Natascha Well, oder wieso wir durch ein Schlüsselloch blicken
Kommt herbei, Freunde der Sonne. Seit willkommen – in dieser und in allen anderen Sprachen – zu einer einzigartigen Vorstellung. Doch auch wenn ihr Anblick euren Augen nur einmal gestattet ist, wird sie sich für alle Zeit in euer Gedächtnis einbrennen. Als eine Erinnerung, die euch folgt wie ein alter Freund – oder Feind.
Wir richten unseren Blick zur Bühne, wo sich nun vor unseren Augen der Vorhang lüftet. Seht ihr, wie sich sein roter Stoff bauscht?
Das Haus, dessen Antlitz sich nun vor uns erstreckt, gehört der Familie Well. Bewundert seinen prachtvollen Garten und das mit Stuck versehene Dach. Die Familie, die hier lebt, ist genauso wie sie heißt: Well. Sie führen ein geordnetes Leben und sind vollständig und perfekt, innen wie außen. Wer etwas anderes behauptet, will sich nur wichtig machen.
Doch genug von mir. Betrachten wir nun Gemma Well und ihre Tochter Natascha, die unter den höchst eindrucksvollen Pinien in der Gartenlaube sitzen. Eine weiße Frau und ein Halbblut, Gemmas und die Tochter ihres verstorbenen Mannes, einem dunkelhäutigen Franzosen.
Natascha.
Du verstehst es nicht.
Natascha, sieh mich an.
Ich habe keine Lust.
Natascha, ich bin deine Mutter und sage dir: Sieh mich an!
Die Augen der jungen Frau sind starr auf den Boden gerichtet. Nur sehr, sehr langsam richtet sie ihren Blick nach oben zum Gesicht der Person, von der sie genetisch abstammt.
Du weinst.
Man sieht der Tochter an, dass sie diese Tatsache nicht zum ersten Mal hört.
Dein Scharfsinn beeindruckt mich immer wieder.
Ich weiß, dass du nicht hier sein möchtest. Aber das ist kein Grund –
Sie schluchzt. Ihre Mutter schaut sich unruhig um.
Natascha! Zügle dich. Wenn die Nachbarn das sehen ...
Du liebst deine Nachbarn, oder? Vielleicht mehr als mich.
Das ist kein Grund hysterisch zu werden. Ich habe dich eigentlich besser erzogen.
Ein Punkt mehr, anders zu sein.
Tiefes Einatmen.
Mum, es gibt da etwas ...
Du bist schwanger!
Was? Woher ...
Ich bitte dich. Ich bin deine Mutter.
Das ... stimmt wohl.
Aber Natascha, das ist ein Grund zum Freuen! Warum weinst du? Du solltest glücklich sein. Du bekommst ein Kind.
Ich weiß, Mutter. Glaub mir, das zumindest weiß ich.
Folgendes ist Fantasie und Wahrheit zugleich. Hunderte Raben aus allen Himmelsrichtungen fliegen über diese Szene und verdunkeln die Sonne. Schatten legen sich über die Pinien und die Laube. Sie fröstelt, während ihre Mutter nichts bemerkt. Seht ihr, wie sie den Mund bewegt, aber kein Laut hervordringt? So klingt es auch für Natascha.
Und nun betrachten wir erneut den Vorhang, wie er sich öffnet und wieder schließt, während die Kulisse des Schicksals sich neu aufbaut.
Das Geschehen von Nataschas Hochzeit. Ausgelassene Menschen in bunten Kleidern und Anzügen. Der berauschende Duft von Parfum und Rosen. Und in all dem Natascha, an der Seite eines hübschen jungen Mannes. Nun ihres Mannes; James. Ihr Bauchumfang hat schon etwas zugenommen und ihr Kleid ist so weiß wie teuer. Ihre Schuhe funkeln mit dem Kronleuchter um die Wette.
Natascha.
Hi, Nancy.
Meine besten Glückwünsche. Ich wusste immer, dass es noch jemanden geben muss, der sich dir erbarmt.
Das weiß ich zu schätzen, Nancy.
Wie wollt ihr denn euer Kleines nennen? Ich hoffe, es wird ein Mädchen?
Ein unsicherer Blick zu ihrem Ehemann.
Ich ... Wir wollen uns überraschen lassen. James ... James gefällt Emily.
Eine Träne rollt aus ihrem Auge.
Warum weinst du, Natascha? Du hast doch eben erst geheiratet. Wie soll das denn erst in zwanzig Jahren aussehen?
Die Frau lacht kehlig.
Es ist nur ... ich bin so glücklich.
Wunderbar. Und Emily ist ein hübscher Name.
Ach, und schon wieder verlassen wir dieses Geschehen; der rote Stoff verschließt sich. Nun beginnt der letzte Akt. Meine lieben Freunde, schaut genau hin, auch wenn es kein schöner Anblick ist.
Natascha.
Bitte lass mich, James. Heute nicht.
Natascha. Natascha, schau mich an, shit!
Eine Ohrfeige. Weinen.
Gott, Natascha. Reiß dich doch bitte zusammen. Ich möchte das nicht tun. Ich möchte das nicht tun, verdammte Scheiße!
Noch eine Ohrfeige. Dieses Mal völlig grundlos.
Bitte, James. Ich ... gleich. Ich muss vorher nur zu meiner Mutter. Ich habe versprochen, ihr zu helfen. Bitte.
Er seufzt wütend. Halb schnaubt er.
Meinetwegen. Aber beeil dich. Ich hatte einen sehr anstrengenden Tag.
Ein gieriger Kuss; nur einer von beiden genießt ihn.
Wer nicht zu diesem wahrhaft unwirklichen Stück gehört, wundert sich über eine Frau, die mit nassem Gesicht durch die Straßen einer Stadt läuft. Seht ihre Tränen; es könnten eure sein.
Rücken wir in der Zeit ein wenig vor. Wir sehen eine Tür. Gemma Well ist im Begriff sie zu öffnen.
Natascha, was ... Natascha! Was tust du denn da?!
...
Sie liegt auf dem Boden des Badezimmers der Familie Well. Wie ihr seht, schleicht sich auch in eine perfekte Welt schnell das Unglück, was man sehr gut an ihren aufgeschnittenen Pulsadern und den Rasierklingen, die in der Blutlache schwimmen, erkennen kan. Riecht ihr auch diesen kupferartigen Geruch in der Luft?
Natascha, oh Natascha, wie konntest du nur? Du hättest glücklich sein sollen. Du hattest einen Mann. Ein Kind. Ein Zuhause. Mich ...
...
Und somit schließt sich unser Vorhang endlich zum letzten Mal. (Habt ihr ihn nicht auch lieben und hassen gelernt?) Doch auch wenn wir das Theater nun verlassen, läuft dieses Stück und alle anderen tausend Stücke weiter. Denn unsere Bühne ist nur ein Blick. Ein Schlüsselloch zu einem lustigen, wundervollen, ungerechten, grausamen, verrückten, aufregenden, zerbrechlichen, seltsamen Etwas namens Leben. Möget ihr aus diesem hier lernen.
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