Kapitel 47
Gedankenverloren stand Khione nach dem Aufstehen am Fenster und betrachtete die Finsternis, die langsam in ein Blau überlief, das die Sterne verblassen ließ. Fest rieb sie sich über ihre Arme und gähnte. Erneut hatten sie Albträume heimgesucht, die für eisige Kälte in ihren Gliedern sorgten und ihren Kopf in Watte packten. Der Schock steckte ihr selbst nach Tagen noch in den Knochen. Jede Nacht wachte sie schweißgebadet mit einem Schrei auf, der sich mit dem Donnern und Poltern des Einsturzes vermischte. Oft wusste sie nicht mehr, was Realität und Traum war.
Hoffentlich lässt es bald nach, dachte Khione. Für Makhahs Versorgung brauchte sie ihre volle Aufmerksamkeit. Zum Glück hatte sie Sabah darum gebeten, ihrem Bruder morgens und abends eine Schüssel heißes Wasser zu bringen. So hatte sie einige Zeit für sich und konnte ihre Gedanken ordnen. Das war gar nicht so leicht, denn nach solchen Nächten herrschte in ihrem Kopf das reinste Chaos.
Keiner gab ihr die Schuld, aber ihr war bewusst, dass sie sich gleich um das Problem hätte kümmern müssen. Nur so hätte sie die Katastrophe verhindert. Zwar hatte Makhah mehrmals versichert, dass alles ein unglücklicher Zufall war, doch tief in ihr schlummerte das schlechte Gewissen. Das Gefühl ließ sich auch nicht durch seine Erklärung lindern, dass die Arakis solche Besprechungen oft auf den Winter verlegten. So hatten sie wegen des Bodenfrosts bis zum Frühjahr Zeit zur Planung. Trotzdem brachte niemand Khione von ihrer Meinung ab: Sie war verantwortlich für den Unfall.
Wenigstens heilten Makhahs Wunden, was nicht nur an den Salben und Tränken lag. Täglich versorgte Khione diese unter Pahras Aufsicht, bis diese keinen Grund mehr sah, ihn weiterhin im Heilerflügel zu behalten. Daher verlegten sie die Behandlung auf sein Schlafgemach. Die erste Nacht blieb Khione im Flügel der Heilerin, doch um für Makhah da zu sein, sprang sie am nächsten über ihren Schatten und kehrte in ihr Eigenes zurück. So sparte sie an Zeit und Weg, denn Pahra erlaubte ihr, die benötigten Salben und Kräuter mit aufs Zimmer zu nehmen.
Leise seufzend rieb sich Khione die Stirn und schloss für einen Moment die Augen. Wie immer beschäftigte sie sich mit dem Wenn und Aber. Hätte sie Makhah nicht mitgenommen, wäre dieser jetzt unverletzt. Seine Schwester war zwar über den Vorfall bestürzt, doch sie schien gleichzeitig die Möglichkeit zu sehen, wieder ihre Bedienstete zu sein, und wenn es nur heißes Wasser holen war.
Am Rande nahm Khione wahr, wie jemand leise anklopfte und die Tür öffnete. Langsam drehte sie sich um und erblickte Sabah.
„Shihara? Die Schüssel ist bei Makhah. Soll ich dir in der Zwischenzeit ein Bad einlassen?", erkundigte sie sich.
„Danke, nein", erwiderte sie hastig. Trotz der zahlreichen Angebote brachte es Khione nicht fertig, Sabah an sich heranzulassen. Ihr war bewusst, wie ungerecht sie sich ihr gegenüber verhielt, doch sie vermied noch immer Berührungen, die nicht zwingend notwendig waren. Sogar Makhah fragte stets, bevor er sie anfasste, und respektierte es, wenn sie verneinte. „Kannst du mir stattdessen eine eigene Schüssel mit heißem Wasser bringen? Ich reinige mich nach der Versorgung."
Eifrig nickte Sabah mit einem Blick, den Khione zu gut kannte. Das dringende Bedürfnis, anderen zu helfen, war tief in Makhahs Schwester verankert. „Wenn ich etwas für dich tun kann, lass es mich wissen", bat sie leise.
„Das werde ich", versprach Khione, woraufhin sich Sabah mit einer kleinen Verneigung zurückzog. Sie wandte sich wieder dem Fenster zu und beobachtete, wie sich ein milchiges Band über den Himmel zog, das durch die aufgehende Sonne in ein zartes Rosa getaucht wurde. Sobald es in ein Orange überging, hatte sich Khione unter Kontrolle.
Von ihrer Kommode schnappte sie sich die Salben, Kräuter und Verbände und trat mit einem tiefen Atemzug auf den Flur. Der schnellste Weg zu Makhahs Schlafgemach wäre durch zwar das gemeinsame, doch sie weigerte sich, auch nur einen Fuß hineinzusetzen. Die quälenden Erinnerungen kehrten jedes Mal zurück, wenn sie daran vorbeiging. Askus Anwesenheit gab ihr den Mut und Halt, den sie benötigte, aber er konnte die beklemmende Enge in ihrer Brust nicht lindern. Sie lag wie ein düsterer Schleier über Khione, der sich erst löste, wenn sie fern von den Schlafgemächern war.
Khione rüstete sich gedanklich für den kurzen Weg, ehe sie ihn mit eiligen Schritten hinter sich ließ und sich vor Makhahs Tür wiederfand. Mutig klopfte sie einmal an das dunkle Holz und trat ein.
„Guten Morgen", grüßte sie und runzelte die Stirn. Nicht wie sonst saß er auf dem Bett und wartete auf sie, sondern stand am Fenster und schien genau wie sie zuvor den Himmel zu beobachten. Er wirkte trotz der Verletzungen und seinen kurzen Haaren wie der stolze Krieger, den sie kennengelernt hatte.
Makhah drehte sich zu ihr und erwiderte den Gruß mit einem Lächeln. Er steckte in seiner Leinenhose und einem leichten Oberteil, das Knöpfe an den Seiten und Ärmeln trug und nicht über den Kopf gezogen wurde. Das erleichterte die Versorgung. „Hast du gut geschlafen?", erkundigte er sich und setzte sich aufs Bett.
Da es Khione schwerfiel, darüber zu sprechen, entschied sie sich für eine neutrale Antwort. „Es war in Ordnung", sagte sie und legte die Materialien auf die Kommode, auf der die Schüssel mit Wasser stand. Daneben lagen saubere Tücher. „Wie geht es dir?"
„Den Umständen entsprechend", bemerkte Makhah nüchtern. „Mit der Schlinge finde ich keine angenehme Position zum Liegen. Hoffentlich brauche ich sie bald nicht mehr."
„Das wird vermutlich noch dauern", meinte Khione, als sie ihm diese sanft abnahm, bevor sie anfing, die Knöpfe seines Oberteils zu öffnen. Meist hielt sie ihren Blick gesenkt, um ihn nicht anzustarren. Erst recht, wenn sie die Mondsichel über seiner linken Brust sah und seinen Herzschlag unter seiner warmen Haut fühlte. Sie konnte nicht leugnen, welch anziehende Wirkung sein muskulöser Oberkörper auf sie hatte. Das war ihr aber zu peinlich um es zuzugeben. „Wie steht es um deine anderen Verletzungen?", wollte sie wissen.
„Sie schmerzen und verhindern einen erholsamen Schlaf", seufzte Makhah. „Pahra hat mir gestern noch einen Trank gebracht, der sie leicht betäubt hat. Deswegen war die Nacht besser als die vorherigen."
„Das ist gut", erwiderte Khione und nahm die Verbände ab, ohne den Arm zu viel zu bewegen. Kritisch betrachtete sie die Wunden, die teilweise schon eine Kruste gebildet hatten. Nur die am Rücken war offen und nässte. Da der Stoff daran kleben blieb, ahnte sie, dass dessen Entfernen Makhah wehtat, aber er war tapfer und sagte nichts. Dennoch fiel ihr sein schnellerer Atem auf. „Es tut mir leid", flüsterte Khione mitleidig, doch insgeheim bewunderte sie seine Beherrschung.
„Schon in Ordnung", seufzte er und schien sich zu einem Lächeln zu zwingen. „Es gibt Schlimmeres", meinte er abwinkend.
„Das sagst du", empörte sich Khione. „Nimm die Verletzungen nicht auf die leichte Schulter, Makhah. Sie heilen zwar, aber es kann immer noch zu Komplikationen kommen", mahnte sie kopfschüttelnd und tauchte ein Tuch ins Wasser, wrang es aus und fing an, die Wunden zu säubern.
„Du hörst dich fast so an wie Pahra", sagte er mit hochgezogener Augenbraue.
Sofort fingen Khiones Wangen an zu kribbeln und wurden gefühlt so heiß wie ein Vulkan. Sollte sie seine Worte als Kompliment auffassen? Oder war es eher eine Beleidigung, da er Pahra als Hexe bezeichnete? „Gar nicht wahr", behauptete sie mit klopfendem Herzen. Verlegen klatschte sie ihm das nasse Tuch an seine gesunde Schulter.
„Sicher?", fragte Makhah so dunkel, dass Khione abrupt innehielt.
Langsam hob sie den Blick und sah ihn sprachlos an. An diese Seite von ihm war sie nicht gewöhnt und fühlte sich daher völlig überrumpelt. So sehr sie ihren Kopf anstrengte, sie fand keine passende Erwiderung. Als Makhah auf ihr Schweigen hin zu lachen anfing, schnaubte sie und versuchte, den wohligen Schauer, den seine dunkle, raue Stimme in ihr auslöste, zu verstecken.
„Ich necke dich nur", meinte er sichtbar amüsiert.
„Ganz was Neues", murmelte sie um ihre Beherrschung bemüht und tupfte die Wunde vorsichtig ab. Als sie in den Augenwinkeln mitbekam, wie Makhah die Hand hob, sprang sie sofort einen Schritt zurück und presste das nasse Tuch mit rasendem Puls, den sie sogar am Hals wahrnahm, fest an sich.
Ihre schlagartige Anspannung und das leichte Zittern entgingen ihm nicht. Mit einem Mal wirkte sie wie ein verängstigter Hase, der jederzeit zur Flucht bereit war. „Du hast immer noch Angst vor mir", stellte Makhah bedrückt fest. Sie so zu sehen, stach ihm wie ein glühendes Messer ins Herz.
„Das verwundert dich?", fragte Khione brüchig, ohne sich zu rühren.
Leicht schüttelte Makhah den Kopf. „Nein", gestand er und legte seine Hand auf seinen Oberschenkel ab. „Ich habe dir so viel angetan, dass alles andere ein Wunder wäre. Ich wünsche mir nur manchmal, dir wieder näherzukommen und dich berühren zu können", erklärte er. Das Entsetzen in ihren Augen ließ ihn schlucken, weshalb er hastig hinzufügte, dass er Umarmungen oder Hände halten meinte.
„Ich brauche Zeit", wiederholte Khione. „Ich kann nicht von heute auf morgen alles vergessen und so tun, als wäre nie etwas vorgefallen, Makhah."
„Das verstehe ich. Es tut mir leid, dich erschreckt zu haben. Das Necken hat sich so ungezwungen angefühlt, dass ich nicht nachgedacht habe", sagte er und fuhr sich leise seufzend über das Gesicht.
In Zeitlupe überwand Khione den Abstand zwischen ihnen und nahm die Reinigung wieder auf. „Ich weiß, was du meinst", erwiderte sie. „Mir erging es nicht anders."
„Im Ernst?", fragte er überrascht.
Khione bejahte, gab aber zu, dass sie nicht wusste, wie sie auf seine Neckerei reagieren sollte. Es fiele ihr weitaus leichter, mit Asku oder Inyan zu scherzen. „Sie sind kein Vulkan, der tief schlummert und bei einer unbedachten Bemerkung ausbricht."
Obwohl ihre Worte ihn trafen, hatte Makhah Verständnis. Erneut entschuldigte er sich und wurde schweigsam. Solange Khione ihn mit gewohnter Sorgfalt versorgte, hing er seinen Gedanken nach. Das Ganze war ihm allein zuzuschreiben. Er war für ihre negativen Gefühle verantwortlich, die sie trotz allem nicht an ihm ausließ. Stattdessen ging sie behutsam vor und versuchte, seine Schmerzen so gering wie möglich zu halten. Dafür schämte sich Makhah zutiefst. Noch nie hatte er eine Frau so behandelt, dass sie regelrecht Angst vor ihm hatte. Jetzt lag es an ihm, seine Fehler wieder in Ordnung zu bringen.
Die Stille im Raum unterbrach er erst, als Khione ihm neue Verbände anlegte. „Mir ist bewusst, dass du nicht gern angefasst werden möchtest, daher habe ich überlegt, dir eine kleine Treppe zu bauen, damit du leichter in den Waschzuber steigen kannst", gab er seine Idee preis.
„Hat sich Sabah wieder beschwert?", fragte Khione seufzend.
„Sie macht sich genauso Sorgen um dich wie ich", verteidigte er sie. Als sie die Rolle mit dem Stoff vorsichtig unter seinem gebrochenen Arm hervorholte, fuhr er fort. „Pahra hat dir nicht umsonst Sitzbäder verordnet. Sie sind wichtig für deine Wunden, die sich ebenso entzünden könnten wie meine, wenn du sie nicht regelmäßig versorgen und kontrollieren lässt."
Seine Worte trafen direkt ins Schwarze. Erneut hielt Khione abrupt inne und hob den Blick. Seine Augen waren dunkel, aber sie strahlten eine Besorgnis und eine Wärme aus, die sie ins Schwanken brachte. Makhah hatte recht. Sie predigte ihm bezüglich der Verletzungen, hielt sich jedoch selbst nicht daran.
„Wir wollen nur dein Bestes, Khione", flüsterte er rau. „In der Zeit, in der du hohes Fieber hattest, hatte ich jeden Tag Angst, dass du nicht mehr aufwachst. Darf ich deine Hand nehmen?"
Fast unmerklich nickte Khione. Zwischen ihnen herrschte eine knisternde Spannung, die ihre Sinne komplett benebelte und ihr jegliche Kontrolle über sich selbst raubte. Daher war sie weder in der Lage zu reagieren noch etwas zu sagen. Erst recht nicht, als Makhah ihr so nah kam, dass sein warmer Atem ihre Haut streichelte und einen Schauer in ihr auslöste, der sich bis zu ihren Zehenspitzen zog. Sobald er ihre Hand auf sein Hisokan legte, nahm sie ein Pulsieren unter ihren Fingerkuppen wahr und stellte fest, dass es ähnlich schnell wie ihr Herzschlag war. Überrascht hielt Khione die Luft an. Bedeutete das etwa ...? Weiter kam sie mit ihrem Gedanken nicht, denn Makhah zog sie mit einem tiefen Blick in ihre Augen in seinen Bann.
„Du bist mir wichtig und ich möchte, dass es dir gutgeht. Wenn ich sehe, dass du alles für eine Genesung ohne Komplikationen tust, bin ich weniger besorgt. Bitte lass dir auch von Pahra helfen und zögere nicht, sie aufzusuchen", bat er inständig und ehe sie sich versah, drückte er ihr einen Kuss so hauchzart wie eine Feder auf die Stirn.
Überrumpelt von der Geste gab Khione leise ihr Einverständnis. Makhah hatte ihr alles aus der Hand genommen und gewonnen. Sie kam nicht gegen die Gefühle an, die sich durch seine Art mit jeder Sekunde verstärkten. Schluckend strich sie sich über die Stelle, die noch immer kribbelte, selbst, nachdem er sich zurückgezogen hatte.
Während Khione die Behandlung fortsetzte, verfielen sie in Schweigen. Anfangs befürchtete sie, dass Makhah ihr Herz hörte, das so schnell gegen die Rippen trommelte wie die Arakis auf ihren Icabus, doch er sagte nichts. Vorsichtig wusch sie seinen Oberkörper und half ihm beim Anziehen. „Fertig", verkündete sie letztlich.
Lächelnd hielt Makhah ihr seine Hand hin, die sie zögernd annahm. „Danke, Khione", hauchte er mit einem Kuss auf ihren Handrücken. Gleichzeitig sah er ihr wieder so tief in die Augen, als würde er ihr in die Seele blicken.
„Gern geschehen", erwiderte sie rau. Langsam zog sie ihre Hand zurück, räusperte sich und sammelte Salben, Tücher und Verbände ein. Mit einem Nicken verließ sie fast fluchtartig sein Schlafgemach. Auf dem Flur lehnte sie sich mit dem Kopf gegen die Wand und atmete mehrmals tief ein und aus. Was war nur los mit ihr? Wieso reagierte sie plötzlich so sensibel auf Makhah? War sie etwa dabei, sich wieder in ihn zu verlieben?
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