mit ihren Kindern umgingen und sie erzogen, bewunderte sie zutiefst. Sie waren ihnen genauso heilig wie ihre Frauen und die Früchte ihrer Arbeit wurde schon bei den Kleinsten sichtbar. Es gab weder Schreien noch Schläge, wie sie es aus Mija Wa kannte.
Khione blieb stehen und warf einen Blick zur Burg. Sie lag völlig in Dunkelheit gehüllt, nur die Fackeln auf dem Burghof spendeten ein wenig Licht. Heimlich fragte sie sich, was für ein Vater Makhah wäre. Sein Umgang mit den Kindern der anderen war liebevoll und respektvoll.
Als ihr der Traum mit ihm und dem Kind in den Sinn kam, spürte sie einen Stich in der Brust. Leise seufzte sie und rieb sich die Stirn, bis diese prickelte. Das half ihr, die Gedanken zu ordnen. Sie musste die Vergangenheit und ihr Wunschdenken loslassen, wenn sie nicht wie ihre Mutter enden wollte.
Khione ließ ihren Blick in den sternenreichen Nachthimmel schweifen und atmete tief durch. Die tanzenden, grünen Lichter über Pah Koha, in die sich selten ein Rosa und Rot mischten, färbten die noch schneebedeckten Bergspitzen. Es kam Khione wie eine geheimnisvolle Magie der Natur vor. Im Unterricht hatte sie gelernt, dass die Arakis sie Fackeln der Götter nannten. Sie zeigten den Verstorbenen den Weg ins Paradies und begleiteten sie dorthin. Das beruhigte Khione und in gewisser Weise hatte es eine heilende Wirkung.
Nach einigen Minuten setzte sie sich wieder in Bewegung und stattete Sakari den versprochenen Besuch ab. Außer ein paar getrocknete Apfelringe hatte sie nichts gefunden, doch das schien der Stute zu reichen. Dankbar rieb sie ihren Kopf an Khiones Schulter und ließ sich die Ohren kraulen. Auch Denali kam und forderte Aufmerksamkeit, die sie ihm gern zukommen ließ. Als sich die Nüstern der Pferde trafen, quietschte Sakari und stob mit erhobenem Schweif davon. Kichernd gab Khione dem Hengst einen liebevollen Klaps auf den Hals und verließ die Weide wieder.
Wenig später betrat sie den Stall, der durch zwei Laternen an der letzten Box erleuchtet wurde. Khione hatte Aponi dorthin verlegt, da diese ein bisschen größer war. Die Kerzen, die die Arakis selbst aus Bienenwachs herstellten, spendeten angenehmes Licht und brannten länger als andere. Gleichzeitig strahlten sie mehr Wärme aus. Bis vor kurzem hatte Khione diese Art von Kerzen nicht gekannt.
Ein Kratzen und Schaben in der hintersten Ecke ließ sie abrupt innehalten. Ihr Herzschlag beschleunigte sich schlagartig so stark, dass sie ihn deutlich am Hals wahrnahm. Mutig, aber mit staubtrockenem Mund und einem Druckgefühl im Magen schlich sie näher, jederzeit zur Flucht bereit. Sie vertraute auf Askus Hilfe, doch die Furcht lähmte sie fast. Nur noch ein winziges Stück ...
Plötzlich tauchte eine schwarze Gestalt vor ihr auf, die sie mit einem kleinen Schrei zurücktaumeln ließ. Im letzten Moment griff jemand nach ihrem Handgelenk und verhinderte den Fall.
„Khione, ich bin es", murmelte Makhah.
„W-Was machst du hier?", stotterte sie und versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Mit jedem Blinzeln wurde seine Silhouette deutlicher.
„Ich möchte in der Nähe meiner Frau sein", erklärte er leise.
Khiones Atem stockte und sie wich keuchend einen Schritt zurück.
Sofort hob Makhah abwehrend die Hände. „Keine Sorge, ich habe nichts vor", versicherte er und trat zur Seite.
Mulmig sah Khione an ihm vorbei und entdeckte eine Laterne, die auf einem Stein platziert war. Sie spendete gerade genug Licht, um einen weiteren Heuballen ihrem gegenüber zu erkennen, auf dem Felle ausgebreitet lagen. „Was hat das zu bedeuten?", krächzte sie mit einem Blick zu Makhah.
„Da du nicht in der Burg schläfst, komme ich zu dir. Ich möchte Zeit mit dir verbringen und sichergehen, dass du es warm hast", antwortete er. Als Asku neben sie trat, sah er seinem Freund fest in die Augen. „Ich habe nichts mit ihr vor", sagte er ernst. „Daher habe ich das Lager auf der anderen Seite vorbereitet."
Unschlüssig wiegte Khione den Kopf hin und her. Einerseits war ihr nicht wohl, andererseits sah sie darin eine Möglichkeit, sich direkt mit den negativen Geschehnissen auseinanderzusetzen und ihm wieder näher zu kommen. Sie tauschte einen Blick mit Asku aus, der ihr mit einem stummen, fast unmerklichen Nicken versicherte, dass es ihre Entscheidung sei und er aufpassen würde. Daher gab sich Khione einen Ruck. „In Ordnung", meinte sie nach gründlicher Überlegung. Dennoch hatte sie ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, als sie an Makhah vorbeilief und sich auf ihr Nachtlager setzte. „Wie lange bist du schon hier?", erkundigte sie sich flüsternd.
„Ich bin nach dem Abendessen gekommen", antwortete Makhah und ließ sich ihr gegenüber nieder. „Aponi beißt sich immer wieder in die Seite, legt sich hin und ist unruhig. Das sind Anzeichen der bevorstehenden Geburt."
„Meinst du, das Fohlen kommt heute Nacht?", fragte Khione.
Nachdenklich rieb sich Makhah sein Kinn und klopfte auf sein Nachtlager, damit sich Asku zu ihnen setzte. Sobald sein Freund neben ihm saß, lehnte er sich auf seine Unterarme zurück. „Das ist möglich, aber die Natur hat ihre eigenen Regeln. Vielleicht wartet Aponi auf den Neumond."
„Das ist in zwei Tagen", bemerkte Khione mitfühlend und kuschelte sich in eines der Felle. Sie boten weitaus mehr Schutz als normale Decken, was ihr vor allem im Stall zugutekam. Einige Bretter ließen jeden noch so leichten Luftzug durch, weshalb sie vorhatte, sobald wie möglich einen neuen Stall zu bauen. Da sie Zeit zu überbrücken hatten, sprach sie es an.
Bald darauf waren sie in das Thema vertieft, ohne Aponi zu stören, denn sie unterhielten sich nur im Flüsterton und achteten auf die Geräusche der Stute. Als Khione ihr Gähnen nicht mehr zurückhalten konnte, bot Makhah an, die Nachtwache zu halten. „Ich wecke dich in ein paar Stunden", schlug er vor.
„Danke. Gute Nacht, ihr zwei", murmelte Khione erleichtert. Das mulmige Gefühl im Magen hatte nachgelassen, weshalb sie sich ohne zu zögern hinlegte und nach wenigen Minuten einschlief.
Zwei Nächte später trat Makhahs Prophezeiung tatsächlich ein. Nach einem Besuch im Tempel zog er sich mit Asku und Khione in den Stall zurück. Während die Araki die Neumondnacht singend und tanzend feierten, kniete er neben ihr auf ihrem Nachtlager und spähte über die Holzwand in die Box.
Aponi schien sich an den Geräuschen von draußen nicht zu stören. Schwer atmend lag sie auf der Seite und kämpfte mit den Wehen. Immer wieder ging ein Ruck durch ihren Körper und sie krampfte zusammen.
„Seht, die Hufen kommen!", flüsterte Khione aufgeregt. Ohne zu überlegen, griff sie nach seiner Hand und drückte sie bei jeder Presswehe fest. Die Situation fesselte sie sichtbar.
Makhah schmunzelte über ihr Mitfiebern, doch ihm erging es nicht anders. Zwar hatte er etliche Geburten miterlebt, aber diese hier war besonders, weil er ihr mit Khione beiwohnte. Er genoss jeden Augenblick in ihrer Nähe und linste zwischendurch zu ihr hinüber. Dabei bemerkte er, wie ihre Augen im Licht der Laterne glänzten. Das ließ sein Herz schneller schlagen.
„Was ist mit ihr?", wollte Khione wissen, als das Fohlen halb aus dem Mutterleib war, Aponi aber regungslos liegenblieb.
„Sie legt nur eine Pause ein", beruhigte Makhah. Er nahm deutlich ihre Angst und Unsicherheit wahr. „Es ist alles in Ordnung. Die Geburt ist anstrengend und sie ruht sich zwischendrin aus."
„Es besteht keine Gefahr für die beiden?", hakte Khione nach.
„Nein. Es bedarf nur noch ein paar Wehen. Das meiste ist geschafft."
Tatsächlich fing Aponi kurz darauf wieder mit dem Pressen an und der Rest des Fohlens kam in einem Rutsch heraus.
Der laute Platsch ließ Khione jubeln. Stürmisch umarmte sie Makhah und drückte sich an ihn. Vorsichtig legte er seinen Arm um sie und lächelte, da sie nicht zusammenzuckte. Scheinbar hatte ihre Anspannung ihm gegenüber nachgelassen und das erleichterte ihn.
Als Khione ihren Kopf hob, sah er eine Feuchte in ihren Augen, die sie sich eilig mit dem Handrücken wegwischte und nach ihrer Laterne griff. „Es ist wunderschön", hauchte sie beim Anblick des dunklen, fast schwarzen Fohlens entzückt. „Es hat zwei weiße Beine und eine Blesse."
„In der Tat", erwiderte Makhah, wobei er lose seinen Arm um Khione hielt.
Leicht lehnte sie sich gegen ihn und atmete aus. Um sicherzugehen und nichts Ungewolltes zu tun, fragte er leise, ob er sie ein wenig fester umarmen dürfte. Daraufhin nickte sie und legte ihren Kopf an seine Schulter. Mit ihr an seiner Seite beobachtete er das Fohlen, das unbeholfen im Stroh lag und versuchte, dessen Glieder zu ordnen.
Mit geschlossenen Augen dankte er der Göttin für das neue Leben, das er als Hoffnungsschimmer für Khione und sich sah. Die Neumondnacht hätte nicht besser verlaufen können.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top