Kapitel 23

Finneagan

Manchmal möchte ich dich einfach nur schütteln.

Violetts Worte von heute Morgen klingen noch in meinen Ohren nach, als ich die Große Halle verlasse. Im Stillen gebe ich ihr Recht: Ich will mich auch schütteln. Ich verhalte mich wie ein Hohlkopf, seit Evans an der Schule ist.

Ich habe ihr nachgestarrt, als sie die Halle verlassen hat, unfähig sie aufzuhalten. Ich hätte sie am Handgelenk festhalten sollen und sie nicht bloß mit großen Augen anstarren. Ihr nicht nur hinterher sehen, wie ein liebeskranker Troll.

Echt, Finn. Du bist so ein Schwachmat. So kannst du sie doch nicht stehenlassen! Meinst du, Rory wartet ewig auf dich?!

Ja, das hat sie mir so ins Gesicht gesagt. Und dann noch: Sei nicht dumm. Das Leben ist zu kurz.

Deshalb wollte ich mit Evans reden vor dem Spiel. Ja, das Leben ist viel zu kurz. Ich weiß das sehr genau. Ich greife in die Hosentasche meiner Jeans und ziehe das Messingschild heraus. F.C. Finneas Cunningham.

Finn hätte mich ausgelacht, wenn er das mit hätte ansehen müssen. Wie ich mich wegen eines Mädchens so verrenke und bescheuerte Gründe finde, um mich nicht-

Das Leben ist zu kurz.

Ist es.

Finn in meinem Kopf lacht nur. Wie immer.





Meine Schritte hallen an den Wänden wider, während ich durch den Korridor hetze und im Treppenhaus gleich zwei Stufen auf einmal nehme.

Als ich sie dann im zweiten Stock endlich eingeholt habe, bin ich ganz außer Atem. Sie steht auf dem obersten Treppenabsatz und dreht sich langsam zu mir um, nachdem ich außer Puste ihren Namen gerufen habe.

Die Porträts in den Gemälden an den Wänden dösen vor sich hin, lediglich dieser dicke, bärtige Zauberer mit Rüschenbluse ist noch wach und nippt an seinem Weinglas, während er mit einer riesigen Schwanenfeder auf seinem Pergament herumkritzelt. Ich höre das missbilligende Schnalzen seiner Zunge, als ich die Treppenstufen hinauf hechte und zwei Stufen unterhalb von Rory zum Stehen komme.

Ihr blaues Tanktop ist viel zu dünn für den Weg durch das zugige Treppenhaus. Das kommt mir als Erstes in den Sinn – und als Zweites, wie unfassbar schön sie ist. Ihre rotblonden Haare leuchten wie Herbstlaub im Kerzenlicht und das Blau ihrer Augen ist klar wie ein Gebirgssee – auch wenn sie mich jetzt mit gerunzelter Stirn ansieht, als ob ich sie nicht mehr alle beieinander habe. Was vermutlich auch stimmt.

Ich will ihr meinen Pulli geben. Sie muss frieren. Aber mir fällt erst auf, dass ich keinen trage, als ich an mir hinunterblicke.

„Du bist wirklich lästig heute, McDou...", sagt sie leise, lächelt aber dabei. Dieses Lächeln sorgt dafür, dass die Gelenke in meinen Knien sich in Flubberwürmer verwandeln, und mir wird schlagartig bewusst, dass ich wirklich in Schwierigkeiten stecke wegen Evans. „Hast du was vergessen?" Ihre Wimpern fangen mit jedem Schlag den Staub ein und es juckt mich in den Fingerkuppen, die Hand auszustrecken und die feinen Partikel wegzustreichen. In gewaltigen Schwierigkeiten.

Mein Puls beschleunigt sich auf mindestens 180 und dort, wo eigentlich mein Verstand ist, sitzt jetzt ein großer wabbeliger Pudding, der kein Wort mehr zu Stande bringt. „Ich..."

„Du?" Ihre Stimme klingt unterkühlt.

Ich schlucke und steige langsam und mit weichen Knien eine Treppenstufe höher. Damit bin ich fast mit ihr auf Augenhöhe. „Ähm, ja...", mache ich leise. Ich will mir instinktiv durch die Haare fahren, unterdrücke den Impuls aber mühsam, und räuspere mich verlegen.

Ich kann das nicht bringen. Sie hat mich vorhin voll auflaufen lassen. Sie ist einfach gegangen und je längere ich sie ansehe, umso abweisender sieht sie aus. Ich hab's versaut. Ich kann doch nicht... Scheiß auf: Das Leben ist zu kurz. Wenn ich sie jetzt küsse, haut sie mir vermutlich eine rein. „Sieben Uhr, ja?" Vollpfosten.

Sie atmet tief ein. Sehr tief. Und je tiefer sie einatmet, umso mehr habe ich das Gefühl, dass mir die Luft zum Weiteratmen fehlt. Der Abstand zwischen uns ist verdammt gering. Ich hätte auf meiner unteren Stufe bleiben sollen, wo ich eben noch gewesen bin. So dicht vor ihr fehlt mir eigentlich alles, was ich brauche, um klar denken zu können. Luft, Platz, Abstand.

„Sieben Uhr", wiederholt sie leise. Ihre blauen Augen finden meine. Sie hat erstaunlich lange Wimpern, und dichte und... „Also... ist das alles, was du... noch wolltest, Finni?", flüstert sie und blinzelt.

Ich schlucke zittrig. Warum fühlt sich das hier so an, als ob sich fünf Occamys in meinem Bauch herumwälzen? „Ähm... ja... ich denke... ja...", sage ich und sehe, wie Rory eine Augenbraue hebt.

„Gute Nacht, Finn,", sagt sie trocken und ich fühle mich, als ob ich mit vollem Tempo mit dem Besen gegen die Balustrade in der Ostkurve gekracht wäre.

„Gute Nacht, Rory." Ich hoffe inständig, dass sie in Leglimentik eine Niete ist und mir nicht in den Kopf schauen kann.

Doch sie rührt sich nicht von der Stelle.

Ich höre Schritte in der Eingangshalle und das Gelächter von ein paar Hufflepuffs, die von der Party Richtung Hufflepuff-Gemeinschaftssaal laufen. Ich bin mir nicht sicher, ob noch heute oder schon morgen ist. Wenn Mitternacht bereits vorbei ist, habe ich die Schlossuhr nicht schlagen hören. Aber das ist auch nicht wichtig. Wichtig ist, dass sie noch immer regungslos vor mir steht, und keine Anstalten hat, zu ihrem Gemeinschaftsraum zu gehen.

Sie sieht mich an, als ob sie auf irgendetwas wartet.

Und ich sehe sie nur an.

„Schlaf gut", flüstert sie erneut und schluckt. Ihre Nasenflügel blähen sich leicht und die feinen Härchen an ihren Seiten werden vom Durchzug in ihr Gesicht geweht. Zu schnell strecke ich die Hand aus und streiche ihr die verwehten Haare hinter das Ohr. „Du auch", gebe ich mit brüchiger Stimme zurück und schlucke.

Küss sie. Die Stimme in meinem Kopf brüllt mir fast schon ins Ohr, dass ich es endlich tun soll, und wieder klingt sie dabei verdächtig nach Gryff. Küss sie jetzt, verdammt!

Rory sieht zu meiner Hand, die ich nur unter größter Kraftanstrengung aus ihrem Nacken lösen kann. Ich kann ihren Blick überhaupt nicht deuten.

Da ist doch noch etwas zwischen uns, oder nicht? Das merkt sie doch auch, oder?

Dort wo meine Fingerkuppen sie berührt haben, fühlt es sich an, als ob ich mich verbrannt hätte. Das muss sie doch gemerkt haben.

„Nacht." Aber sie schluckt und tritt schnell rückwärts die Stufen hinauf.

Und ich fühle mich wie ein Idiot und sehe ihr nach, wie sie im dunklen Korridor im dritten Stock verschwindet.

Ja, dich zu küssen", höre ich eine piepsige Stimme hinter mir, als Rory schon fast die Treppe hinauf ist.

„Was?" Ich drehe mich herum und sehe den weintrinkenden Zauberer mit der weißen Perücke verständnislos den Kopf schütteln.

Als sie dich gefragt hast, ob du etwas vergessen hast. Da hättest du sagen sollen: Ja, dich zu küssen. Und jetzt husch, junger Mann! Sie wartet kein zweites Mal so lange, bis du dich entschieden hast!"

Perplex starre ich den dicken Zauberer an und er wedelt aufgebracht mit der Hand.





Rory

Mein Herz schlägt noch immer aufgeregt und schnell in meiner Brust, während ich den Korridor im fünften Stock zum Ravenclaw-Turm hinunterlaufe.

Ich bin mir nicht sicher, was das eben sollte. Er sah eindeutig so aus, als ob er mich küssen wollte, aber er hat einen Rückzieher gemacht. Ich spüre noch immer seine Fingerspitzen an meiner Wange und-

Wie kann er nur so ein – mir fehlt wirklich ein entsprechendes Schimpfwort, um den gesamten Umfang seiner Stumpfsinnigkeit in Worte zu fassen. Da will er zum einen vor dem Spiel mit mir reden. Dann ist er fast schon flirty nach dem Spiel. Sucht er ständig Blickkontakt. Und dann, dann... macht er den Rückzieher! Was soll das? Glaubt er, ich bin sein Punching Ball? Dass ich diese Achterbahn der Gefühle einfach so schlucke? Ich habe ihm die Hand gereicht. Dazu stehe ich auch. Aber ich habe ihm auch ziemlich deutlich gesagt, wo ich stehe. Ich werde sicher nicht zulassen, dass er mit meinen Gefühlen spielt.

„Rory, warte."

Ich halte die Luft an. Ich weiß ganz genau, dass er hinter mir steht, als ich vorm Eingang zur Wendeltreppe zu unserem Gemeinschaftsraum angelangt bin. „Doch was vergessen?" Ich klinge fieser als beabsichtigt, als ich mich umdrehe. Aber dieses Hin und Her nervt mich.

Ich sehe Finns gerötete Wangen und er nickt aus der Puste. „Jepp." Dann nimmt er ohne weitere Worte zu verlieren mein Gesicht in beide Hände und küsst mich atemlos.

Ich bin so verdattert, dass ich meinen rasenden Herzschlag ignoriere, und ihn perplex ansehe, nachdem er mich freigibt.

Das hat er gerade nicht getan.

Das", sagt er schlicht und sieht mich schief an. „Wollte ich schon auf dem Spielfeld machen."

Das hat er vor allem nicht sagt!

Als ich nichts erwidere, lässt er mich verlegen los und beißt sich verhalten auf die Unterlippe. „Scheiße, ich wollte das schon vor zwei Wochen machen. Und heute früh in der Besenkammer. Jeden Tag als wir fliegen waren. Fuck, Evans, ich will das immer machen, wenn ich dich sehe und ich war... ich hätte nie... Ich hätte dich nie so auflaufen lassen dürfen nach diesem Nachmittag in Trewlaneys Turm." Er atmet aus.

Ich sollte ihn ohrfeigen.

Ich schmecke seine Lippen noch auf meinen und damit auch den Nachhall des Butterbiers.

„Und warum hast du es gemacht?", frage ich ihn und klinge ein wenig verbittert. Ich spüre mein Blut in den Ohren rauschen und habe die Befürchtung, dass mein Herz mir gleich laut hämmernd aus der Brust springt.

„Ich...", setzt er an und fährt sich fahrig durch das blonde Haar, „Angst. Vermutlich Angst." Er holt sehr tief Luft. „Dass du... mit dieser ganzen... Scheiße am Ende doch nicht klar kommen willst, glaube ich."

Ich starre ihn an und will ihm am liebsten wirklich ohrfeigen. Aber ich tue es nicht. Stattdessen atme ich tief durch und sehe ihn an. „Und jetzt?"

„Hab ich immer noch Angst, dass dir dieses Chaos in mir zu viel ist." Er senkt den Blick und die Luft weicht aus ihm wie aus einem angestochenen Luftballon.

Ich nicke langsam. „Okay..." Finn hebt den Blick und sieht mich vorsichtig an. Da ist viel Unsicherheit in seinem Blick. Sehr viel Unsicherheit.

Wenn er wüsste, dass mein Herz mir gerade bis zum Halse schlägt, müsste er nicht so unsicher da stehen. Ich räuspere mich heiser und sage leise: „Du wolltest mich also nach dem Spiel schon küssen?" 

"Auf dem Spielfeld, ja", flüstert er.

Ich spüre, wie mir die Hitze in die Wangen steigt. „Warum hast du es nicht getan?" Ich erinnere mich, wie er so übertrieben auf seinem Nimbus gelehnt hat und mich so schief angegrinst hat. Das dämliche Occamy hat sich zu einer gewaltigen Größe aufgeplustert in dem Moment, dass ich es unter seinem Blick kaum ausgehalten habe.

„Wollte nicht, dass die ganze Schule dabei zuschaut...", murmelt er und sieht mich wieder verlegen an. Er. Finneagan „Sly" McDougal. Verlegen! „Kannst du bitte -" Er tritt von einem Fuß auf den anderen. „Man, Evans, lass mich hier doch nicht so auflaufen!"

Um meine Mundwinkel zuckt es. „Ich glaube, darin bin ich richtig gut...", gebe ich leise zurück und fange seinen Blick ein, bevor ich nach seinem kleinen Finger greife und meinen darin einhake. Seine moosgrünen Augen verlieren ihre nervöse Unruhe und er atmet auf, als das Zucken um meinen Mund zu einem Lächeln wird. „Ich lasse dich nämlich ziemlich gerne auflaufen..."

„Rory, ich..." Er seufzt schwer und sieht zum ersten Mal, seit ich ihn kenne, wirklich klein aus. „Du hast mich wirklich umgehauen", flüstert er dann und wiederholt seine Worte von der Party. Nur diesmal versteckt er sich nicht hinter einer Ausrede. „Und nicht nur mit diesem Spielzug..." Er streicht mir vorsichtig mit dem Daumen über den Handrücken. „Darf...  ich dich nochmal küssen. Also... richtig?"

Mir läuft es prickelnd heiß den Rücken hinunter, während dieses Occamy in meinem Bauch jetzt richtig aufdreht. 

Ich hätte gedacht, dass er sich einfach nimmt, was er will. Wie immer. Ein wenig grobschlächtig, arrogant und rücksichtslos, wie ich ihn kennengelernt habe. Aber so ist Finn nicht. Insgeheim weiß ich das schon lange.
Er wartet auf die Erlaubnis, ob er mich noch einmal küssen darf, und als ich gespannt nicke, zögert er sichtlich, als ob er nicht fassen kann, dass ich mich wirklich darauf einlasse. Auf ihn. Auf sein Chaos und alles, was dazu gehört.

Dann tritt er näher, so nah, dass mir dieser typische Finn-Duft in die Nase steigt. Leder, Holzpolitur und er. Ich atme tief ein und versuche, mich auf ihn zu konzentrieren. Meine Gedanken treten in den Hintergrund, während sein Daumen über meinen Wangenknochen streicht, über den Kratzer, den ich beim Spiel abbekommen habe, und er atmet ein. Sein Gesicht ist nur Millimeter von meinem entfernt und irgendwie rechne ich damit, dass Peeves polternd durch die Decke bricht und uns mit Wasserbomben abwirft. Aber das passiert nicht.

Stattdessen bekomme ich von Finn den zärtlichsten Kuss meines Lebens. Es ist im ersten Moment nicht mehr als der Flügelschlag eines Schnatzes, der meine Lippen berührt. Eine federleichte Berührung und ich spüre, wie heftig er dabei zittert. Vorsichtig lässt er seine Stirn gegen meine sinken und verharrt dort, bis ich meine Entscheidung getroffen habe, ob ich diesen Kuss verklingen lasse oder nicht.

Mein Herz schlägt so heftig gegen meinen Brustkorb, dass ich das Gefühl habe, dass es gleich explodieren muss, wenn nicht-

Wenn nicht.

Ich drehe den Kopf ein wenig. Meine Nasenspitze streift seine, meine Lippen finden seine und sein Griff um mein Gesicht verstärkt sich als ich meinen Mund ein Stück öffne und ihm erlaube, den Kuss zu vertiefen. Sacht streicht Zunge an meiner entlang und ich spüre, wie sehr ich das hier will. Wie sehr ich vorhin an der Treppe darauf hoffte, dass er mir nachkommen und genau das hier tun würde.

Und der Kuss übertrifft all meine Vorstellungen. Es ist ein perfekter, ganz perfekter Kuss. Und dieses Mal schmeckt er nicht nach Traurigkeit oder Verzweiflung, sondern ganz anders. Nach Hoffnung. Und Licht. 

Finn seufzt leise, als ich ihm sanft die Hand auf die Brust lege. Der Kuss verklingt zart, wie er begonnen hat, und Finn lässt sehr langsam die Finger an meinem Hals hinab zu meinen Schultern rutschen. Seine Fingerkuppen sind rau und schwielig, Spielerhände, aber er berührt mich, als ob er einen Schnatz in der Hand hätte und ihm die Flügel brechen könnte.

Es müssen wirklich Billywigs sein, diese Insekten, die neben dem Occamy in meinem Bauch herumschwirren, denn ich habe das Gefühl, sofort abzuheben und davonzufliegen.

Ungläubig schüttelt er den Kopf. „Das war..."

„Nicht...", unterbreche ich ihn. „Sag jetzt einfach nichts, McDou." Er würde es nur kaputt machen. „Geh einfach schlafen, Finn."

Finn sieht zwischen uns hin und her, nickt dann aber verklärt und grinst zufrieden. „Sieben Uhr, ja?"

„Bei Merlin, gute Nacht!" Ich stöhne auf, drehe ihn um und gebe ihm einen leichten Schubs den Korridor entlang. Murrend, aber mit einem breiten Grinsen im Gesicht, läuft er den Flur im fünften Stock hinunter, dreht noch einmal um, sprintet zurück und küsst mich breit grinsend noch einmal, bevor er wirklich geht – und das keine Sekunde zu spät. Gerade, als ich die Wendeltreppe hinaufgestiegen bin und die Tür des Gemeinschaftsraumes hinter mir geschlossen habe, kommen Olly und Sander von der Party nach Hause gewankt.

Und so, wie sie mich anstarren, haben sie ihn garantiert verklärt grinsend im Korridor gesehen. 



...........

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