Kapitel 41
Mit einem Schrei fuhr Makhah aus dem Schlaf hoch und keuchte. In die Dunkelheit blinzelnd versuchte er, die Bilder seines Traumes zu verscheuchen. Sie waren grausam und sorgten dafür, dass sein Herz wie die Hufe eines galoppierenden Pferdes trommelte. Verstört rieb er sich die Stirn und bemerkte, wie er zitterte, obwohl es warm im Schlafgemach war. Seine Decke war so feucht, dass er sie zur Seite schob und sich an die Bettkante setzte.
Waren die Bilder etwa Erinnerungen an das, was er Khione angetan hatte? Das Gefühl, dass sie der Wahrheit entsprachen, ließ ihn nicht los. Die Träume suchten ihn seither fast jede Nacht heim und gaben immer mehr preis. Wie hatte er es nur so weit kommen lassen? Hatte Ahyoka seine Seele mit sich genommen, sodass er zum Monster wurde?
„Nein, ich allein bin daran schuld", murmelte Makhah sich selbst zu. Seine leisen Worte hörten sich in der Stille wie ein Unheil an. Bedrückt starrte er in die Finsternis seines Schlafgemachs. Ihm war es nicht erlaubt, sich nachts über bei Khione aufzuhalten, dabei würde er sie jetzt so gern in den Armen halten, um sich zu beruhigen. Ihm war jedoch bewusst, dass es bei ihr keineswegs die gleiche Wirkung erzielen würde.
Langsam stand er auf, trat ans Fenster und ließ seinen Blick über Pah Koha schweifen. Im Burghof und in den Khemahs war es dunkel. Die vom Mond angeleuchteten, schneebedeckten Bergspitzen stachen in der Schwärze heraus und erhellten das Umland. Dazu zog sich ein milchig-helles Band über den Sternenhimmel, in dem unzählige rote, blaue und sogar hellgelbe Punkte unter den weißen zu finden waren. Teilweise standen sie wie eine Gruppe dicht beieinander.
Nachdenklich fuhr sich Makhah über die kurzen Haare. Schon als Kind lernten die Arakis, dass jede verstorbene Seele als Stern wiedergeboren wurde, um den Hinterbliebenen den Weg zu weisen. Dort oben schien es keine Trennung von Rassen zu geben. Sie lebten alle friedlich zusammen. Warum war das auf der Welt nicht so leicht?
Obwohl Makhah nicht von den Sheikahs überzeugt war, hatte er nun auf schmerzvolle Art gelernt, dass nicht jeder so war. Mittlerweile bereute er seine harschen Worte gegenüber Drystan, Sorin und Ylva. Er hätte sie in Pah Koha aufnehmen und ihnen eine Möglichkeit sich zu beweisen geben sollen. Jetzt war es zu spät und er hoffte, dass sie bei Yakari wenigstens sicher waren und sich einlebten.
Makhah fasste einen Entschluss und verließ leise sein Schlafgemach. Normalerweise achtete er nicht darauf, ob seine Schritte hörbar waren oder nicht, doch heute Nacht wollte er keinerlei Aufmerksamkeit erhalten. Es war Zeit, Khiones und seinem Kind ein würdiges Begräbnis zu ermöglichen. Dazu holte er Holz und trug es abseits der Khemahs auf eine Wiese, die nur selten benutzt wurde. Dort legte er die Scheite in einem aus Steinen gebauten Viereck ab, lief erneut los und besorgte Stroh, das er beim Schichten des Holzes zwischendrin verteilte. Sobald er fertig war, sorgte er für Fackeln, die er um den Scheiterhaufen aufstellte. Diese entzündete er und legte zusätzlich ein Fell über einen Baumstamm, ehe er zur Burg zurückkehrte.
Sein Weg führte zu Pahras Flügel, wo er die Heilerin aus ihrem Schlaf riss und um das blutige Leinentuch bat. Mit forschendem Blick und verschränkten Armen bedachte sie ihn und seufzte. Sie trug ein leichtes Leinenkleid, das Khiones ähnelte und scheinbar von den Sheikahs gern genutzt wurde. „Nur du kommst in der Nacht auf die kuriosesten Einfälle", merkte sie an.
„Jetzt scheint der beste Augenblick dafür zu sein", verteidigte sich Makhah, während er Pahra zusah, wie sie gähnend nach etwas aus einem ihrer Regale griff. „Danke", sagte er und warf der Heilerin ein kleines Lächeln zu, ehe er direkt zu Khiones Zimmer ging. Leise klopfte er an und wartete, bis Asku ihm die Tür öffnete und er die Silhouette seines Freundes erkannte.
„Geh, Makhah", forderte dieser. „Du weißt, dass du nachts nicht hier sein darfst."
„Ich möchte mit Khione unser Kind zu Inara schicken", erklärte Makhah flüsternd. „Es ist alles vorbereitet."
„Das hättest du schon früher sagen sollen", bemerkte Asku kopfschüttelnd und seufzte. „Also gut. Aber ich bin dabei", sagte er in einem Ton, der keine Widerrede zuließ.
Obwohl Makhah lieber mit ihr allein wäre, verstand er, dass er ihren Schutz ernst nahm. Hoffentlich würde sich Khione dann sicher fühlen, mit ihm in der Nacht rauszugehen. Erst, als Makhah sein Einverständnis gab, durfte er eintreten.
„Khione?", wisperte er, da sie am Fenster saß und nicht in ihrem Bett war, wie er erwartet hatte. Die kleine Kerze auf dem Tisch tauchte den Raum in ein geheimnisvolles Licht, das ihre Umrisse verschwimmen ließ.
In Zeitlupe drehte sie ihren Kopf zu Makhah, sagte jedoch nichts.
Zuerst blieb er auf der Stelle stehen, trat dann aber näher an sie heran, stets mit Askus Blick im Nacken. „Möchtest du mit mir unser Kind zu Göttin Inara schicken?", fragte er.
Sofort beschleunigte sich Khiones Herzschlag um ein Mehrfaches. Seine dunkle Silhouette brachte unangenehme Erinnerungen in ihr hoch, die sie durch mehrmaliges Blinzeln zu verdrängen versuchte. Fest drückte sie ihre Decke als Schutz an sich, bis Asku zu ihr trat.
„Ich werde im Hintergrund dabei sein. Dir wird nichts geschehen", versicherte er.
Mit einer Entscheidung hadernd, sah Khione wieder in die Nacht hinaus. Schon lange zog die Natur sie nach draußen, doch bisher hatte sich keine Gelegenheit ergeben und von Makhah wollte sie keinesfalls getragen werden. Daher blieb sie lieber in der Burg, aber nun ... war die Möglichkeit, den Schnee endlich anfassen zu können, zum Greifen nah. Gleichzeitig bemerkte sie das bedrückende Gefühl in ihrer Brust, das ihr das Atmen erschwerte. Das geschah meistens dann, wenn Makhah von ihrem Kind sprach. Bis jetzt war sich Khione nicht im Klaren, was sie dafür empfand. War es Erleichterung oder Trauer? Sobald sie darüber nachdachte, kehrte die Leere in ihrem Inneren zurück.
Egal, was ich für das Kind empfinde, ist es nicht meine Pflicht, es auf dem letzten Weg zu begleiten?, fragte sich Khione. Das war das Mindeste, was sie tun konnte. Das Ungeborene trug keine Schuld, was Makhah ihr angetan hatte. Selbst wenn es am Leben wäre, würde sie für es sorgen, wie ihre Mutter es getan hätte. Khione war sich sicher, dass sie es trotzdem lieben würde, würde sie es zum ersten Mal in den Armen halten. Es war ein erschaffenes Leben, das genauso viel Liebe und Zuneigung brauchte wie alle Menschen.
Die Erkenntnis ließ Khione schlucken. Wie jeder andere ..., dachte sie. Selbst Makhah verdiente es, egal, was er ihr getan hatte, doch sie bezweifelte, dass sie die Richtige dafür war.
Schwerfällig erhob sie sich und legte ihre Decke sorgfältig zusammen, ehe sie den Männern zunickte.
„Möchtest du sie nicht lieber mitnehmen? Es ist kalt und du kannst dir leicht eine Erkältung holen", bemerkte Makhah.
Grübelnd hielt Khione inne. Ihr stand warme Kleidung zur Verfügung, doch sie hatte nicht die geringste Lust, sich in Akrobatik zu üben. Es fiel ihr weiterhin schwer, sich normal zu beugen und umzuziehen. Da sie nicht angefasst werden wollte, blieb ihr nur die Möglichkeit, die Decke mitzunehmen. Mit ihr im Arm schlüpfte sie in ihre Schuhe und folgte den beiden in die Nacht hinaus.
Kaum trat sie aus der Burg, atmete sie hörbar die eisige Luft ein. Innerhalb von Sekunden vertrieb sie die bleierne Müdigkeit in Khiones Glieder, die sie trotz allem nicht schlafen ließ. Sie hatte sich so nach der Natur gesehnt und genoss jetzt den Augenblick in vollen Zügen, wie die Kühle auf ihre erhitzte Haut traf und wie sich kleine Wölkchen vor dem Mund bildeten. Auch, wie der Schnee im Mondlicht leicht bläulich schimmerte. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, fast befreiend.
Lautlos führte Makhah sie auf eine Wiese, die sie nur vage in Erinnerungen hatte. Ein einziges Mal hatte sie diese beim Kräutersammeln mit Pahra und Sabah betreten. Sie hatten erklärt, dass hier viele Seelen ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Daher war er ihr nicht so fremd, doch als Makhah sie an den errichteten Scheiterhaufen führte und ihr das blutige Tuch hinhielt, bildete sich ein Kloß in ihrem Hals.
Es hätte ihr Kind sein können ...
„Legen wir es gemeinsam ab?", flüsterte er.
Khione nickte und hatte zuerst Hemmungen, das Tuch anzufassen, aber Makhah gab ihr alle Zeit der Welt. Zitternd berührte sie es und bettete mit ihm den Stoff auf dem Holz. Es war, als würden sie ihr Kind schlafenlegen ...
„Möchtest du ein paar Minuten für dich haben?", fragte Makhah weiterhin leise. Sein Atem streichelte wie ein sanfter Hauch über ihren Arm. „Jeder hat das Recht, sich im Stillen zu verabschieden." Daraufhin ging er langsam in die Knie und hielt mit geschlossenen Augen seine Hände in die Höhe.
Khione warf ihm einen Seitenblick zu und musterte sein Profil, das im Feuer- und Mondschein mystisch wirkte. Er schien völlig in seine Gedanken versunken zu sein, doch ihr war bewusst, dass er zur Göttin Inara sprach. Es war ein arakisches Ritual, dem sie nachkam. In Zeitlupe sank sie auf ihre Knie, schloss die Augen und hob ihre Arme dem Himmel entgegen.
Göttin Inara, bitte empfange unser Kind und sorge dafür, dass es glücklich ist. Lass es mit allen anderen spielen, wenn es alt genug ist. Vielleicht lernt es meine Eltern kennen, sollten sie bei dir sein? Ich wünsche mir, dass es niemals das Lachen verlernt und deine Liebe spürt, dachte Khione. Allein die Gedanken vergrößerten den Kloß im Hals. Eilig öffnete sie die Augen und nahm eine Feuchte auf ihren Wangen wahr. Flüchtig wischte sie sich mit dem Handrücken darüber, aber die Tränen kamen immer wieder. Warum war sie plötzlich so sensibel, wenn sie bisher nicht annähernd gewusst hatte, welche Gefühle sie für das Kind hatte? Liebte sie es etwa, ohne es zu wissen?
„Bist du soweit?" Makhahs Stimme zerschnitt die Stille der Nacht und sie beeilte sich, zu nicken. Er übergab ihr eine Fackel und zeigte auf den Scheiterhaufen. „Machen wir es gemeinsam?"
Erneut nickte Khione und fuhr sich mehrmals über die Augen, ehe sie das Feuer entzündeten. Sobald sich die Flammen durch das Stroh fraßen, traten sie zurück und setzten sich auf den Stamm, den Makhah mit einem Fell belegt hatte.
Es fiel Khione schwer, dem Feuer zuzusehen, wie es sekündlich höher stieg und sich knisternd durch die verschiedenen Holzschichten schlängelte. Tief in ihr schrie alles danach, ihr Kind zu retten, aber ihr Verstand hielt sie zurück. Nichts auf der Welt würde es zurückbringen und es war nur gerecht, dass es endlich seinen Frieden fand. Dennoch blieb die beklemmende Enge in der Brust bestehen.
„Warum hast du es nicht früher beigesetzt?", fragte sie tonlos.
„Es ist unser Kind und es wäre falsch, es allein zu bestatten. Du bist dessen Mutter und hast das Recht, dabei zu sein", flüsterte er und legte ihr sanft die Decke um die Schultern. „Der Moment dient zur Trauerbewältigung und dem Loslassen."
Daraufhin kehrte eine Stille zwischen ihnen ein und sie sahen zu, wie das Leinentuch von den Flammen verschlungen wurde. Mit ihrem Blick folgte Khione dem Rauch, der in die Nacht hinaufstieg und die Seele des Ungeborenen mit sich nahm.
Als sich Makhah bewegte, zuckte sie zusammen und hielt den Atem an. Hastig sah sie sich nach Asku um, dessen Schatten sie etwas abseits erkannte. Sobald sie Makhahs Flöte sah, entspannte sie sich ein bisschen. Er fing ein Spiel an, das sich so zart und liebevoll anhörte, dass ihre Tränen unaufhaltsam auf ihr Nachthemd tropften.
Langsam ließ sie ihren Kopf gegen Makhahs Schulter sinken, zog die Decke enger um sich und lauschte seinem Flötenspiel. Seine Melodie passte perfekt zur Bestattung, die sich auf einmal intim anfühlte. Khione hatte den Eindruck, dass die gemeinsame Trauer sie wieder näherbrachte. Dieser Moment verband sie, ungeachtet dessen, wie es zwischen ihnen stand.
Sobald die letzten Töne verklangen, seufzte sie leise und wehmütig. Schon lange hatte sie nicht mehr Makhahs Spiel zugehört und erst jetzt fiel ihr auf, wie sehr sie es vermisst hatte. Die beruhigende Wirkung hatte jedoch nicht nachgelassen. Sie umhüllte Khione wie ein schützender Kokon, der die Trauer um das verlorene Leben milderte.
„Khione?"
Leicht hob sie den Kopf an. „Ja?"
„Ich möchte dir meine Flöte schenken", flüsterte Makhah.
Benommen richtete sich Khione auf und rieb sich die Augen. Ihr war nicht aufgefallen, wann sie diese geschlossen hatte. „Warum?", wollte sie wissen.
„Du magst es, zuzuhören, aber ohne in meiner Nähe zu sein. Das verstehe und respektiere ich. Daher möchte ich dir die Flöte geben, damit du wenigstens eine positive Erinnerung an mich hast", antwortete er.
Überrascht betrachtete sie das Instrument in seiner Hand und sah dann in Makhahs dunkle Augen. Seine Worte beschleunigte ihren Herzschlag und mit jedem Takt war es, als würde sich ein warmes Band in ihr ausbreiten. Sie hatte nicht erwartet, dass er auf einen wichtigen Teil von sich selbst verzichten würde. Zögernd nahm sie diese an und staunte, wie glatt sich das Holz unter ihren Fingern anfühlte.
„Danke", sagte sie mit dem Blick in den Himmel gerichtet. Über den Bergspitzen tanzten plötzlich grüne und rötliche Lichter. Sie verliefen ineinander und bildeten die schönsten Wellen, die sie je gesehen hatte. Das Schauspiel war so faszinierend, dass sie sogar das Atmen vergaß.
„Das ist ein Zeichen der Göttin. Sie hat unseren Wunsch erhört und es bei sich aufgenommen" erklärte Makhah, wobei er sich anhörte, als würde er gegen aufsteigende Tränen kämpfen. „Ich sehe es auch als Hoffnung", fügte er hinzu.
„Welche?", wagte Khione atemlos zu fragen.
„Dass du mir eines Tages verzeihst und ich dir beweisen kann, wie wichtig du mir bist."
Schweigend ließ sie ihren Kopf wieder gegen seine Schulter sinken. „Ich verspreche nichts", murmelte sie.
„Ich werde warten und für dich da sein, wenn du mich brauchst. Darf ich einen Arm um dich legen?", fragte Makhah vorsichtig.
Zögernd nickte Khione und verspannte sich, sobald sie seinen Arm an ihrem Rücken spürte. Anfangs war es ihr unangenehm und sie kämpfte gegen den Drang, von ihm wegzurutschen, aber sie hielt es aus, bis die Anspannung nachließ. Mit der Flöte in der Hand saß sie so dicht bei Makhah, dass sie dessen Wärme durch ihr Nachthemd und die Decke wahrnahm. Nach einiger Zeit kam das Gefühl der Geborgenheit zurück und sie bemerkte, wie das Zusammensitzen sie die letzten Wochen erst einmal vergessen ließ.
Würde sie Makhah je verzeihen und ihm die Tür zu ihrem gebrochenen Herzen wieder öffnen?
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top