Kapitel 28
Das fahle Licht der Mondsichel erhellte die Nacht gerade genug, dass Khione eine schemenhafte Silhouette vor sich reiten sah. Diese verschwand teilweise im Bodennebel, der den Wald in ein mystisches Gebiet verwandelte. Der Mond trug einen großen Teil dazu bei, indem er ihn bläulich glitzern ließ. Es war, als wären sie in einer völlig anderen Welt.
Hinter sich hörte Khione die gleichmäßigen Hufschläge, die durch den feuchten Boden mehr ein dumpfes Klopfen waren. Es war ein Geräusch, das ihren Herzschlag ein wenig beruhigte. Trotzdem zuckte sie öfter zusammen, wenn etwa ein Ast knackte oder ein Käuzchen rief. Sie war es nicht gewohnt, sich rein auf ihre Instinkte zu verlassen.
Ihre erste Jagdnacht ... Es war kaum zu glauben, dass Makhah sie mitnahm! Seine Eröffnung beim Abendessen hatte ein zweifelhaftes Gefühl in ihr hinterlassen. Seither grübelte sie über seine Gründe. Einerseits freute sie sich, da sie es als eine Ehre ansah, andererseits hatte sie die Befürchtung, dass sie schuld sein würde, sollten die Jäger keine Beute erlangen. Hatte Makhah vor, sie vor allen bloßzustellen und sich über sie lustig zu machen? An ihrer Fähigkeit, ein Ziel in Bewegung zu treffen, haperte es nach wie vor.
Plötzlich wurden ihre Gedanken durch eine ausgestreckte Hand vor ihr unterbrochen. Khione reagierte zu spät, doch ihre Stute hielt von selbst an. Zum Glück, ansonsten wäre sie direkt in Denalis Hinterteil geritten. Das hätte dem Hengst sicher nicht gefallen. Makhah hatte ihr eingeschärft, keine unnötigen Laute zu erzeugen. Deshalb beschränkte sich ihre Kommunikation seit dem Aufbruch auf ein Minimum. Khione war darauf bedacht, kein Chaos anzurichten.
Mit klopfendem Herzen sah sie Asku, Tehew und Daira zu, wie sie sich durch stummes Gestikulieren mit Makhah unterhielten. Daraufhin teilten sie sich auf und verschwanden im Nebel. Da Khione mit den Gesten nicht vertraut war, blieb ihr nichts anderes übrig, als abzuwarten. Ihr war mulmig zumute, aus Angst, dass sie etwas falsch machte.
Sobald Makhah und sie allein waren, ritt er dicht neben sie und beugte sich zu ihr. Wie meistens nahm sie den süßlichen Geruch an ihm wahr, nur war er weniger stark als sonst. Makhahs warmer Atem streifte ihr Ohr und kitzelte sie, woraufhin ihr ein Schauer über den Rücken lief.
„Nicht weit von uns ist ein Berglöwe ", flüsterte er. „Bleib in meiner Nähe und sei auf der Hut. Sie sind beim Anpirschen flink und schnell."
Khione hielt für einen Moment den Atem an. „Woher weißt du, dass es ein Berglöwe ist?", wisperte sie.
Makhah zuckte mit den Schultern. „Erfahrungssache. Lass ihn deine Angst nicht anmerken, sonst bist du für ihn ein gefundenes Fressen."
„Ich habe keine Angst!", empörte sich Khione mit leiser Stimme.
„Sie trieft dir aus den Poren", seufzte er. „Das ist beim ersten Mal normal. Du wirst dich sicher daran gewöhnen", fügte er hinzu. „Halte deinen Bogen bereit."
Khione nickte. „Woher weiß ich, wo er sich befindet und wie nahe er ist?", fragte sie zweifelnd. Der Gedanke, dass sich der Löwe anpirschte, und von hinten angriff, ließ ihr Herz in die Hose rutschen.
„Achte auf deine Umgebung. Mit dem Nebel ist es schwerer, daher höre der Natur und ihren Geräuschen genau zu und du wirst ihn heraushören können. Im Moment befindet er sich etwa zwanzig Pferdelängen von uns in einer Höhle. Vertrau uns."
Erstaunlich, wie viel Makhah nur durch hören herausfand. Das fand Khione bewundernswert und sie beneidete ihn um diese Fähigkeit. Sie würde sich sicherer fühlen, wenn sie ähnliche Talente hätte. Jetzt war sie noch mehr auf ihre Instinkte angewiesen und sie befürchtete, dass diese sie aus Angst im Stich ließen.
„Entferne dich rund drei Pferdelängen von mir, Khione. Siehst du den Baum dort?", fragte er.
Mühsam versuchte sie in der Dunkelheit, seinem Finger zu folgen. Obwohl der Wald spärlich war, wusste sie nicht genau, von welchem er sprach. Daher gab er ihr die Richtung an und meinte, dass er ein Geräusch von sich geben würde, sobald sie den Baum erreichte.
„Er ähnelt dem Ruf von Arranoa."
Langsam setzte Khione ihre Stute in Bewegung und lauschte. Das war dank ihres schnell trommelnden Herzens gar nicht so leicht. Verflixt. Warum konnte es sich nicht endlich beruhigen? Sie ärgerte sich über ihre Nervosität, die im schlimmsten Fall alles ruinieren konnte. Was geschähe, wenn sie ihretwegen mit leeren Händen zurückkämen?
Mit zusammengepressten Zähnen ritt Khione in die Richtung und zuckte zusammen, als sie Makhahs Ruf vernahm. Daraufhin antwortete sein Adler mit einem spitzen Schrei, der ihr eine Gänsehaut bescherte. In der Nacht hörte es sich noch gefährlicher an, doch da sie mittlerweile mehr mit Arranoa zu tun hatte, hatte sich die Angst vor dem Tier fast gelegt. Zwar ließ sich der Greifvogel bisher nicht von ihr streicheln, aber wenn sie sich auf Makhahs Schulter niederließ, fütterte Khione sie mit getrockneten Beeren und mit Fleisch. Eilig brachte sie Sakari zum Stehen, die aufmerksam ihrem Befehl folgte.
Khione traute sich kaum, normal zu atmen oder sich zu bewegen. Bewegungslos verharrte sie auf dem Pferderücken, der ihr die Kälte ein bisschen aus den Gliedern trieb. Wachsam ließ sie ihren Blick über den Nebel schweifen und versuchte, die anderen zu finden. Vergebens. Ausgerechnet jetzt verzog sich der Mond hinter Wolken! Durch die unheilvolle Stille kam ihr plötzlich ein Gedanke auf und ihr Mund wurde augenblicklich trocken.
Was, wenn genau das Makhahs Plan war? Sie mit einem Berglöwen zurückzulassen und sie ihm als Fraß vorzusetzen? Durch ihre Fähigkeiten waren die Arakis sicher in der Lage, sich klammheimlich aus dem Staub zu machen! Vertrauen sollte sie ihnen? Pah!
Panisch sah sich Khione um. Zitternd griff sie nach den Zügeln, die ihr immer wieder durch die feuchten Finger flutschten. Ihr wurde speiübel, als sie einen befremdlichen Laut hörte, der weiter entfernt war. Gehörte er zu Makhah oder zu einem der anderen? Was sollte sie jetzt tun?
Obwohl sich alles in ihr dagegen sträubte, die Augen zu schließen, atmete Khione tief durch und lauschte. Höre auf die Umgebung, sagte sie immer wieder zu sich selbst. Es war merkwürdig, doch dadurch konnte sie besser sehen. Es war ein Gefühl, das sich nicht beschreiben ließ.
Da! Khione hörte ein Knacksen und ein Tapsen von der linken Seite. Sie legte die Zügel über Sakaris Mähnenkamm und griff langsam nach ihrem Bogen und holte einen Pfeil aus ihrem Lederköcher. Die Spitzen waren mit dem Gift der Kurare-Pflanze präpariert und würden bei einem erfolgreichen Schuss die Atmung und die Muskeln des Tieres lähmen. Pahra hatte ihr gezeigt, wie sie aus dem Gewächs eine dicke Substanz herstellte, in die die Pfeilspitzen getaucht wurden. Für die Menschen stellte es bei der Verzehrung keine Gefahr dar, wenn das Fleisch erhitzt wurde.
Angestrengt und mit angehaltenem Atem lauschte Khione und bemerkte das unruhige Ohrenspiel von Sakari. Die Stute wirkte angespannt und zur Flucht bereit. Sicher war der Berglöwe in der Nähe und pirschte sich an. Erneut knackste es und Khione richtete den Bogen direkt in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Durch die Spannung der Sehne fing ihre Hand zu zittern an, aber sie blieb standhaft und bemühte sich gleichzeitig, auf die Umgebung zu hören. Ein plötzliches Platschen und ihr Griff um das Holz wurde fester. Auf ihrem Weg zum Baum hatte sie sich die Stelle gemerkt, die am lautesten war. Hieß das, dass der Berglöwe auf sie aufmerksam geworden war?
Mucksmäuschenstill verharrte Khione in ihrer Position. Ihr war bewusst, dass sie jetzt auf sich allein gestellt war. Einen Augenblick erschien etwas Schattenhaftes im Nebel und sie ließ beinahe den Pfeil los. Im letzten Moment erkannte sie Makhah.
„Musst du mich so erschrecken?", zischte Khione zwischen Erleichterung und Angst schwankend. War er zurückgekommen, um zu sehen, ob sie noch lebte?
„Sei still", brummte Makhah und ritt dicht an sie heran. „Der Löwe ist nur zehn Pferdelängen entfernt und kommt von der linken Seite", flüsterte er. „Die anderen haben ihn in unsere Richtung gedrängt."
„Warum?", fragte Khione verwirrt. Warum hatten sie ihn nicht schon erlegt?
„Weil du lernen sollst, dich im Notfall selbst versorgen zu können. Dazu gehört das Jagen", antwortete Makhah, wobei seine Stimme nur noch ein Hauch war. „Pass auf", sagte er und dirigierte ihre Arme weiter nach links. „Hörst du ihn?"
Alles, was Khione hörte, war ihr verrückt spielendes Herz. Es schlug ihr bis zum Hals und verdreifachte sich, als sie ein leises Schnauben vernahm. Sie wagte weder zu sprechen noch zu atmen, doch sie nickte auf Makhahs Frage hin. Die Luft und Atmosphäre waren so zum Zerreißen gespannt, dass sie glaubte, eine Klinge glitte über ihre Haut. Schlagartig wurde es totenstill und bevor Khione nachdachte, ließ sie den Pfeil los. Mit einem Surren sauste er in den Nebel und verschwand. Ein Jaulen durchschnitt die Nacht und weckte den Wald auf. Eilig griff sie einen zweiten Pfeil und schoss in die gleiche Richtung. Daraufhin erklang ein Winseln und sie wusste: Sie hatte den Berglöwen getroffen.
Sofort wollte sie von Sakari rutschen, aber Makhahs Griff an ihrem Arm hielt sie auf. „Noch nicht. Warte ein paar Minuten, dann ist er eingeschlafen."
„B-Bist du sicher? Woher weißt du, dass ich ihn nicht nur gestreift habe?", raunte Khione ihm zu.
„Ist Sakari noch angespannt und spielt mit den Ohren?", kam die Frage zurück.
Mehr brauchte er nicht zu sagen. Ihr wurde bewusst, dass die Körpersprache der Pferde den Arakis wohl so manches Geheimnis offenbarte, wenn sie nicht in der Lage waren, alles zu sehen. Khione beugte sich so weit vor, bis sie Sakaris Ohren mit den Fingern erreichte. Tatsächlich waren sie aufmerksam nach oben gerichtet.
Nachdenklich gab Khione einen Laut von sich. Langsam beruhigte sich ihr Herzschlag und die Enge in ihrer Brust wurde weniger. Sie hatte Makhah und die anderen falsch verdächtigt. Anstatt sie in der Wildnis auszusetzen, hatten sie ihr bei der Jagd geholfen.
Es kam Khione wie eine Ewigkeit vor, bis Makhah ihr bedeutete, dass sie nach dem Tier sehen konnte. Geräuschlos und geschmeidig ließ sie sich vom Rücken der Stute gleiten und tapste mit dem Bogen in der Hand in den Nebel. Überrascht, aber mit einem flauen Gefühl sah sie den Berglöwen, der bis zu zwei Pferdelängen an sie herangekommen war. Es hätte so viel schiefgehen können.
Sanft fuhr sie über den noch warmen Tierkörper und dankte Göttin Inara im Stillen für ihre Gabe. Genau wie die Arakis es immer taten. Von ihnen hatte sie gelernt, für jede Kleinigkeit dankbar zu sein. Khione legte ihre Hand an die Stelle, an der sie das Herz vermutete und atmete erleichtert aus. Es schlug nicht mehr, das hieß, dass die Gefahr vorüber war.
Unerwartet stand Makhah neben ihr und kniete sich nieder. „Der Berglöwe reicht bis zur nächsten Mondsichelnacht aus. Wir sollten keine Probleme mit der Versorgung bekommen", bemerkte er anerkennend, bevor er ein Heulen in die Nacht ausstieß.
Kurz darauf hörte Khione Hufschläge, die sich ihnen näherten. Sobald sich Asku, Tehew und Daira um sie versammelten, entspannte sie sich und sah mit einem seligen Lächeln in den Himmel. Der Mond spickte durch zwei Wolken hindurch und sandte sein seichtes Licht über das Land. Dadurch erkannte Khione die gräuliche Färbung des Tieres. Im Sommer war das Fell in einem braunen Ton mit schwarzen Flecken, aber im Winter passte es sich mit einem natürlichen Fellwechsel den Bedingungen an. Das hatte sie bei Verarbeitung der Beute erfahren.
Die anderen Jäger sprachen leise Dankesgebete, die die Seele des Löwen auf den Weg zu Göttin Inara begleiten sollten. Khione stimmte darin ein, während Makhah einen Schnitt setzte, der das Tier vor dem Transport ausbluten ließ. Anschließend legte er einen Arm um sie und drückte sie kurz an sich.
Sofort beschleunigte sich ihr Herzschlag. „Danke, Makhah", flüsterte sie und genoss das Gefühl, das ihr Erfolg und er in ihr auslösten. Gleichzeitig wurde ihr schwer ums Herz, da sie wusste, dass es nie erwidert werden würde ...
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Ich würde mich freuen, wenn ihr an meiner Umfrage (den Link findet ihr an meiner Pinnwand) teilnehmen würdet :)
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