Kapitel 40
Einige Tage später saß Khione mit einem Buch auf dem Schoß am Fenster und lauschte dem heulenden Wind, der um die Burgmauern fegte. Bei einer besonders heftigen Böe hob sie den Kopf und seufzte. Es war sinnlos, zu lesen. Die bleischweren Wolken machten den Tag fast zur Nacht und selbst die aufgestellte Kerze und das Feuer im Kamin halfen nicht, die Lichtverhältnisse zu verbessern.
Khione sah hinaus und ließ ihren Blick über die weißen Spitzen der Khemahs schweifen. In der Nacht hatte es geschneit, doch gerade einmal so viel, dass der Boden von einer dünnen Schicht überzogen war. Das nass-kalte und stürmische Wetter schien für die Arakis kein Problem darzustellen. Sie erledigten wie immer ihre Arbeit, wobei Khione feststellte, dass die Männer weiterhin oberkörperfrei blieben. Wann und ob sich das wohl änderte?
„Soll ich Holz nachlegen?", riss Askus Stimme sie aus den Gedanken.
Ruckartig wandte Khione ihren Kopf zur Tür und brauchte ein paar Sekunden, bis seine Frage für sie einen Sinn ergaben. Erst dann nickte sie und fuhr sich mit dem Handrücken müde über das Gesicht. Obwohl es im Raum warm genug war, waren ihre Hände und Füße klamm und eiskalt.
Seine stille Anwesenheit war angenehm, aber sie fühlte sich ständig beobachtet. Egal, wie oft Makhah beteuerte, dass er seine Drohung nie in die Tat umsetzen würde, fiel es ihr schwer, ihn nicht als Wachhund zu sehen. Daher blieb sie meist stumm und antwortete nur gezwungenermaßen.
Asku trat auf die Halterung an der Wand zu und nahm ein paar Holzscheite heraus, die er nach und nach in die Flammen legte. „Bitte vergiss deinen Tee nicht", erinnerte er Khione.
Innerlich seufzend starrte sie auf den Kelch. Ihr war nicht danach zumute, aber Asku meinte es nur gut. Er hielt sich genauso strikt an Pahras Vorgaben wie Makhah. Die Heilerin hatte einen Plan erstellt, mit dem sich Khione langsam wieder ans Essen gewöhnen konnte, ohne überfordert zu werden. Dazu gehörte das Trinken von Tees, die mit speziellen Kräutern angereichert waren, um von innen zu stärken. Nicht jeder schmeckte lecker, aber sie waren zu verkraften.
Anstatt zum Kelch zu greifen, sah Khione aus dem Fenster und eine tiefe Sehnsucht packte sie. Sabah und ein paar Frauen trugen Körbe mit Fleisch aus der vergangenen Jagdnacht zu einem Zelt, in dem es bei gleichbleibender Wärme geräuchert und getrocknet wurde.
Wie gerne wäre sie bei der Rückkehr der Jäger dabei gewesen ... Viel lieber wäre sie im Gerberunterstand und würde helfen, Leder herzustellen. Das hätte ihr ein Stück des normalen Alltags wiedergegeben. Es fehlte ihr, sich von morgens bis abends zu verausgaben und Hirn in die Rohhaut einzuarbeiten. Das Herumsitzen in Pahras Flügel lag ihr nicht, aber sie sah ein, dass sie noch lange nicht soweit war, um der schweren Arbeit nachzugehen. Es würde dauern, bis sie sich von dem Fieber und der Entzündung erholt hatte. Die Heilerin, Makhah und Asku passten genau auf, dass sich Khione ausruhte. Sogar Sabah, die zu ihr kam, wenn es die Zeit zuließ, achtete darauf.
Ihr entging nicht, wie oft Makhahs Schwester mit sich kämpfte, als wolle sie mehr tun, wie nur Essen und Trinken bringen, doch sie hielt sich zurück und bedrängte sie nicht. Dafür war Khione dankbar, denn sie wollte nicht angefasst werden. Das war der Grund, warum sie den verordneten Sitzbädern von Pahra bisher erfolgreich aus dem Weg gegangen war.
Sabah hatte den Auftrag erhalten, sie dabei zu unterstützen, in den Waschzuber zu kommen, da es Khione schwerfiel, selbst hineinzuklettern. Das lag nicht nur an der Steifheit, die sie seit Makhahs Ausbruch begleitete. Sie durfte sich nicht zu sehr strecken, ansonsten bestand die Gefahr, dass die Wunden zwischen den Beinen wieder aufrissen. Pahra hatte erklärt, dass sie bewusst auf Fäden verzichtet hatte. Diese nutzte sie nur im äußersten Notfall, da es besser war, wenn die Stellen von selbst heilten. Solange das der Fall war, kamen sie nicht zum Einsatz. Khione legte keinen Wert darauf, in diese Situation zu geraten.
Die fehlende Arbeit war nicht das Einzige, was sie belastete. Sie fühlte sich leer, obwohl tausend Emotionen in ihr schlummerten. Wann immer sie über etwas nachdachte, erwartete Khione, dass sie ausbrachen. Stattdessen ertappte sie sich dabei, vor sich hinzustarren. Es war, als hätte jemand sie der Gefühle beraubt. Es war zum Verzweifeln.
Ein Klopfen riss sie aus den Gedanken. Sie warf Asku einen Blick zu, der ihn stumm die Tür öffnen ließ. Kabiha kam herein und räusperte sich.
„Shihara", fing sie an, „wie geht es dir?"
Daraufhin zuckte Khione mit den Schultern. Die Frage war nicht leicht zu beantworten, und um nichts Unüberlegtes zu sagen, zog sie es vor, zu schweigen. Ihr Kopf war noch nicht soweit, sich Worte sorgfältig zurechtzulegen.
Unaufgefordert setzte sich Kabiha auf den Sessel ihr gegenüber und fuhr sich durch die Haare, die sie zu einem dicken Zopf geflochten hatte. „Wann denkst du, bist du in der Lage, den Terikan zu leiten?"
Auch hier bekam sie keine Antwort. Wenn es nach Khione ginge, würde sie von der Position zurücktreten und sie an jemand anderen abgeben. Warum war sie überhaupt noch Shihara? Niemand würde je auf ihre Anweisungen hören, da war sie sich sicher. Zwar hatte es bei der Bedrohung einer Überschwemmung funktioniert, doch schon damals hatte sie bemerkt, dass nicht jeder mit ihr einverstanden war.
Plötzlich fasste Kabiha nach ihrer Hand und drückte sie leicht. Khione widerstand dem Drang, sie sofort zurückzuziehen. „Khione", sagte Tehews Frau. „Uns ist bewusst, wie schwer alles für dich ist und was du durchgemacht hast, aber meinst du nicht auch, dass du langsam darüber hinwegkommen und deiner Position als Anführerin nachkommen solltest?"
Ihre Worte sorgten für einen Kloß im Hals und bedrückt senkte Khione den Blick auf Kabihas Hand. „Wozu? Ich bin eine Sheikah, die sie nicht akzeptieren", flüsterte sie mit bebenden Lippen. „Keiner wird je auf mich hören."
Kabiha schnalzte leise und schüttelte den Kopf. „Das ist nicht wahr", behauptete sie. „Wir nehmen nur Rücksicht auf dich, damit du dich erholen kannst. In der Zeit sind Tehew und ich Stellvertreter, aber die anderen fragen oft nach dir."
Das konnte sich Khione nicht vorstellen, doch sie schwieg dazu. Am liebsten würde sie alles sofort an die beiden abgeben. „Wollt ihr nicht weiterhin dafür zuständig sein?", fragte sie brüchig.
Erneut schüttelte Kabiha den Kopf. „Nein, Shihara oder Shiharu zu werden ist nichts, das mit einem Fingerschnippen zu erreichen ist. Makhah ist Shiharu geworden, weil er den Kampf um Pah Koha geführt und gewonnen hat. Es ist eine hart erkämpfte Position und eine Auszeichnung", erklärte sie. Sanft streichelte sie über Khiones Handrücken. „Wir verstehen, wie verletzt du bist", versicherte sie. „Du bist dennoch unsere Shihara und wir brauchen dich. Bitte überlege es dir", bat sie beim Aufstehen.
Erst, nachdem Kabiha die Tür hinter sich geschlossen hatte, sah Khione wieder aus dem Fenster. Davor rieselten feine Schneeflocken aus dem Himmel herab und wurden auf ihrem Weg zum Boden vom Wind gefangen. Er wirbelte sie herum und es wirkte, als würden sie tanzen.
Erneut bekam Khione Sehnsucht, die für einen schmerzhaften Stich in der Brust sorgte. Schon als Kind hatte sie es geliebt, im Schneegestöber zu stehen und die kalten Flocken mit der Haut aufzufangen. Das Gefühl, das sie dabei verspürte, war nicht zu beschreiben, daher hatte sie stets behauptet, dass der Schnee magisch war. Ihr Bruder hatte sie ausgelacht und sie nicht für voll genommen, doch sie war nie von der Behauptung abgewichen. Für sie waren und blieben die Eiskristalle geheimnisvoll.
Wie es Nunuk wohl geht?, fragte sich Khione. Sollte er am Leben sein ... wo hielt er sich auf? Was würde er zum Tod ihrer Eltern sagen? Alles Fragen, auf die sie nie eine Antwort bekommen würde.
Ein dunkles Wiehern gefolgt von Hufschlägen riss sie erneut aus den Gedanken. Khione beobachtete, wie Tehew und Makhah auf dem Burghof anhielten und sich galant vom Pferderücken gleiten ließen. Sanft klopften sie den Hals der Tiere und wechselten einige Worte mit einem Araki, ehe sie ihre Pferde fortführten.
Wüsste sie nicht, dass die beiden stets zusammen ritten und wie Denali aussah, hätte sie angenommen, dass Makhah ein Fremder war. Mit seinen kurzen Haaren hob er sich zwar von den anderen ab, aber dennoch sah er dadurch völlig verändert aus.
„Was ist mit Makhahs Haaren geschehen?", wollte sie von Asku wissen. Bisher hatte er sich selbst nicht dazu geäußert und in seiner Gegenwart blieb Khione lieber vorsichtig mit Worten.
Sein Freund stieß sich von der Wand ab und trat ans Fenster. In einem ruhigen Ton erklärte er, welche Bedeutung lange Haare bei den Arakis hatten. „Sie sind uns heilig und sind ein Zeichen der Männlichkeit. Je länger und gepflegter die Pracht aussieht, umso höher das Ansehen. Du kannst es mit dem Verlust der Ehre gleichsetzen. Werden Krieger gefangen, werden sie ihnen abgeschnitten."
Khione runzelte die Stirn. Das war bei den Sheikahs kaum denkbar. „Wer hat sie ihm geschnitten?", hakte sie nach.
„Er selbst", antwortete Asku mit einem Seitenblick zu ihr. „Du hast ihn mit einer Strafe verschont, aber er hat damit ein Symbol gesetzt: Er will sich ändern. Sein Schritt bedeutet viel und ist ernstzunehmen", fuhr er fort. „Keiner von uns würde sie zum Spaß abschneiden."
Nachdenklich neigte Khione den Kopf zur Seite. Entsprachen Askus Worte der Wahrheit? Sie klangen wie ein Versprechen. Konnte sie an ihnen festhalten und hoffen, dass sich eines Tages alles zum Guten wandte? Oder würde sie am Ende erneut bitter enttäuscht werden? Makhah jemals wieder zu vertrauen, würde lange dauern, darüber war sie sich im Klaren.
Schweigend stand Khione auf und gebot Asku Einhalt, als dieser ihr seinen Arm anbot. Der Weg zum Bett erschien ihr endlos, aber sie verzichtete auf jegliche Hilfe. Mit einem leisen Seufzen ließ sie sich vorsichtig auf der Matratze nieder und zog die Decke bis zur Nasenspitze hoch. Alles in ihr sehnte sich nach einer Runde Schlaf. Das graue Wetter trübte ihre Gedanken und drückte ihre Stimmung in den Keller. Trotzdem behielt sie die Augen offen, als sie sich auf die Seite rollte und hinaus sah. Die Schneeflocken waren zu einem Vorhang geworden, hinter dem sie nichts erkannte. Daher schloss sie die Augen und lauschte den Geräuschen.
Das Knistern im Kamin und der heulende Wind formten eine Melodie, die Khione entspannte. Nach und nach beruhigten sich ihre Gedanken, doch kurz bevor sie ins Traumland glitt, erschrak sie ein Klopfen. Mit beschleunigtem Puls kniff sie ihre Augen zusammen und drückte die Decke fester gegen ihren Körper. Sie hörte, wie die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Khione wagte es nicht, den Kopf zu heben und zu sehen, wer gekommen war. Erst die Stimme entlarvte sie.
„Bist du wach, Khione?", erkundigte sich Makhah leise.
Zuerst war sie versucht, sich schlafend zu stellen, doch ihre Vernunft siegte und sie gab ein zustimmendes Murmeln von sich, ohne sich zu rühren. Sobald die Matratze leicht nach unten gedrückt wurde, öffnete sie halb die Augen. Makhah saß auf der Bettkante und sah sie nachdenklich an.
„Wie geht es dir?", fragte er.
Wie bei Kabiha zuckte Khione mit den Schultern. Müde war sie und noch vieles mehr, das sie gar nicht nennen konnte, weil sie keine Worte dafür fand. Wie meistens blieb sie Makhah gegenüber stumm.
„Darf ich deine Hand halten?" Die Frage stellte er jedes Mal, sobald er bei ihr war. Er schien sichergehen zu wollen, dass sie damit einverstanden war.
Zögernd löste Khione sie aus der Decke und legte sie so, dass er danach fassen konnte. So sacht wie eine Feder strich sein Daumen über ihren Handrücken, ehe er sie in seine Hand nahm und an seine Lippen führte. Die Wärme, die von ihnen ausging, und das Kribbeln ließen sie schaudern. Mit diesen Kleinigkeiten schien er zu versuchen, Khiones zerbrochenes Herz zu reparieren und ihr Vertrauen wieder zu gewinnen. Jetzt lag es nur noch an ihr, seine Nähe zuzulassen.
Da sie nicht sprechen wollte, erzählte er von seinem Ritt mit Tehew. Das mochte Khione gern, da sie sich in den Momenten nach draußen träumte und sich vorstellte, wie sie mit Sakari die Gegend abritt. Manchmal kam es ihr vor, als würde sie sogar den Wind auf ihrer Haut spüren. So auch jetzt. Ein winziges Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. Um nichts zu verpassen, lauschte sie seiner Stimme, die sie weiter entspannte und bis in den Schlaf begleitete.
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