Das einzige Versprechen
Aufgeregt hüpfte Sirius durch das Zimmer, packte seine Sachen, schmiss alles in seinen Koffer und holte seine Zahnbürste aus dem Bad. Er kletterte aufs Bett, holte das Bild von sich und James, welches er dort hingeklebt hatte, von der Wand und legte es vorsichtig in seinen Rucksack.
Endlich war der Tag gekommen, heute wurde Sirius aus der Klinik ausgewiesen. Er hatte keine schlimme Zeit gehabt, im Gegenteil, er hatte es genoßen und mochte auch alle Ärzte, die hier waren, doch trotzdem freute er sich darauf, endlich wieder ins Leben einzusteigen. Vieles war in seinem Leben passiert, er war an manchen Momenten zerbrochen, hatte keinen Ausweg mehr gesehen, hatte gelitten und um Gnade gefleht, doch jetzt war er stärker geworden, war über die Geschehnisse gewachsen, kannte seinen Wert und würde sich nicht mehr unterkriegen lassen.
Die letzten Wochen waren schwierig gewesen, doch Sirius hatte alles gemeistert, hatte schon lange keine Rückfälle gehabt, die Flashbacks waren weniger geworden und er hatte gelernt bei potenziellen Triggern abzuschalten und sie so gut wie möglich zu ignorieren. Er aß wieder ohne Hintergedanken, fühlte sich zwar noch nicht hundertprozentig wohl in seinem Körper, aber auch nicht mehr so abscheulich wie früher. Natürlich, das Trauma saß noch tief in ihm und würde Momente haben, wo es hochkommen könnte, doch Poppy war der Meinung, dass Sirius es zum größten Teil bewältigt hatte und nicht mehr in der Klinik sein musste.
Dennoch war dort ein Aspekt des Endes seines Aufenthaltes, der Sirius nicht erfreute: er würde Remus verlassen müssen. Natürlich, nicht für immer und sie würden im Kontakt bleiben, telefonieren, schreiben und Sirius würde seinen Freund regelmäßig besuchen, doch es war nicht dasselbe. Unbewusst fiel Sirius' Lächeln.
„Hey, warum so traurig?", Remus, welcher ihn lächelnd und an der Wand lehnend beobachtet hatte, kam irritiert auf Sirius zu und legte ihm eine Hand an die Wange. „Es ist doch alles gut, du kannst endlich wieder zu James."
„Ja, aber was ist mit dir?", murmelte Sirius niedergeschlagen. „Ich muss dich doch zurücklassen. Was soll ich nur ohne dich machen?"
„Vieles", grinste Remus. „Du kannst ins Kino gehen, Eis essen, spazieren, Museen besuchen, in Restaurants bestellen. Alles, eigentlich."
„Du weißt, was ich meine", Sirius wandte sich ab und packte weiter seine Sachen. Er würde es vermissen, die Zeit hier. Er würde es vermissen, nachts fast in die Rille zwischen ihren Bett zu fallen, tagsüber mit Remus Karten zu spielen oder Picknicks zu machen, würde nicht mit Remus rumalbern und singen, keine heimlichen Wettrennen durch die Gänge veranstalten, nicht mehr vor Lachen vom Bett purzeln oder Remus mit der Zahnbürste durchs Zimmer jagen, weil dieser ihm einen Streich gespielt hatte.
„Aber du kommst bald nach, oder?", fragte Sirius hoffnungsvoll. „Du packst das, wirst gesund und kommst dann zu mir, ja?"
„Keine Versprechen, schon vergessen?", neckte Remus. „Aber okay, ich geb mein Bestes. Du musst übrigens bald los, Poppy wartet."
„Fuck, stimmt", Sirius blickte auf die Uhr. Er hatte eine Verabredung mit Poppy, damit sie ihn auswies und sich verabschieden konnte. Danach würde Fleamont ihn abholen und nach Hause bringen. Zuhause, das klang gut, fand Sirius.
„Komm her", murmelte Remus, bedeutete Sirius näher zu kommen und schlang die Arme um ihn, vergrub das Gesicht in dessen Haaren und drückte ihn fest an sich. „Ich werde dich vermissen."
„Ich komm doch gleich wieder", schmunzelte Sirius. „Dauert bestimmt nur eine halbe Stunde, dann bin ich zurück und wir verabschieden uns richtig. Mit allem drum und dran, Kuchen, Konfetti, alles was du willst."
„Ich liebe dich", flüsterte Remus. „Was auch immer passiert, vergiss das nicht."
„Jetzt bist du aber dramatisch", neckte Sirius und wollte sich aus Remus' Umklammerung lösen, aber dieser hielt ihn an Ort und Stelle. Sirius lachte: „Moony, ich muss los. Du kannst mich auch später noch zu Tode knuddeln."
„Noch eine Minute", murmelte Remus, küsste Sirius auf den Kopf und trat dann etwas zurück, legte Sirius eine Hand an die Wange und strich mit dem Daumen vorsichtig über die zarte Haut. Da lag etwas in seinem Blick, etwas überfüllt von Reue und Traurigkeit und Last, als würde es Remus von innen heraus zerstören, er es aber nicht nach außen lassen wollte.
„Kannst du mir eins versprechen?"
„Keine Versprechen, Moony, schon vergessen?", neckte Sirius zurück, lehnte sich der zärtlichen Berührung entgegen und küsste kurz Remus' Handfläche. „Aber eins wird wohl nicht schaden."
„Versprich mir, dass du stark bleibst und nicht wieder in die Bulimie verfällst oder etwas Dummes versuchst. Du bist so weit gekommen, lass dich nicht wieder zurückdrängen, okay?"
„Moony, wovon sprichst du? Es ist doch alles gut", verwirrt runzelte Sirius die Stirn, versuchte zu verstehen, worauf Remus hinaus wollte, was sich in ihm abspielte, aber als Remus keine Antwort gab, sondern ihn nur auffordernd ansah, nickte Sirius unsicher.
„Ich verspreche es."
„Ich liebe dich", murmelte Remus, küsste Sirius kurz auf die Stirn und trat dann widerwillig zurück, als müsste er sich selber krampfhaft dazu zwingen, von Sirius abzulassen. „Du musst los."
„Was ist los, Remus? Du benimmst dich total komisch. Hast du wieder Schmerzen? Soll ich dir was von Poppy mitbringen?"
„Nein, alles gut. Es ist nichts", meinte Remus, doch seine Stimme schwankte leicht und er wischte sich unauffällig die Tränen aus den Augen. „Poppy wartet, Sirius."
„Ach, Moony", Sirius lächelte. „Ich bin doch sofort wieder da."
Er küsste seine eigene Handfläche und pustete den Kuss dann zu Remus, ehe er lachend winkte und aus dem Raum ging. Verwirrt hörte er, wie Remus hinter der Tür schluchzte, dachte sich aber nichts dabei, weil er ja jeden Moment zurück gehen würde und machte sich auf den Weg zu seinem, jetzt ehemaligen, Therapieraum, wo er sich mit Poppy traf.
Poppy begrüßte ihn fröhlich, umarmte ihn sogar, fragte ihn, ob er sich schon aufs Zuhause freute und sie quatschten kurz. Es war eher wie ein Gespräch unter Freunden, da sie sich schon so sehr aneinander gewöhnt hatten. Sirius erzählte von seinen Plänen, von all den Dingen, die er tun wollte, sobald er aus der Klinik raus wäre und Poppy unterstützte ihn bei den Ideen.
Für manch einen wäre es vielleicht ein trauriger Abschied gewesen, doch für Sirius fühlte es sich eher so an, als hätte ein Neuanfang begonnen, als ständen ihm alle Türen offen und er hatte die freie Wahl, durch welche er zuerst gehen wollte. Vielleicht würde er studieren gehen, vielleicht holte er sein Abitur nach, vielleicht ging er sofort arbeiten, vielleicht gönnte er sich eine Auszeit. Alles stand ihm frei, er hatte sein Leben jetzt in der Hand, weder kontrolliert von seinen Eltern, noch von Gideon.
Mit diesem glücklichen Gedanken verabschiedete Sirius sich von Poppy, winkte ihr zum Abschied und ging dann fröhlich zurück zum Zimmer, um seine Sachen zu holen und die letzte Stunde bevor Fleamont kommen würde, mit Remus zu verbringen. Er summte zufrieden eine nur ihm bekannte Melodie und drehte sich lachend ihm Kreis, ehe er an der Zimmertür anklopfte.
Als ihm niemand öffnete, drückte Sirius die Türklinke selber runter und lugte hinein, aber Remus war nicht dort.
„Wahrscheinlich wartet er unten", dachte sich Sirius und schloss die Tür wieder, um im Treppenhaus aufgeregt die Treppe runter zu laufen und jedes Mal die letzten zwei Stufen runter zu hüpfen. Er widerstand nur knapp dem Drang, sich auf das Geländer zu setzen und hinunter zu rutschen.
Angekommen in der Eingangshalle sah Sirius sich nach Remus um, konnte ihn aber nicht finden. Verwirrt runzelte Sirius die Stirn und wollte gerade an der Rezeption fragen, als er McGonagall erkannte, welche um die Ecke kam und ziemlich gestresst wirkte.
„Minnie!", rief er und rannte auf fröhlich sie zu. „Haben Sie Remus gesehen?"
Überrascht blieb McGonagall stehen, weil sie so in Gedanken versunken war und blinzelte ihn kurz an, ehe sie zu realisieren schien, was er sagte.
„Oh, Sirius", murmelte sie und Sirius schüttelte sich innerlich bei ihrem bemitleidenden Ton. Er hasste es, wenn mit ihm gesprochen wurde, als wäre er zu dumm und zu jung, um etwas selber zu verstehen. McGonagall nahm ihn sanft am Handgelenk und führte ihn hinter sich her in ihr Büro. Verunsichert folgte Sirius ihr hinein, ließ sich auf den Sessel McGonagalls Stuhl gegenüber drücken und sah verwirrt zur Tür, welche McGonagall hinter ihnen schloss.
„Minnie?", fragte er leise nach, als McGonagall sich auf ihrem Platz niederließ, den Blickkontakt aber vermied und mit den Fingern einen wahllosen Rhythmus auf den dunklen Holztisch tippte. Sie schien unentschlossen, in Gedanken, bedachte ihre nächsten Worte genau.
„Remus hat eine Krankheit", fing McGonagall zögernd an. „Sie schwächt seinen Körper und fügt ihm ständig Schmerzen zu."
„Deshalb hat er immer die Tabletten genommen?"
„Ja. Weißt du, Sirius, Remus ging es psychisch nie so schlecht, dass er in einer Klinik bleiben musste. Es ging eher darum, dass er medizinisch beaufsichtigt wurde und da es im Krankenhaus nicht genug Plätze gab, wurde er hier untergebracht. Hier ist es sowieso besser, hat er gesagt, weil es nicht so wirkt, als wäre er nur unter Ärzten."
„Wo ist er jetzt?", fragte Sirius ungeduldig, wollte endlich Remus sehen. „Warum erzählen Sie mir das alles überhaupt?"
„Weil er zusammengebrochen ist", meinte McGonagall. „Noch ist er im Sanitätsraum, wird aber gleich auf die Intensivstation gebracht."
„Was?!", aufgebracht sprang Sirius von seinem Platz auf. „Sagen Sie das doch gleich! Wo ist das Krankenhaus? Ich muss sofort dahin-"
„Sirius, beruhige dich."
„Nein! Ich muss-"
„Remus ist tot, Sirius."
„W-Was?", plötzlich von allen Kräften verlassen, fiel Sirius zurück in den Sessel. Der Boden schien unter seinen Füßen weggezogen worden zu sein, er bekam keine Luft mehr, die Wände kamen rasend auf ihn zu, drohten ihn zu zerdrücken.
„E-Er kann nicht..."
„Es tut mir leid", McGonagall lächelte ihm mitfühlend zu. „Es war von Anfang an klar, dass das passieren könnte. Die letzten Wochen sind die Schmerzen immer schlimmer geworden, bis Remus' Körper die ständige Belastung nicht mehr aushalten konnte."
Sirius blieb stumm, starrte McGonagall nur an, versuchte zu verarbeiten, was er hörte, was ihm erst jetzt mitgeteilt wurde. So viele Gedanken schwirrten durch seinen Kopf, ließen ihn schwindelig fühlen, doch er konnte keinen von ihnen packen, konnte sich nicht konzentrieren, konnte nicht fassen, was passierte. Es ging ihm zu schnell, zu ungeschützt, traf ihn unvorbereitet.
„Sein Körper hat... aufgegeben", meinte McGonagall vorsichtig. „Es gibt nichts, was wir hätten tun können, um ihn zu retten."
„Wussten Sie davon? Von Anfang an?"
„Ja, natürlich. Das ganze Personal wusste seit dem ersten Tag Bescheid, damit wir Remus helfen konnten."
„Warum hat mir niemand etwas gesagt?", flüsterte Sirius, plötzlich vor Wut bebend und sah mit tränengefüllten Augen hoch. „Warum wurde ich im Unwissen gelassen?"
„Weil es dich nichts angeht. Es ist nicht dein Problem", erklärte McGonagall ruhig und zuckte nicht einmal zusammen, als Sirius aufsprang.
„Nicht mein Problem?! Nicht mein verdammtes Problem?!", schrie er. „Es ist zu meinem Problem geworden, als sie mich mit ihm in ein Zimmer gesteckt haben. Es ist zu meinem Problem geworden, als ich jeden Tag hier mit ihm verbracht habe. Es ist mein Problem, weil- weil ich... weil ich ihn liebe!"
McGonagall blieb unbeeindruckt: „Sirius, bitte, setz dich wieder."
„Nein! Verstehen Sie denn nicht, dass ich jetzt damit leben muss? Dass mir Remus weggerissen wurde, dass-"
„Jetzt hör endlich auf!", McGonagall stellte sich ebenfalls hin, funkelte Sirius wütend an. „Es geht nicht darum, dass du damit leben musst, es geht darum, dass ein wundervoller, wirklich, wirklich wundervoller Junge sein Leben verloren hat."
Ihre Stimme schwankte, der Kloß im Hals wurde schmerzhaft. Sie konnte es nicht fassen, konnte nicht verarbeiten, dass der liebenswerte, freundliche Junge, den sie seit mehr als sechs Jahren kannte, gestorben war. Für McGonagall war er immer noch elf, klein und ängstlich, war immer noch der Junge, der ständig an ihrer Seite läuft, der nach Gute-Nacht-Geschichten bettelt. Es war nicht gerecht, ganz und gar nicht, dass Remus schon damals ruhig erklären konnte, dass er Krämpfe und Schmerzen hat und dass er noch im jungen Alter einsehen musste, dass er anders war, als die anderen Kinder, dass er niemals dasselbe Leben bekommen konnte.
„Er hat es gewusst?", fragte Sirius, griff mit einer Hand die Tischkante, um nicht umzufallen. Seine Beine fühlten sich weich an, hielten ihn kaum, seine Sicht war verschwommen, der Schmerz unerträglich, doch er fühlte sich leer, so so leer.
McGonagall nickte nur, nicht fähig mehr zu sagen, nicht fähig zu erklären, dass Remus es seit Tagen erwartet hatte, nicht fähig vor Sirius zuzugeben, dass Remus es seit heute Morgen gefühlt hatte.
Sirius starrte sie noch lange an, wusste nicht, was er fühlen sollte, ob er wütend war oder enttäuscht, ob belogen oder ausgenutzt, er spürte nur, dass plötzlich alles Sinn ergab. Schwanken lief er aus dem Büro, drückte die Tür auf, drängte sich an den Menschen vorbei, hörte alles nur rauschend und unklar, undefinierbare Stimmen, sah unbekannte Gesichter, Leute, die ihn fragten, ob mit ihm alles stimmte, die ihm sagten, dass er blass aussah.
Sirius ignorierte sie alle. Und dann sah er ihn.
Auf einer Trage, mit geschlossenen Augen und einem friedlichen, viel zu friedlichen Gesichtsausdruck, lag Remus und wurde durch die Eingangshalle geschoben, wo vor der Tür der Krankenwagen wartete. Er sah schlafend aus, als träume er von etwas Schönem, als ginge es ihm gut, als würde er fliegen, endlich frei.
Sirius wollte rennen, wollte ihnen folgen, wollte Remus' Hand ergreifen und sie zum stehen bleiben zwingen, wollte ihm nah sein, wollte ihn wecken, wollte feststellen, dass er schlief, wollte aufwachen, wollte sich in Remus' Armen wiederfinden. Er wollte, aber er konnte nicht. Konnte sich nicht bewegen, nicht atmen, nicht denken. Da war dieser Schmerz in seinem Herzen, wie ein leerer Platz, ein Loch, dass ihm von innen zusetzte.
Es tat weh, so weh, doch Sirius verstand endlich.
Das war es gewesen, was Remus hinkriegen wollte. Eine gewisse Distanz, einen Abstand auf psychischer Seite, damit Sirius nicht an ihn gebunden war, damit der Abschied Sirius nicht vollkommen zerstörte. Aus diesem Grund das Zurücktreten, die Geheimnistuerei, die Angst vor Sirius' Erwartungen, die Erklärung, dass Remus nicht derjenige sein konnte, der Sirius immer beistand. Sirius musste es selber hinkriegen, musste stark genug werden, um alleine klarzukommen. Es lag nicht an Sirius, wenn Remus sich distanzierte, wenn er sich abwandte, wann immer Sirius Rückfälle erlitt, es lag daran, dass Remus eine emotionale Bindung verhindern wollte, damit Sirius nicht abhängig wurde.
Remus hatte es gewusst, hatte geahnt, wie es enden würde und doch war seine größte Sorge immer gewesen, wie er Sirius zurückließ. Unter keinen Umständen wollte er diesem Schaden zufügen. Deswegen hatte er ihn das erste und letzte Versprechen machen lassen.
Und Sirius erkannte in diesem Moment, dass er sich in den Jungen verliebt hatte, der dazu bestimmt war zu sterben.
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