Kapitel 45
Gedankenverloren sah Khione aus dem Fenster und erfreute sich an der Schönheit des klaren Wintertags. Zwischen den Bergspitzen spitzelte die Sonne hervor, die das Tal in ein sanftes Rot tauchte und die Eiskristalle wie Diamanten glitzern ließ. Idyllisch und ungewohnt still lag Pah Koha da. Die Tage wurden endlich länger, aber solche farbig stimmungsvollen wie heute waren selten. Es war ein zauberhaftes Bild, von dem Khione nicht genug bekam.
Daher nahm sie Kabihas Stimme nur am Rande wahr. Khione träumte von einem Ausritt mit Sakari, bei dem sie gemeinsam mit Makhah den Sonnenaufgang ansah. Seine Besorgnis und seine liebevollen Blicke gingen ihr genauso wenig aus dem Kopf wie der Traum, in dem sie ein Kind in den Armen hielt. Obwohl er eine Weile zurücklag, erinnerte sie sich an jedes Detail. Khione war sich nicht sicher, ob ihr eigenes Wunschdenken ihn ausgelöst hatte oder ob er eine Göttervision war, von der die Arakis behaupteten, es wäre ein Schicksal. Bisher hatte sie niemandem davon erzählt.
Ein Wiehern zog Khiones Aufmerksamkeit zu den Koppeln. Denali stand mit hoch erhobenem Kopf am Gatter und blähte seine Nüstern, woraufhin weiße Wölkchen in den Himmel stiegen. Stirnrunzelnd ließ Khione ihren Blick über Pah Koha schweifen. Witterte der Hengst etwa eine Gefahr? Ihre Gesichtszüge entspannten sich wieder, als sie Makhah erkannte. Daher wehte also der Wind. Denali freute sich, seinen Besitzer zu sehen, und begrüßte ihn mit einem Schnauben.
In der Winterzeit wurden die Pferde nur für Jagden und kleinere Arbeiten herangezogen. Den Rest verbrachten sie auf den Weiden und genossen ein faules Leben. Ihr dichtes, flauschiges Fell schützte sie vor den Temperaturen unter dem Nullpunkt. Sie sahen zottelig aus, aber Khione wusste, dass der zweimal im Jahr stattfindende Fellwechsel ein Rhythmus der Tiere war. Kein Araki griff in den Lauf der Natur ein, solange es nicht notwendig war.
Tehews dunkles Räuspern ließ Khione zusammenzucken. Mit glühenden Wangen sah sie eilig auf die Schriftrollen vor sich und schluckte. Wann immer Kabihas Mann beim Unterricht dabei war, hatte sie oft das Gefühl, dass er mit Argusaugen bloß darauf wartete, dass sie einen Fehler beging. Natürlich war das reine Einbildung, denn Khione verstand sich mit Tehew und kam mit seiner wortkargen Art zurecht. Anfangs hatte sie angenommen, dass er sie hasste, da er Ahyokas Bruder war, doch nach einer Weile hatte sie bemerkt, dass er nur getrauert hatte.
„Der Frühling steht an. Sobald der Schnee geschmolzen ist, kommen ein paar vom Terikan im Norden", sagte Kabiha.
„Yakari?", wollte Khione wissen.
Die Ältere schüttelte den Kopf. „Nein, Shayan und seine Frau Amadahy. Sie leben mit ihrem Terikan im Nordwesten der Berge", erklärte sie. „Yakari ist im Nordosten zuhause."
„Ah", erwiderte Khione mit dem Finger schnippend. Wieder hatte sie etwas Neues gelernt. Eilig schrieb sie eine kleine Notiz dazu auf.
„Danach steht der Kontrollritt an. Welche Entscheidung würdest du treffen, wenn es um die Strecke geht?", fragte Tehew.
Nachdenklich zog Khione das gelbe, ausgeblichene Papier heran, das das Siegel des Königs trug. Was das bedeutete, war ihr bewusst: Er war derjenige, der den Bau der Burg veranlasst hatte. Sicher für einen Landlord, den er mit der Betreuung der Berge beauftragt hatte. Bei der Vorstellung wurde ihr übel. Sie wollte sich nicht ausmalen, was mit den Arakis passiert wäre, wenn Makhah sie nicht in die Flucht geschlagen hätte.
„Das letzte Mal sind wir von der östlichen Seite in den Süden und über den Westen wieder nach Hause geritten", meinte sie. In Gedanken rief sie sich Makhahs Worte in Erinnerung, welche Strecken sie abritten. Pah Koha war für den gesamten Süden verantwortlich. „Ich würde vorschlagen, wir reiten umgekehrt. So, wie damals, als ..." Scheu sah sie zu Tehew, der mit einem Brummen nickte. Abrupt brach sie ab und biss sich auf die Lippen. Khione wollte ihn nicht unnötig an den unglücklichen Moment ihres Zusammenstoßes erinnern. In ihrem Kopf suchte sie nach einer geeigneten Umschreibung für die unangenehme Zeit, aber auf Anhieb fand sie keine. „Es tut mir leid", murmelte sie bekümmert.
„Wir können das Geschehene nicht ändern", erwiderte er. Tehew legte seinen Finger auf die Karte und fragte, ob sie die Strecke selbst ablesen könne. „Es gibt manchmal kleinere Umwege, die wir reiten."
Angestrengt starrte Khione auf die Zeichnung und fand einige Wege, die in Frage kämen. Kabiha und Tehew verfielen in Schweigen, als wollten sie ihr Zeit zum Überlegen geben. Die Ruhe im Kaminzimmer war angenehm, aber gleichzeitig bedrückend. Khione verstand nicht, weshalb sie plötzlich von einer Unruhe gepackt wurde, die ihr schwer im Magen lag. Es war wie eine schreckliche Vorahnung, die sie nicht losließ.
„Geht es dir gut, mein Kind?", fragte Kabiha besorgt. „Du siehst bleich aus."
„N-Nein, es ist alles in Ordnung", stotterte Khione und zupfte sich die Haube auf dem Kopf zurecht. Sabah hatte auf Pahras Vorschlag eine aus Leinentuch gebundene angefertigt, um nicht ungeschützt den Temperaturen ausgesetzt zu sein. In den genutzten Räumen der Burg war es zwar warm, doch auf den Fluren war es eisig.
„Bist du sicher?", hakte Kabiha mit gerunzelter Stirn nach.
„Ja", antwortete Khione mit fester Stimme, obwohl das Gegenteil der Fall war. Es lag ihr jedoch fern, die anderen jetzt zu beunruhigen. Bis zum Ritt war noch Zeit und vielleicht legte sich bis dahin das Gefühl. Ansonsten würde sie vor dem Aufbruch mit den Arakis darüber reden. Um weitere Fragen zu vermeiden, erklärte sie den Weg, der ihr am logischsten vorkam. „Wir reiten hier ... über ...", meinte sie und ließ dabei ihren Finger langsam die Strecke entlangwandern.
Ein plötzliches Klopfen unterbrach sie. Asku, der wie immer anwesend war, warf ihr einen fragenden Blick zu, den sie mit einem Nicken erwiderte. Daraufhin öffnete er die Tür und Inyan trat ein.
„Shihara, ich würde gern mit dir über den Gerberunterstand reden", sagte er, blieb aber neben Asku stehen.
Khione winkte ihn zu sich und setzte sich aufrecht hin. „Was gibt es?"
Er räusperte sich und fuhr sich mit den Fingern durch seine langen Haare. In der Winterzeit widmete er sich der Verarbeitung der erlegten Tiere und um das Freihalten der Wege rund um Pah Koha, aber sie sah ihm an, wie er das Gerben vermisste. „Der Rohbau ist brüchig und sollte entweder erneuert oder auf einen neuen Standort verlegt werden."
„Stand er früher woanders?", erkundigte sich Khione.
„Ja, wir hatten ihn verlegt, da der Boden nach einer Überflutung zu viel Wasser gespeichert und Moos produziert hat", erklärte Inyan. „Der jetzige Standort hat einen besseren Abfluss, aber einen etwas längeren Weg zu Krishna. Durch das Wetter ist das Holzdach morsch geworden. Wir haben es immer wieder ausgebessert, doch jetzt greift es auch den Rohbau an", fügte er hinzu.
Einen Augenblick überlegte Khione, Makhah in die Entscheidung einzubeziehen. Er hatte Erfahrung darin und würde sicher ein paar Vorschläge geben. Sein Wissen war bestimmt hilfreich und sie sah keinerlei Grund, das nicht zu nutzen, nur weil er kein Shiharu mehr war. „Ich möchte mir das Problem genauer ansehen", sagte sie. „Ich schlage vor, wir treffen uns morgen dort, wenn die Sonne ihren Höchststand erreicht. Ich bringe Makhah mit."
„Einverstanden", stimmte Inyan zu. „Wir finden sicher eine Lösung", meinte er zuversichtlich. Für ihn schien es kein Problem zu sein, sich an eine weitaus jüngere Shihara zu wenden. „Taira und ich haben uns schon über mögliche Standorte unterhalten. Wir sind gespannt, was ihr dazu sagt."
„Wir sehen uns morgen, Inyan", erwiderte Khione mit einem Lächeln und sah zu, wie dieser sich leicht verneigte und sich zurückzog. Sobald die Tür ins Schloss fiel, wandte sie sich an Tehew. „Kommst du auch mit?", fragte sie hoffnungsvoll.
„Wenn du das möchtest, sehr gern", antwortete Kabihas Mann mit einem Nicken.
„Wo war ich vorhin stehengeblieben?", überlegte Khione mit einem Blick auf die Karte. Kabiha lehnte sich leicht vor und zeigte auf die Stelle. Zum Glück erinnerte sie sich wieder sofort. „Danke", freute sich Khione und versuchte, ihre Gedanken nicht vom Unterricht abschweifen zu lassen.
Gemeinsam besprachen sie die von ihr ausgewählte Strecke, wobei Tehew die Vor- und Nachteile erklärte. Da der Frühling noch nicht in den Startlöchern stand, verlegten sie die Entscheidung auf einen späteren Zeitpunkt. Dafür spielten sie verschiedene Szenarien durch, die Khione teilweise an ihre Grenzen brachten. Sie bemerkte, dass es gar nicht so leicht war, ein Urteil aus dem Stegreif zu fällen. Es gab so viel zu beachten, um das Gleichgewicht der Natur und der Menschen nicht zu stören.
Dennoch gab sich Khione größte Mühe. Sie nahm ihre Position ernst und wollte die Shihara sein, denen die Arakis vertrauten. Eine, auf die sie stolz waren, egal, woher sie kam.
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