Kapitel 43

„Pass auf dich auf, ja?", bat Makhah besorgt und rückte Khiones Mütze zurecht, die sie von Pahra bekommen hatte und durchs Nicken verrutschte. Er freute sich, wie übermütig ihre Augen blitzten, doch hatte er Angst, dass sie ihre eigenen Kräfte überschätzte und sich übernehmen würde. Bereits seit dem Aufstehen konnte sie kaum stillsitzen. Am liebsten würde er die drei Frauen begleiten, stattdessen hielt er sich zurück und gab Khione den Freiraum, den sie benötigte.

„Ihr beide achtet auf sie, verstanden?", wandte er sich an seine Schwester und die Heilerin.

„Das werden wir!", versprach Sabah, die ähnlich wie Khione vor Energie strotzte. „Wir sind keine Kinder!"

Makhah lächelte schief. Ihm kam genau das Gegenteil vor. „Sicher?", neckte er und fuhr ihr sanft durch die Haare, ehe er Asku einen Blick zuwarf, den sein bester Freund mit einem Nicken erwiderte. Die stumme Vereinbarung beruhigte ihn. Wenigstens hatte er eine Schaufel dabei, um den Frauen den Weg zu erleichtern. „Seid bitte vor Einbruch der Dunkelheit zurück und legt genug Pausen ein." Hoffentlich waren seine Ermahnungen nicht überflüssig.

„Keine Sorge, Makhah", versicherte auch Pahra, die zwei Körbe hielt und einen davon an Sabah reichte.

„Dein Wort in den Ohren der Göttin", murmelte er. „Wehe, sie kommt mit einem Kratzer nach Hause", warnte er mit erhobenem Finger scherzhaft, aber Sabah nickte eifrig. Solange er Khione nicht sicher wieder in Pah Koha sah, würde er unruhig bleiben.

Makhah trat zurück und sah den drei Frauen und Asku sehnsüchtig nach. Erst, als sie nicht mehr zu sehen waren, widmete er sich der Arbeit des Holzhackens. Es war wichtig, Brennholz für die kommenden Winter vorzubereiten, da die Scheite rund ein Jahr lagerten, bevor sie trocken genug waren. Die Anstrengung löste zum Teil seine Spannung, doch seine Gedanken schweiften ständig zu Khione.

Sobald sich die Holzscheite um ihn herum häuften, gönnte sich Makhah eine kleine Pause vom Hacken und fing an, sie ordentlich zu stapeln. Es hatte eine ähnlich beruhigende und zufriedenstellende Wirkung, aber er ertappte sich oft dabei, wie er immer wieder zum Wald sah.

Seitdem er keine Aislingblüte mehr nahm, um seine Gefühle für Khione zu betäuben, war seine Sorge und Angst um sie erdrückend. Was, wenn sie sich überschätzte und nicht auf die Signale ihres Körpers hörte? Immerhin hatte sie das hohe Fieber ebenfalls ignoriert ...

Bis heute blieb unklar, ob Makhahs Tat und die daraus resultierenden Wunden dafür verantwortlich waren. Pahra war der Meinung, es könnte auch von der Einarbeitung des Hirns kommen. Asku hatte bestätigt, wie fahrig sich Khione nach der Arbeit gereinigt hatte. Das war stets ein Risiko, da sich trotz des Kochens Bakterien bilden konnten. Egal, was der tatsächliche Grund war, blieb Makhah dabei und gab sich an allem allein die Schuld. Er sah es als eine Lehre für die Zukunft.

„Kommst du und hilfst beim Präparieren der Pfeile?"

Ruckartig drehte sich Makhah um und blinzelte. Sein ehemaliger Berater stand nicht weit entfernt und musterte ihn von oben bis unten. „Ja, sobald ich hier fertig bin", antwortete er.

Tehew verzog seine Lippen zu einem winzigen Lächeln. „Womit? Willst du den Schnee etwa auch noch auftürmen?"

Überrascht sah Makhah zuerst auf den Boden, dann zum Stapel. Er hatte durch das Nachdenken nicht bemerkt, wie flüssig ihm die Arbeit von der Hand gelaufen war. „Das wäre eine Möglichkeit", erwiderte er lachend. „Ich komme. Lass mich nur eben eine Plane über das Holz ziehen."

„Ich helfe dir. Zu zweit ist es leichter."

Damit hatte Tehew nicht Unrecht. In Windeseile war das Holz geschützt und sie liefen gemeinsam zum Burghof. Dort waren die Jäger bereits dabei, ihre Ausrüstung zu kontrollieren und vorzubereiten. Makhah ließ sich neben Daira nieder, die ihm Pfeile und einen kleinen Behälter mit Kurare hinschob. Die Jägerin tauchte die Spitzen in die Flüssigkeit und legte sie auf einem Stein ab. Bis zum Abend würde das Gift eingezogen sein.

Makhah tat es ihr gleich und lauschte den Gesprächen der Arakis. Es würde die letzte Jagd vor der Soyala sein. Zum ersten Mal sehnte er sich nach einem Neuanfang, in der Hoffnung, dass alles besser werden würde. Er stieß einen Pfiff aus, auf den ein Adlerschrei zurückkam. Kurz darauf ließ sich Arranoa auf seiner Schulter nieder. Sanft strich Makhah über ihren Schnabel. „Geh und pass auf Khione auf", bat er flüsternd. Als hätte die Adlerdame ihn verstanden, stieß sie sich von ihm ab und hinterließ einen Schmerz auf seiner Haut, den er jedoch kaum wahrnahm. Sein Blick galt Arranoa, die zuerst elegant einen Kreis am Himmel vollführte, ehe sie ihrem Auftrag nachkam.

„Lauft nicht zu weit vor", mahnte Pahra. „Dort hinten sind viele Steine."

Khione nickte zwar eifrig, doch sie hatte es eilig, Sabah hinterherzukommen. Obwohl ihr schon seit einiger Zeit die Puste fehlte, war der Ausflug herrlich und abwechslungsreich. Er versetzte sie in ihre Kindheit zurück und belebte sie. Es gefiel ihr, eine ihr unbekannte Strecke zu erforschen und dabei nach den speziellen Blumen Ausschau zu halten, die nur auf moosigem Untergrund florierten. Laut Pahra wuchsen sie nie an derselben Stelle und es blieb bis heute ein Mysterium, wo sie auftauchten. Trotzdem suchten sie zuerst die Plätze ab, an denen sie diese in den vergangenen Jahren gefunden hatten.

Leider wurden sie bis zum Mittag nicht fündig, weshalb sie nach einer kleinen Pause einen Pfad einschlugen, der sie zum Fuß der Berge führte. Asku verbot ausdrücklich, in der Nähe des Flusses zu suchen, da dort viele lose Steine lagen, die durch den Schnee verdeckt wurden. Zwar gab es an der Stelle eine Menge Moos, aber keiner würde das Risiko einer Verletzung eingehen. Einerseits hatte Khione Lust, sich der Anordnung zu widersetzen, andererseits war es ihr wichtiger, gesund nach Hause zu kommen. Es lag ihr fern, den anderen durch eine Leichtsinnigkeit Sorgen zu bereiten. Nur deshalb fügte sie sich und trottete Pahra und Sabah hinterher. Dabei fiel ihr auf, wie weit die Arakis ihre Wege freihielten. Sie hatte angenommen, dass es sich nur auf einen kleinen Umkreis um Pah Koha beschränkte, doch durch tägliche Kontrollritte waren sie durch die Pferde soweit niedergetrampelt und fast eben.

Asku blieb nur wenige Schritte hinter ihr, aber als der Weg breiter wurde, trat er an Khiones Seite. Seinen musternden Seitenblick verstand sie ohne Worte. „Mir geht es gut", sagte sie eilig. „Ich bin nur ein bisschen müde."

„Warte nicht, bis du am Ende deiner Kräfte bist, Shihara", murmelte Asku. „Sonst reißt Makhah mir den Kopf ab."

Obwohl es nur ein Witz war, schauderte Khione. Ihr war bewusst, dass sie im Moment nicht den ganzen Tag so unterwegs sein konnte, wie sie es gern wollte. „Lass uns hoffen, bald die Blumen zu finden", erwiderte sie mit einem schiefen Lächeln. Ohne würde sie nicht zurückgehen, das nahm sie sich fest vor.

Schweigend liefen sie nebeneinander her, wobei Khiones Gedanken zu Makhah wanderten. Sein väterliches Verhalten vor dem Aufbruch hatte sie überrascht. Sie hatte nicht damit gerechnet, ihn so in Sorge wegen eines kleinen Ausflugs zu sehen, aber es hatte ihr das Gefühl vermittelt, er würde etwas für sie empfinden und es ernst meinen. Obwohl Khione ihm gegenüber weiterhin zurückhaltend blieb, stellte sie oft fest, dass er ganz anders zu sein schien, als sie ihn kennengelernt hatte. Es kam ihr merkwürdig vor, wie er sich nur durch eine Nacht so drastisch verändert hatte. Sowohl Sabah als auch Pahra waren der Meinung, dass er endlich wieder der Mann sei, den sie kannten: liebevoll und fürsorglich. Darüber schien vor allem seine Schwester glücklich zu sein.

Bis sie den Fuß der Berge erreichten, grübelte Khione über Makhah nach, doch dann lenkte sie ihre Aufmerksamkeit zurück zum Ausflug. Von unten wirkten sie gigantisch und imposant, als würden sie kein Ende finden. Ehrfurchtsvoll sah sie an der verschneiten Steinwand hinauf und blinzelte verdutzt. War der dunkle Fleck nicht Arranoa? Die von der Sonne angestrahlten Spitzen leuchteten so hell, dass Khione eilig ihre Augen abschirmte. Immer wieder warf sie einen Blick in den Himmel und nach einer Weile war sie sich sicher, dass es Makhahs Adler war. Ihr blieb jedoch unklar, weshalb das Tier sie verfolgte.

Hat er sie zum Spionieren oder aus Sorge geschickt?, fragte sich Khione und sah zu den anderen. Hatten sie den Greifvogel ebenfalls bemerkt? Da keiner Anzeichen gab, beschloss sie, Arranoas Anwesenheit zu ignorieren und sich der Suche zu widmen.

Je weiter der Sonnenstand wanderte, desto frustrierter wurde Khione. Es schien wie verhext zu sein. Wohin sie sah, alles war unter der Schneedecke begraben. Nichts erinnerte auch nur ansatzweise an ein Leben darunter. Hätten Makhah und die anderen ihr nicht bildhaft erzählt, welche Besonderheit ihre Blütenblätter besaß, wäre Khione davon ausgegangen, dass die Blume nur eine Legende war.

Am frühen Nachmittag kam Khione zu der nüchternen Erkenntnis, dass sie nicht länger durchhalten würde. Als sie sich ihre Worte endlich zurechtgelegt hatte, wie sie den Frauen ihre Entscheidung zur Rückkehr am besten mitteilte, stieß Makhahs Schwester plötzlich einen Freudenschrei aus. Erschrocken hob Khione den Kopf und warf Asku einen fragenden Blick zu. Lächelnd erwiderte er ihn und nickte zu Sabah.

„Dort!", rief Sabah und stiefelte durch den Schnee auf eine Steinformation zu, die größer als sie selbst war.

Ihre Aufregung steckte Khione an. Das Adrenalin schoss durch ihre Adern und verlieh ihr neue Kraft. In Sekunden war ihre Ermüdung vergessen und sie rannte zu Sabah, die vorsichtig um die Steine herumlief. Ohne auf Asku und seine Schaufel zu warten, folgte sie ihr. Es war nicht leicht, durch den meterhohen Schnee zu kommen, aber sobald sie um die Ecke kam und die gesuchten Blumen sah, stiegen Khione Tränen in die Augen. Voller Bewunderung trat sie heran und strich sachte über die hellblauen Blütenblätter, die wie Samt glänzten. Noch nie zuvor hatte sie etwas ähnlich Bezauberndes gesehen. Alles an der Pflanze strahlte eine magische Wirkung aus, die sie nicht verstand.

„Ihr habt sie gefunden", erklang plötzlich Pahras Stimme hinter Khione. Die Heilerin trat neben sie, stellte den Korb ab und holte ein kleines Messer aus ihrer Tasche. „Die Wurzeln müssen vorsichtig gelöst werden", erklärte sie. „Sie dürfen nicht beschädigt werden."

Mit klopfendem Herzen sah Khione zu, wie Pahra mit den Händen den Schnee um die Blume herum zur Seite schob, bis das Moos zum Vorschein kam. Daraufhin griff Sabah mit den Fingern hinein und suchte nach den Wurzeln, die sie behutsam herauszog, damit die Heilerin sie abtrennen konnte.

„Jetzt bist du dran, Shihara", forderte Sabah und machte ihr Platz.

Mutig versenkte Khione ihre Finger im Moos und schauderte. Es war fast so eisig wie das Wasser im Fluss, aber sie biss die Zähne zusammen und gab nicht auf, bis sie ihre erste Blume in den Händen hielt. Voller Stolz betrachtete sie die Pflanze im Sonnenlicht und bemerkte deren filigrane Strukturen, die sich über die Blütenblätter zogen. Sie wirkten wie feine, zerbrechliche Adern.

Sachte legte Khione sie in den Korb und half, die drei verbliebenen zu sammeln. „Reichen sie aus?", fragte sie zweifelnd und rieb sich ihre Hände fest aneinander.

„Ja", bestätigte Pahra, die ein Leinentuch über den Blumen ausbreitete. „Die Paste braucht nicht so viel."

„Bereitest du sie heute noch zu?", erkundigte sie sich. Das würde sich Khione nicht entgehen lassen.

„Erst am Tag der Soyala. Bis dahin sind sie trocken und leicht zu zerreiben", erwiderte die Heilerin mit einem zufriedenen Lächeln.

Erleichtert atmete Khione tief ein. Trotz der Freude und des Adrenalins war sie froh, den Heimweg anzutreten. Erneut und weitaus deutlicher signalisierte ihr Körper, dass er am Ende ihrer Kräfte war. Das schien Asku nicht zu entgehen. Er bot an, sie zu tragen, doch das lehnte Khione ab. Sie kämpfte mit jedem Schritt, nahm seinen Blick aber im Nacken wahr. Hoffentlich kamen sie vor Einbruch der Dunkelheit an. Schon jetzt verfärbte sich der Himmel in ein zartes Rosa.

Als ein Adlerschrei die Ruhe zerschnitt, beschleunigte sich Khiones Puls im Bruchteil der Sekunde. Das schnelle Flügelschlagen ließ sie hastig umsehen und ehe sie reagieren konnte, krallte sich Arranoa in ihre Schulter. Scharf sog sie die Luft ein und hielt den Atem an. Das plötzliche Zutrauen überraschte sie genauso wie das Gewicht des Greifvogels. Es drückte sie leicht in die Knie.

„Hallo", flüsterte sie brüchig. War etwas passiert, dass Arranoa zu ihr kam? Wenn sie die Ruhe des Adlers richtig interpretierte, deutete nichts auf eine Gefahr hin. Sicher würde sie bei einer Bedrohung anders reagieren. „Bist du hier, um nach mir zu sehen?", fragte sie leise. Zitternd hob sie die Hand und hielt sie dem Tier hin. Zu ihrem Erstaunen stupste es sie an. Strahlend sah Khione zu den anderen, die nicht minder erstaunt waren.

„Es scheint, sie akzeptiert dich", bemerkte Asku anerkennend. „Ich nehme an, sie ist auf Makhahs Bitte hier."

„Wie meinst du das?", fragte Khione.

„Er hat sie vermutlich geschickt, um auf dich aufzupassen", erklärte er. „Das passt zu ihm."

Sabah und Pahra waren der gleichen Meinung. Ansonsten gäbe es keinen Grund, warum der Adler sie die ganze Zeit begleitete.

Selig lächelnd streichelte Khione Arranoas Kopf. Der Gedanke, wie Makhah mit solch einer Kleinigkeit seine Besorgnis zeigte, sorgte für ein warmes Gefühl, das sich in ihrer Brust ausbreitete und kribbelnd über ihren Körper wanderte. „Sagst du ihm, dass wir bald zuhause sind?", bat sie flüsternd.

Sie war sich nicht sicher, ob der Adler ihr überhaupt gehorchte, denn er blieb sekundenlang ruhig auf ihrer Schulter sitzen. Ohne Vorwarnung erhob sich Arranoa plötzlich in die Luft und flog in die Richtung, in der Pah Koha lag. Das nahm Khione als Zeichen, dass sie verstanden hatte.

Es war nur eine kleine Geste, doch diese gab Khione Zuversicht für die Zukunft. Mit neuer Energie trat sie den Rest des Rückwegs an, in der Hoffnung, Makhah vor dem Aufbruch zur Jagd von ihren Erlebnissen erzählen zu können.

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