Kapitel 4


„Ist alles in Ordnung bei dir?" Violett mustert mich kritisch, nachdem wir nach dem Essen aufstehen und uns auf dem Weg zum Ravenclaw-Turm machen. Die Erstklässler sind mit den Vertrauensschülern unterwegs, mir bleibt das erspart. Flitwick, der Hauslehrer von Ravenclaw, hat mich vertrauensvoll in die Hände meiner Mitschüler übergeben. „Du bist ganz blass."

„Ich bin nur k.o. von der Reise", lüge ich und laufe neben ihr her eine der zahlreichen Treppen hoch. Ich habe jetzt schon den Überblick verloren und keine Ahnung mehr, so ich bin. Dieses Schloss ist ein einiges Labyrinth. Kilometerlange Korridore durchziehen die Obergeschosse, überall stehen Rüstungen herum, die Gemälde sind alt und sehr ehrwürdig und laufen von Bild zu Bild. Einige Porträts begrüßen Vi freudig und folgen uns eine Weile, während sie von ihrem Sommer berichtet. „Werte Lady Violett", fragt sie ein Ritter mit einem pummeligen Pony, den sie mir als Sir Cardogan vorstellt, „wart Ihr verreist?"

Vi bleibt stehen und mustert das Porträt des Ritters aufmerksam. „Ja, wir waren in Frankreich an der Côte d'Azur. Es war herrrlich, Sir Cardogan!" Sie seufzt.

„Und war der Lord-", setzt der Ritter an, doch Vi schnaubt und wiegelt schnell ab. „Sir Cardogan, wir möchten nicht unhöflich sein, aber wir müssen zum Turm. Bis bald!" Damit greift sie nach meiner Hand und zieht mich weiter.

„Aber Ihr müsst mir eure neue Freundin noch vorstellen!", ruft er uns hinterher.

„Beim nächsten Mal!", ruft sie zurück und schnauft, als wir um die Ecke sind. „Er ist süß, aber ein bisschen..."

Ritterlich?"

Geschwollen." Vi schüttelt sich. Sie biegt ab in einen letzten Korridor, an dessen Ende sich eine elegante Wendeltreppe auftut. „Der Eingang zum Ravenclaw-Turm." Wir steigen die Treppe hinauf und ich bin ein bisschen nervös. „Wenn du an der Tür angelangt bist, stellt der Adlerkopf dir eine Frage."

Tatsächlich hat die Tür keine Klinke und keinen Griff, stattdessen sitzt etwa in Kopfhöhe der Kopf eines gusseisernen Adlers auf dem Holz, der zum Leben zu erwachen scheint, als wir vor ihn treten.

Wer sind die beiden Schwestern, die sich stets gegenseitig erzeugen?", fragt der Adler und Vi sieht mich an.

„Weißt du es?"

Ja. Weiß ich. Das Rätsel ist einfach. Ich muss noch nicht mal groß darüber nachdenken, und weiß, dass er das Rätsel von der Sphinx geklaut hat. Ich habe im vierten Jahr ein Referat über Sphinxe gehalten.

Aber ich zucke nur mit den Schultern. Ich will mich nicht aufspielen. „Du?"

„Ich glaube, ich habe eine Vermutung", sagt Vi. „Ebbe und Flut?", murmelt sie nachdenklich, „Nein, das ist der Mond, der das beeinflusst... warte, ich hab's gleich..."

Ich warte ab, zögere einen Augenblick und tue so, als ob ich nachdenke. „Vielleicht...", sage ich dann nachdenklich, „Tag und Nacht?"

Tretet ein!", sagt der Adler und die Tür schwingt auf.

Vi sieht mich verdutzt an. „Oh, wow. Cool."

„Du hast mich mit Ebbe und Flut darauf gebracht", murmle ich und sehe unter mich, damit sie nicht erkennt, dass ich flunkere.

Violett nickt bedächtig, macht dann eine ausladende Geste und zeigt auf den Raum vor uns. „Der Gemeinschaftsraum. Da hinter ist unsere Bibliothek. Rowena Ravenclaws Privatsammlung, wenn du so willst. Da sind ein paar wirklich gute, seltene Exemplare dabei?"

Thriller vermutlich nicht. Ich gluckse vor mich hin. Vi zeigt mir den Rest vom Turm, die Schlafsäle für die Jungen und die Mädchen, die Gemeinschafts-Badezimmer und schließlich auch unseren Schlafsaal. Er ist gemütlich, ganz in Blau gehalten und das dunkle Holz lässt ihn gemütlich wirken. Ich darf mir ein Bett aussuchen, sagt Vi, weil ich die Neue bin, und ich entscheide mich für das Himmelbett am Fenster. Neben Vi und mir schlafen noch zwei weitere Mädchen hier: Sandra Wong, Ollys Freundin, und Jessica Taylor, ein Mädchen mit strähnigen, braunen Haaren, die ihr ständig ins Gesicht fallen. Beide machen einen netten ersten Eindruck, Jessica ist sehr zurückhaltend und spricht wenig, und Sandy mich beäugt und offensichtlich abwägt, ob ich Interesse an Olly haben könnte. Habe ich nicht, und meine Gedanken triften langsam ab nach Ilvermorny, während ich mein Bett aufschüttele und in meine Schlafshorts schlüpfe. Ich ziehe die Bettdecke über mich und höre nur am Rande die leisen Gespräche von Vi, Sandy und Jessica, die den Tag und neuesten Tratsch Revue passieren lassen, denn in bin plötzlich ganz woanders. Ich bin... zu hause. Ich denke daran, was Amy und Louise gerade in den Betten besprechen. Ob sie an mich denken? Wie war der erste Schultag? Wie geht es Liam? Wie hat er den Sommer verkraftet? Hat Nate genauso viel Blödsinn erzählt, wie immer? War die Antrittsrede von Professor Fontaine genauso lahm, wie in den letzten Jahren? Und wieder: denken sie an mich? Ich würde alles geben, um jetzt mit ihnen sprechen zu können. Sie fehlen mir. Alle vier.

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Ich wache am nächsten Morgen mit dröhnendem Kopf und einem beständig pochenden Schmerz hinter meinem linken Auge auf. Langsam richte ich mich im Bett aufvund versuche, die Ereignisse des letzten Tages Revue passieren zu lassen: den Abschied von meinen Eltern, die Fahrt im Hogwarts-Express, Vi und Cassie, Al und Lily Potter, diesen Idioten Sly McDougal und diese Peinlichkeit am Bahnhof. Natürlich war es ein Missverständnis, als der Wildhüter meinen Namen auf der Liste vorgelesen hat und zu den Erstklässlern sortierte. Meine Fingerspitzen prickeln noch immer bei dem Wunsch, McDougal einen Fluch an den Hals zu hexen, als er mich eine verkappte Riesin genannt hat. Wie der Wildhüter zusammengezuckt ist bei der offenkundigen Beleidigung... Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Riesenblut in seinen Adern fließt.

Ich sinke zurück in die Kissen und starre an den blau-weiß-karierten Baldachin über mir. Und diese Zeremonie in der großen Halle. Sie haben mir tatsächlich vor der ganzen Schule diesen alten Hut übergestülpt. Sicher ist es eine große Ehre, für sein Haus ausgewählt zu werden, und Ravenclaw ist ruhmvoll und ich freue mich, mir das Zimmer mit Violett zu teilen, doch... Man, ich bin die Neue. Keine Austauschschülerin, die nach einem halben Jahr wieder nach Hause zurückgeht. Hätte die Schulleiterin das nicht in ihrem Büro machen können, wo mich nicht jeder verdammte Schüler anstarrt? Mich, die Neue, aus Amerika? Nehmt sie freundlich auf. Die Ravenclaws haben sich natürlich gefreut, aber... der Rest hat mich angeschaut wie mit dem Omniglas vergrößert. Es war wirklich unangenehm.

Bist du mit ihr verwandt? Mit Lily Evans?

Vielleicht haben sie mich deshalb so angestarrt, weil ich diesen Nachnamen trage und diese roten Haare habe. Aber für beides kann ich nichts. Wir haben mit den Potters nichts zu tun, meine Mutter hätte das erwähnt. Ich habe den Nachnamen von Dad, und der ist nicht-magisch. Der ist ein ganz normaler, amerikanischer Evans.

„Du bist ja schon wach." Vi gähnt herzhaft und dehnt sich wie ein Klappmesser, bevor sie alle Gliedmaßen gleichzeitig in die Höhe streckt und sich schließlich seitlich aus dem Bett schwingt.

Ich zucke mit den Schultern. „Konnte nicht mehr schlafen."

„Bist du aufgeregt?", fragt sie immer noch gähnend und setzt sich in den Schneidersitz. Die beiden anderen Mädchen – Sandra und Jessica – schnarchen noch immer leise. „Die ganzen neuen Fächer? Und Mitschüler?"

Langsam richte ich mich auf und streiche mir das Haar hinter die Ohren. „Die Fächer sind nicht so anders als in Ilvermorny. McGonagall hatte mir eine Übersicht geschickt. Das sah recht ähnlich aus." Tatsächlichen waren die Pflichtfächer identisch, nur die Bezeichnung variierte. Wir waren ebenso in Geschichte der Zauberei unterrichtet worden, wie auch in Verwandlung oder Zauberkunst. Zaubertränke hieß in Ilvermorny Elixiere, was aber letztlich auch nur ein anderes Wort dafür war, jemanden einen Liebestrank unter das Essen zu mischen. Was hier Verteidigung gegen die Dunklen Künste heißt, nennt sich in Ilvermorny schlicht Dunkle Künste. Astronomie war nie meine Stärke, Fliegen hatte ich weiter belegt, das gibt es hier nur als Kurs im ersten Schuljahr. Aber jetzt fliege ich nicht mehr.

Größere Unterschiede gib es in den Wahlkursen. Alte Runen und Arithmantik gibt es in Ilvermorny nicht. Dafür hätte ich als Senior in diesem Jahr furchtbar gerne Skinwalking belegt, einen Kurs, in dem man das Wandeln in sein Totem-Tier erlernt – bei Vollmond, im Wald. Aber das wird hier nicht angeboten. Leider.

Ich musste im Vorfeld bereits meinen Stundenplan zusammenstellen. Die Schüler hier hatten im letzten Schuljahr ihre ZAGs erworben. Da wir in Ilvermorny ein anderes Schulsystem haben (wir haben ein offenes Schulsystem und sammeln Highscore-Punkte, wodurch in den Kursen manchmal Schüler aus dem ersten oder zweiten Jahr mit Schülern aus dem letzten Jahr zusammenlernen), mussten wir meine Punkte erst umschreiben lassen, um zu schauen, ob ich überhaupt an allen Kursen teilnehmen kann, die ich belegen wollte.

Glücklicherweise bin ich offenbar das, was Collin mir immer unterstellt hat: ein Streber. Ich bin in alle Kurse, die ich weiter belegen wollte, hineingekommen. Die meisten davon überschneiden sich mit Vis Stundenplan.

Wir haben Geschichte der Zauberei bei Professor Binns, einem Gespenst (Vi hat mich vorgewarnt, dass sein Unterricht nicht ganz so spannend ist) und Kräuterkunde bei Professor Longbottom. Zauberkunst haben wir bei unserem Hauslehrer Professor Flittwick. In Verteidigung gegen die Dunklen Künste hatte Vi nicht den nötigen ZAG und belegt stattdessen ihr Lieblingsfach Arithmantik.

Verwandlung werden wir zur Überraschung des ganzen Jahrgangs bei der Schulleiterin selbst haben. McGonagall übernimmt nur noch selten eigene Klassen.

„Das erklärt auch, warum die Anforderung in diesem Jahr so hoch war!", sagt sie, während wir zu unserer ersten Unterrichtsstunde in Verwandlung laufen. „Professor Drowsel hat im letzten Jahr schon Schüler mit einem A im ZAG akzeptiert. Der Kurs war total überfüllt, weil alle dachten, es wird leicht und am Ende sind fast alle durch ihre UTZs gefallen." Sie biegt in einen Flur im ersten Stock auf und stoppt abrupt, als sie den Pulk Schüler vor dem Klassenzimmer stehen sieht.

„Ist das das Verwandlungsklassenzimmer?", frage ich.

„Nee, das ist Doxy-Dreck", schnauft sie. 

👽🧚🏻‍♀️💩

Was erspäht der violettfarbene Sonnenschein wohl am Ende des Flurs? Ideen?

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