Kapitel 44
Knapp eine Woche später saß Khione bei Pahra und beobachtete, wie diese alles für die Paste zurechtlegte. Sie war allein mit der Heilerin, da Sabah bei den Vorbereitungen zur Soyala half. Seit zwei Tagen waren die Arakis damit beschäftigt, Pah Koha für die Wintersonnenwende vorzubereiten. Ihre Vorfreude steckte Khione an, doch da sie noch lange nicht bei Kräften war, hielt sich ihre Hilfe in Grenzen. Vor allem Makhah zeigte seine Sorge. Wann immer sie sich sahen, bat er sie, es langsam anzugehen. Trotzdem ließ sie es sich nicht nehmen, mitzumachen, solange sie Energie dazu hatte.
Einen Augenblick sah Khione nach draußen auf den Burghof und nickte leicht. In der Mitte war das Holz bereits für das Lagerfeuer geschichtet und ein paar Männer waren gerade dabei, Holzstämme drumherum aufzustellen. Sie freute sich auf das Fest und darauf, Avillas Festessen zu genießen. Schon seit dem frühen Morgen war die Köchin auf den Beinen und führte das Regime über die Freiwilligen in der Küche.
„Hilfst du mir bitte, indem du das Auffangtuch beim Transport unter die Blumen hältst?", riss Pahra sie aus ihren Gedanken.
Hastig stand Khione auf, schnappte sich das Leinentuch und folgte der Heilerin zum Trockengestell. Sobald Pahra die Blumen vorsichtig nahm, hielt sie eilig das Tuch darunter. Durch die Trocknung waren sie so fragil, dass sich die Blätter bei der kleinsten Bewegung von der Blüte lösten. Das bemerkte Khione bei jedem Schritt, den sie bis zum Tisch zurücklegten.
Sobald sie im Mörser lagen, fing Pahra an, sie behutsam zu zerreiben. Dadurch stieg das Pulver sogar leicht in die Luft und kitzelte in Khiones Nase. Um ein Niesen zu verhindern, hielt sie sich diese zu und konzentrierte sich auf die winzigen Teilchen, die im Licht der Kerzen leuchteten. Es war faszinierend, was die Natur zustande brachte.
„Ist das Leuchten nicht schädlich?", fragte sie ehrfürchtig.
„Nein, das denke ich nicht", erwiderte Pahra. „Es gibt keine nachweislichen Aufzeichnungen. Zudem schwören die Arakis darauf, dass sie eine Verbindung zur Göttin darstellt", fügte sie hinzu.
„Makhah hat davon erzählt", meinte Khione eifrig. „Es hat etwas mit dem Lauf der Sonne zu tun."
Die Lippen zu einem kleinen Lächeln verzogen warf Pahra ihr einen Blick zu. „Ja, die Arakis simulieren beim Tanzen ihren Lauf. Bei ihnen bedeutet das Leuchten einen Neuanfang. Sie lassen das Alte zurück und sehen in die Zukunft. So wie das Wasser im Fluss Krishna. Es bleibt nie stehen", fuhr sie während des Zerreibens fort. „Daher heißen sie auch Krieger des Lichts."
Krieger des Lichts ... Eine passende Beschreibung, dachte Khione. Nachdenklich tippte sie sich mit dem Finger an die Nase und rieb sich dort. Das, was Pahra erzählte, war einleuchtend und verständlicher als so manche andere Mythen der Sheikahs. „Glaubst du an die Legende von Göttin Inara und an die Traditionen?", wollte sie wissen. In dem Punkt war die Heilerin nicht leicht einzuschätzen. Manchmal kam es ihr so vor, als würde sich Pahra darüber lustig machen.
„Sehe ich so aus?", fragte Pahra nüchtern, aber mit einem gewissen Unterton, der Khione glucksen ließ. „Mir gefällt ihre Denk- und Lebensweise. Sie ist so natürlich und nachvollziehbar. Eigentlich glaube ich nicht an Götter, doch Inara hat etwas an sich, das sich nicht leugnen lässt."
Genauso erging es Khione. Es war nicht leicht zu beschreiben, was es war, aber Inara wurde so von den Arakis eingebunden, als wäre sie ein Mensch und würde unter ihnen leben. Das allein ließ die Legenden um sie glaubhaft und realistisch werden.
„Das Pulver ist fertig", verkündete Pahra und schob den Mörser zur Seite. Aus dem Regal holte sie eine hölzerne Schüssel, in die sie neben dem Tierfett auch Honig gab, der von den Arakis im Sommer gesammelt wurde. Hinzu kamen ein paar Kräuter, die einen wohlduftenden, kräftigen Geruch verströmten. Tief sog Khione ihn ein und seufzte leise. „Weißt du, früher waren die Arakis ähnlich wie Nomaden. Um die Natur in Azura nicht zu schädigen, wechselten sie jedes Jahr ihren Platz, damit sich die Benutzten wieder erholten. Das hat sich geändert, als die Sheikahs einfielen", erzählte sie. „Sie haben Mutter Natur ihrer natürlichen Rohstoffe beraubt und nicht darauf geachtet, dass die Welt im Einklang bleibt. Seither hat sich Azuras Ökosystem komplett verändert. Ich kann nicht behaupten, dass es mir gefällt. Als Heilerin ist eine gesunde Flora und Fauna wichtig und die bekomme ich hier."
„Wie bist du eigentlich bei den Arakis gelandet?", fragte Khione. Obwohl sie sie schon viel früher darüber hatte ausfragen wollen, schien erst jetzt der geeignete Augenblick zu sein. Und sie wurde nicht enttäuscht.
Solange Pahra die Zutaten zusammen rührte, sprach sie über ihre Vergangenheit. Ohne etwas zu beschönigen, erzählte sie von der schweren Zeit ihrer Familie, die rein durch Missgunst und Lüge entstanden war. „Akai – der Bruder von Makhahs Vater – hat damals die königliche Kolonne aufgehalten. Ich erinnere mich noch genau an die qualvollen Schreie und die Angst, unter dem Karren begraben zu werden. Bis heute habe ich Albträume, die mich regelmäßig heimsuchen", verriet sie und schob Khione den Mörser und einen Holzspatel zu. „Bitte gib immer nur stückweise etwas dazu", bat die Heilerin.
Wie gewünscht, kam Khione der Bitte nach. Sie genoss es, eine Hilfe zu sein und ihren Teil zu einem wichtigen Ereignis beizutragen. Insgeheim bekam sie Sehnsucht, denn der Moment fühlte sich so an, als würde sie mit ihrer Mutter in der Küche stehen und mit ihr zusammen kochen. Das Gefühl verdrängte sie jedoch einige Sekunden später wieder, da Pahras Schicksal sie bestürzte. Es zeigte ihr, wie skrupellos und hinterhältig Sheikahs oft waren, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatten. „Wie bist du hier zurechtgekommen? Es gab damals sicher auch schon Probleme zwischen den Rassen, oder?", erkundigte sie sich.
„Die gab es", bestätigte Pahra. „Trotzdem haben sich die meisten Arakis mir gegenüber normal verhalten. Sie haben mir geholfen, mich einzuleben, und haben mein Wissen nach einer Weile geschätzt. Nur ein paar waren gegen meine Existenz, aber damit konnte ich leben", meinte sie abwinkend.
„Auch Makhah?"
„Er war noch ein Säugling. Ein Schreihals, der erst Ruhe gab, wenn er bekam, was er wollte", bemerkte die Heilerin lachend.
Dann hat er sich kaum verändert, dachte Khione, hielt ihren Blick jedoch auf die Schüssel gerichtet. Je mehr sie von dem Pulver dazugab, desto heller leuchtete sie. Wann immer neues Pulver dazukam, sah es wie fließendes Wasser aus. Es war wie Magie, die aus einer anderen Welt stammte, und Khione entzückte. Ob es weitere solcher Blumen gab? „Er nennt dich Hexe", meinte sie nüchtern.
Pahra winkte ab. „Das hat er schon als Kind. Es ist egal, welche Beleidigungen er mir an den Kopf wirft. Ihm ist bewusst, was er an mir hat, selbst wenn er es nicht zeigt. Hinter seinem Dickschädel steckt ein gutherziger Mann sowie ein stolzer Krieger", sagte sie und zwinkerte Khione zu. „Wir sind hier fertig. Ich bringe sie in die Kräuterkammer. Danke für deine Hilfe."
Khione verstand den Wink und erhob sich. „Danke, Pahra. Wir sehen uns später", erwiderte sie und verließ mit einem Kribbeln im Magen den Raum. Kurz überlegte sie, ob sie sich zurückziehen sollte, doch die Geräusche auf dem Burghof waren so penetrant, dass sie keine Ruhe finden würde. Daher entschloss sie sich, die Zeit bis zum Abend in der Küche zu verbringen. Avilla konnte sicher eine weitere helfende Hand gebrauchen.
Der tiefe, gleichmäßige Gesang der Arakis hallte durch die Nacht und belebte die Stille. Er harmonierte mit dem Rhythmus der Icabus und sorgte für eine Melodie, die sich deutlich zu der am Neumond unterschied. Sie war ausgeprägter und verschaffte Khione trotz der geballten Hitze des Lagerfeuers einen Schauer nach dem anderen. Zum ersten Mal schnappte sie das eine oder andere Wort auf, und versuchte, daraus eine Verbindung herzustellen. Leicht war es nicht, da sich einige nur wie ein Nuscheln und Murmeln anhörten. Das trübte ihre Aufregung jedoch nicht.
Bewundernd sah sie den Arakis bei der Bemalung mit der Paste zu. Mit großer Sorgfalt trugen sie diese mit den Fingern auf den Oberkörpern und Armen auf. Es wirkte, als wären sie mit jedem noch so kleinen Strich vertraut.
Plötzlich wurde ihr ein Fell um die Schultern gelegt und sie wandte für einen Moment ihren Blick Makhah zu, der sich neben sie setzte. Mit den leuchtenden Streifen im Gesicht sah er ... anders aus. Majestätisch und erhaben, trotz seiner kurzen Haare.
„Bitte erkälte dich nicht", flüsterte er.
„Das sagt der Richtige", murmelte Khione. „Ihr rennt doch ohne Schutz herum", bemerkte sie kopfschüttelnd mit einem Nicken zu den Männern. Wie in den anderen Jahreszeiten waren sie oberkörperfrei und schienen sich nicht an der Kälte zu stören. Vielleicht lag es daran, dass sie sich alle in der Nähe des Lagerfeuers aufhielten.
„Wir werden nicht so schnell krank", meinte Makhah schulterzuckend. „Gefällt es dir bisher?", wollte er wissen.
Begeistert nickte Khione. „Die Stimmung ist ganz anders", ereiferte sie sich. Hinzu kam der leckere Geruch von Avillas Speisen. Sie standen auf einem Tisch, von dem sich jeder selbst bedienen konnte.
„Willst du mittanzen?"
„Ich weiß es nicht", seufzte Khione unschlüssig. Einerseits zog es sie magisch an, andererseits hatte sie nicht vor, sich zum Narren zu machen. „Ich kenne euren Tanz nicht und will ihn nicht ruinieren."
„Das ist kein Problem", versicherte er mit einem aufmunternden Lächeln. „Es macht nichts aus, wenn die Bewegungen anders sind. Würdest du ihn denn von mir lernen?"
Der Gedanke an seine Nähe beschleunigte ihren Puls und ihr Mund wurde trocken. Bedrückt senkte sie den Blick zu Boden und nestelte am Saum ihres Hemdes herum. Noch immer fiel es Khione schwer, mehr als Händehalten zuzulassen. Was sollte sie sagen?
Ihr Hadern entging Makhah nicht. Erneut wurde er auf traurige Weise daran erinnert, dass ihr Verhalten seine Schuld war. Umso bedachter war er mit seinen weiteren Worten. „Wir müssen uns nicht berühren", versprach er. „Ich führe die Bewegung vor und du machst sie mir nach. Wie klingt das für dich?", schlug er als Kompromiss vor. Inständig hoffte er, dass Khione einwilligte und ihm die Möglichkeit gab. Er wäre sogar bereit, Askus Speer zwischen sich zu akzeptieren. Sein Freund saß am Ende des Holzstammes und ließ sie nicht aus den Augen.
„Na gut", gab sie schließlich nach.
Daraufhin erhob sich Makhah und hielt ihr die Hand hin. „Komm, Sabah brennt schon darauf, dein Gesicht zu verschönern. Sie lag mir damit den ganzen Tag in den Ohren." Darüber schien Khione überrascht zu sein. Suchend sah sie sich um und er erkannte, wie sich ihre Lippen leicht verzogen, sobald sie seine Schwester bei Pahra stehend fand. So gefiel es Makhah. Das Lächeln stand ihr bezaubernd und ließ sie noch anziehender wirken, als sie ohnehin schon war.
Zögernd nahm sie seine Hand und sobald sie auf den Beinen war, liefen sie auf Sabah zu, die sofort Feuer und Flamme war. Übermütig schnappte sie sich einfach die Holzschüssel unter der Nase der Arakis und überhörte den Protest. „Ihr bekommt sie gleich wieder!", sagte sie eifrig. Fast schon triumphierend kam sie zu Khione und fing an, deren Gesicht zu bemalen.
„Eigentlich hast du es nicht nötig", murmelte Makhah. „Du bist auch ohne bildhübsch." Sein Kompliment überrumpelte Khione, das sah er an ihren Wangen, die eine dunklere Farbe annahmen. Seine Frau starrte ihn an und schien hilflos nach einer Erwiderung zu suchen, doch bevor es soweit kam, boxte Sabah ihm in die Brust.
„Das gehört dazu, Bruder!"
Womit sie nicht Unrecht hatte, aber bei Khione kam es ihm überflüssig vor. Genau wie bei Ahyoka. Beide Frauen brauchten keine Bemalung, um ihre Umgebung in ihren Bann zu ziehen. Dennoch hielt er den Mund, da sich Khione anspannte und die Lippen aufeinanderpresste. Besser, er führte sie langsam an solche Komplimente heran.
Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis seine Schwester endlich fertig war. Ihr Resultat beeindruckte ihn so sehr, dass er geräuschvoll die Luft einsog. Sabah hatte die Striche so gesetzt, dass sie von Khiones noch leicht eingefallene Wangen ablenkten, dafür aber die anderen Konturen geschickt in Szene setzte. „Du bist wunderschön", hauchte er rau. In Gedanken verwünschte er sich und nannte sich einen Idioten. Wie hatte er nur so blind sein und nicht bemerken können, wie hübsch Khione sowohl innerlich als auch äußerlich war.
„D-Danke", flüsterte sie mit Wangen so heiß wie das Feuer. Aus Gewohnheit heraus wollte sie mit dem Finger eine Strähne hinter ihr Ohr streichen, doch da nichts da war, ließ sie es so aussehen, als würde sie sich am Auge reiben. Um nicht noch mehr in Verlegenheit zu geraten, nickte sie zu den bereits tanzenden Arakis.
Die Geste verstand Makhah ohne Worte und er führte sie ein paar Schritte vom Lagerfeuer weg. Geduldig fing er an, ihr die Bewegungen vorzumachen. Nach einer Weile bekam Khione das richtige Gefühl für sie. Mit jeder Wiederholung wurde sie mutiger, bis sie einfach Makhahs Hände nahm und mit ihm und den anderen zur Musik aus Trommeln und Rasseln tanzte. Einmal kamen sie sich so nahe, dass sie seinen Atem auf der Haut wahrnahm. Das allein sorgte jedoch nicht für einen Schauer, der durch ihren Körper rieselte. Makhahs liebevoller, dunkler Blick und sein Lächeln ließen die Welt unter ihr schwanken.
„Auf ein gutes, neues Jahr, Khione", wisperte er.
„Auf ein neues Jahr, in dem alles besser wird, Makhah", hauchte sie mit klopfendem Herzen zurück.
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