Kapitel 1
Der Tag begann wie jeder andere. Victoria stand gerade rechtzeitig auf, um noch pünktlich zur Schule zu kommen, wie immer ließ sie das Frühstück ausfallen. Während des Unterrichts kritzelte sie abwesend Fantasiewesen auf die Seiten ihres mitgenommenen Collegeblocks und blickte nur auf, wenn ihr eine Frage gestellt wurde. Als sie am frühen Nachmittag endlich zu Hause war, aß sie ein paar lauwarme Ravioli und machte sich dann schnell fertig für das Treffen mit ihren beiden Freundinnen.
Im Bad betrachtete sie sich im Spiegel. Ihre gefärbten Haare (aktuell lila) fielen in wirren Locken auf ihre schmalen Schultern und ihre Augen waren so langweilig braun wie eh und je. Halbherzig versuchte sie, sich die Haare hochzustecken, ließ es dann aber doch lieber bleiben. Sie war ohnehin schon spät dran.
Ihr rostiges Fahrrad mit der knallroten Klingel war alt, aber nicht so alt, dass sie damit nicht wie eine Irre über den von Wurzeln übersähten Waldweg hätte rasen können - ohne Helm, denn den hatte sie zu Hause liegen lassen. Ihre Haare flatterten im Wind, während sie kräftig in die Pedale trat und gerade noch pünktlich den See erreichte.
Still lag die riesige Wasserfläche vor ihr, von Schilf umgeben und von Mückenschwärmen umschwirrt. In der Uferzone schmückten vereinzelt Seerosen das trübe, dunkelgrüne Wasser und Tori konnte einen Frosch quaken hören. Sie ließ ihr Fahrrad achtlos in die Büsche fallen und legte sich nahe des Ufers in das trockene Gras. Die warme Spätsommersonne schien ihr ins Gesicht und für einen Moment genoss sie die Stille.
Urplötzlich vibrierte ihr Handy in ihrer Hosentasche und sie schoss hoch. Mit einem Seufzen griff sie danach und ihre Vorahnung bestätigte sich, als sie auf den Sperrbildschirm blickte.
‚Können leider nicht kommen, Mom schleppt uns mit zum Einkaufen. Sorry.'
Sie tippte schnell ein ‚Schon ok', dann legte sie sich wieder hin und schloss die Augen. Eine sanfte Brise strich über ihre Haut und sie lauschte still dem Lied der Vögel und Zikaden.
Sie musste eingeschlafen sein, denn als sie die Augen aufschlug hatte die Dämmerung bereits eingesetzt und der Wind wehte nun deutlich stärker. Sie erinnerte sich dunkel, etwas von einem Gewitter in den Nachrichten gehört zu haben und stand bereits auf, um sich wieder auf den Nachhauseweg zu machen, als sie ein seltsames Platschen vom Ufer her hörte.
Im ersten Moment dachte sie, es sein ein springender Fisch oder Ähnliches gewesen, doch dann hielt sie inne. Das Geräusch musste von etwas viel Größerem verursacht worden sein, denn für einen Fisch war es schlichtweg zu laut gewesen. Ein Teil von ihr riet ihr, schleunigst von hier zu verschwinden - gab es Krokodile in Irland? - doch sie zögerte, spürte, wie die Neugierde von ihr Besitz ergriff.
Dann hörte sie den Schrei. Ein markerschütternder Laut, langgezogen und voll unausgesprochenem Schmerz, durchschnitt die kühle Abendluft. Tori stand still da, zitternd und mit schnell schlagendem Herzen. Nie in ihrem ganzen Leben hatte sie etwas vergleichbares gehört und ihr war klar, das das - was auch immer es war - kein Tier gewesen sein konnte.
Eine Weile bewegte sie sich nicht. Erst, als die Stille um sie herum sicherlich bereits fünf Minuten lang andauerte, wagte sie es, sich zu rühren.
Vorsichtig trat sie einen Schritt vom Wasser weg, ganz langsam, denn jetzt, wo das Adrenalin langsam ihren Körper verließ, traute sie ihren wackligen Beinen nicht recht. Doch dann wurde ihr plötzlich klar, wie still es geworden war. Die Vögel und Zikaden waren gänzlich verstummt, selbst der Wind schien sich zurückgezogen zu haben. Ihr wurde sehr mulmig zumute und sie begann, langsam rückwärts zu schleichen, zu den Büschen, wo ihr Fahrrad lag.
Sie hatte es fast erreicht, als ein zweiter Schrei die Stille durchschnitt. Sie zuckte furchtbar zusammen und machte einen Satz, während ihr Kopf alle möglichen Ursachen durchspielte - Wölfe (aber es klang ganz und gar nicht nach einem Wolf), Mörder (hätte sie dann nicht jemanden sehen müssen) oder doch ein Krokodil, dass irgendein armes Tier erwischt hatte (eigentlich völlig unmöglich). Sie atmete tief durch und dachte nach. Der zweite Schrei hatte viel leiser und dumpfer geklungen, wie ein unterdrückter Schmerzensschrei. Was auch immer da war, es war verletzt.
Tori schluckte und trat auf das Ufer zu. Sie konnte kein verletztes Tier hier zurücklassen.
Zögerlich und noch immer mit beschleunigtem Herzschlag spähte sie über das Schilf. Zuerst konnte sie nichts als die dunkle Schwärze des Wassers erkennen - es war inzwischen bereits recht dunkel geworden - doch dann sah sie plötzlich Konturen, die sich von der etwas helleren Wasserfläche abhoben. Sie keuchte laut auf, als sie endlich erkannte, was da vor ihr im knietiefen Wasser lag.
Schlammbeschmiert und von Algen geschmückt lag dort in den sanften Wellen des Sees ein schwarzes Pferd. Seegras hatte sich in seiner Mähne verfangen und seine Augen waren geschlossen, während das Maul halb offen stand. Im nächsten Moment realisierte sie drei Dinge.
Erstens; die Flanken des Tieres hoben sich nur schwach und unregelmäßig. Zweitens; das Seegras hatte sich nicht in der Mähne verfangen, es war die Mähne. Und drittens; kein Pferd auf dieser Welt hatte so spitze Zähne. Vermutlich stand sie unter Schock, denn in diesem Moment hatte sie keinerlei Zweifel, was da tatsächlich vor ihr lag: Ein Kelpie.
Sprachlos starrte sie auf das Wasserpferd hinab. Sie hatte Legenden über Kelpies gelesen, viele sogar, doch niemand hatte sie vor der unbeschreiblichen Schönheit des Tieres gewarnt. Selbst verletzt und schlammbeschmiert glänzte sein Fell immer noch es sah geradezu majestätisch aus, wie es da flach auf der Seite im Schilf lag.
Dann riss sie sich zusammen. Es war völlig unmöglich, dass Kelpies existierten, doch dieses Pferd war verletzt und bald tot, wenn sie ihm nicht sehr bald in irgendeiner Weise half. Die Zeit des Zögerns was vorbei und kurzerhand watete sie mit Schuhen in das flache Wasser, darauf bedacht, nicht auf einem glitschigen Stein auszurutschen. Sie kniete sich neben den Tier auf den schlammigen Grund und schlang ihre Arme um seinen Hals. Sie hatte keinerlei Erfahrung mit Pferden, also versuchte sie einfach das erstbeste, was ihr einfiel: es ans Ufer ziehen.
Um es nicht zu erwürgen schlang sie ihre Arme nach kurzem nachdenken doch um seinen Bauch - oder eher halb darum, denn für mehr waren ihre Arme zu kurz. Sie war überrascht, als es sich tatsächlich bewegen ließ, schließlich wogen Pferde eine Menge, doch es war erstaunlicher Weise recht leicht für seine Größe. Als sie es irgendwie geschafft hatte, den Körper an Land zu hieven, setzte sie sich daneben, um Atem zu schöpfen und ihre schmerzenden Arme zu reiben. Der kalte Nachtwind ließ sie in ihrer nassen Kleidung frösteln und sie beschloss, sich zu beeilen.
Die Flanken des Pferden hoben sich inzwischen regelmäßiger, aber es atmete noch immer sehr flach. Tori tastete es vorsichtig nach Verletzungen ab, doch der Schlamm machte es ihr nicht gerade leicht. Kurzerhand rannte sie zu ihrem Fahhrad, holte die Wasserflasche, die sie eingepackt hatte, und rannte damit zurück. Der eine Liter reichte gerade, um das meiste des Schlamms abzuwaschen. Sie tastete das Tier erneut ab und bemerkte nun einen tiefen Schnitt auf Höhe der ihr zugewandten Schulter, aus dem noch immer ein wenig Blut quoll.
Sie zögerte nicht und rannte mit der leeren Flasche zurück ans Wasser, um sie aufzufüllen. Dann zog sie ihren Kapuzenpulli aus und riss ihn in halbwegs ordentliche Streifen. Einen davon tränkte sie mit Wasser und nutzte ihn, um die Wunde halbwegs zu reinigen. Die anderen knotete sie so fest wie möglich aneinander und wickelte sie dann mangels eines Verbandes um die Wunde, wobei sie den Körper kurz anheben musste und erneut erstaunt war, wie wenig er wog.
Als sie schließlich fertig war, betrachtete sie halbwegs zufrieden ihr Werk. Die Blutung war nun gestoppt und das Pferd atmete wieder in tiefen, regelmäßigen Atemzügen. Sie ließ eine Hand vorsichtig durch die Mähne gleiten und war überrascht, wie glitschig sie sich anfühlte. Zum zweiten Mal betrachtete sie sie genauer, wobei die Dunkelheit es ihr nicht leicht machte. Schließlich stand sie auf, holte ihr Handy, das ein paar Meter weiter im Gras lag, und richtete die Taschenlampe auf das Tier.
Was sie nun sah, ließ keinen Platz mehr für Zweifel. Entweder sie halluzinierte, oder das hier war tatsächlich ein echtes Kelpie. Das tiefschwarze Fell wurde von seltsamen, dunkelgrünen Mustern geziert und schimmerte leicht grünlich im Licht. Die Seetangmähne war im selben Farbton wie die Fellmusterung gehalten, ebenso wie der Schweif, dem Tori zuvor gar keine Beachtung geschenkt hatte. Der Körper des Kelpies war muskulös, aber schlank und die spitzen Zähne hätten jeden Vampir neidisch gemacht.
Sie starrte es einfach nur an. Das hier musste ein Traum sein. Bestimmt kam gleich ein Drache vorbeigeflogen oder ein Einhorn würde auftauchen, um sie nach Hause zu tragen.
Doch stattdessen schlug das Kelpie plötzlich seine Augen auf.
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