Kapitel 2
„Herzlichen Glückwunsch", sagt das Mädchen und rutscht zu mir in das Abteil. Sie schließt die Schiebetür hinter sich und setzt sich mir gegenüber hin.
„Wozu?"
„Der Zug ist noch nicht mal losgefahren und du hast schon dafür gesorgt, dass Sly McDougal einen richtig miesen Start ins neue Schuljahr hat."
„Mieser als mein Start kann der nicht sein, daher...", murmle ich leichthin und spüre den leichten Ruck, der durch den Wagon geht, als der Zug sich in Bewegung setzt. Langsam und unter dichten Dampfschwaden verlässt der Hogwarts-Express den Bahnhof King's Cross. Eltern winken dem Zug und meine eigenen verliere ich schnell aus dem Sichtfeld.
Mein Magen zieht sich zusammen und ich fühle mich mit einem Mal ziemlich allein.
Ich spüre ihren forschenden Blick auf mir und wende meinen schließlich vom Fenster ab, während der Zug gemächlich durch London tuckert.
„Ich hab dich noch nie in der Schule gesehen. Internationales Austauschprogramm?"
„So in der Art", ich seufze schwer. „Schulwechsel." Das Wort kommt mir nur spröde über die Lippen. Ein Austauschprogramm wäre mir tausendmal lieber.
Sie legt überrascht den Kopf schief. „Wie ungewöhnlich. Das... hatten wir noch nie, seit ich an der Schule bin."
Ich zucke mit den Schultern. „Es ist auch eher unüblich."
„Wo kommst du her?", fragt sie neugierig und zieht ein Knie an.
„Boston, Massachusetts. Ich war auf der Ilvermorny Schule für Hexerei und Zauberei."
Sie bekommt große Augen. „Oh, wow... wir haben im letzten Schuljahr in Geschichte der Zauberei kurz darüber gesprochen. Über irische Auswanderer im 17. Jahrhundert. Natürlich haben wir auch über Isolt Sayre gesprochen."
Natürlich. Isolt gilt als Gründerin Ilvermornys. Isolt Sayre wurde um das Jahr 1603 herum in einer irischen Grafschaft geboren und stammte von zwei reinblütigen Zaubererfamilien ab. Später starben ihre Eltern in einem Feuer, als sie fünf Jahre alt war. Ihre Tante Gormlaith Gaunt nahm das Mädchen auf und zog sie groß. Später fand Isolt jedoch heraus, dass ihre Tante die Eltern ermordet hatte, da sie Schwierigkeiten mit der muggelfreundlichen Einstellung ihrer Schwester - also Isolts Mutter - hatte. Als Nachfahrin Salazar Slytherins war das natürlich ein No-Go.
Gormlaith war Verfechterin des reinen Blutes und wollte ihre Nichte richtig erziehen. Isolt durfte nicht einmal Hogwarts besuchen, da sich dort Schlammblüter herumtrieben, und so blieb Hogwarts ein unerfüllter Traum für sie.
Irgendwann sammelte Isolt genügend Kraft und Mut, um ihrer Tante den Zauberstab zu stehlen und damit fliehen zu können. Zuerst floh sie nach England, und von dort aus, als Junge verkleidet, 1620 mit den ersten Siedlern auf der Mayflower nach Amerika. Letztlich verschwand sie alleine in die Berge der Appalachen. Dort fühlte sie sich sicher vor ihrer Tante. Ebenso war es schwer, in Amerika Hexen zu finden, denn nach den Hexenverbrennungen hatten diese sich in alle Winde verstreut und lebten versteckt.
Nach einigen Wochen, die sie allein in den Bergen verbracht hatte, machte sie jedoch die Bekanntschaft zweier magischer Wesen, von deren Existenz sie bisher nichts geahnt hatte: sie traf einen Pukwudgie und einen Hintertück, die miteinander kämpften. Mit einem Fluch konnte sie den Hintertück in die Flucht jagen und rettete den schwer verletzten Pukwudgie, den Isolt gesund pflegte und sich mit ihm anfreundete.
Pukwudgies sind Igel-ähnliche Wesen und entfernt mit Kobolden verwandt. In ihren Fähigkeiten unterscheiden sie sich erheblich von gewöhnlichen Igeln. Er achtet Traditionen, ist außerordentlich intelligent und in der Lage, seine Waffen selbst herzustellen. Für die Jagd verwendet der Pukwudgie todbringende, giftige Pfeile und verfügt zeitgleich über eine einzigartige Magie. Er kann sich zum Beispiel halb oder vollständig in andere Geschöpfe verwandeln, Feuer entfachen sowie plötzlich verschwinden oder ganz überraschend wieder auftauchen.
Bei einem ihrer gemeinsamen Streifzüge durch die Wälder entdeckten Isolt und der Pukwudgie, vier Opfer eines magischen Tierwesens. Den beiden Erwachsenen war nicht mehr zu helfen und sie starben, aber die zwei Jungen lebten noch und Isolt nahm sie mit zu ihrem Unterschlag aus Zweigen und Ästen, um die Kinder gesund zu pflegen.
Bald fand Isolt heraus, dass Chadwick und Webster Boot - so lauteten die Namen der beiden Jungen - beides Zauberer waren. Die Jungen waren in den ersten Wochen so krank, dass Isolt erst später dazu kam, zu der Stelle zurückzukehren, um den Eltern ein Begräbnis zu verschaffen, doch da sah sie, dass ihr schon jemand zuvorgekommen war.
James Steward war ein Muggel und als er einen der Zauberstäbe der Eltern aufhob und durch die Luft schwang, krachte er an einen Baum und verletzte sich schwer. Isolt musste ihn mitnehmen, um ihn zu pflegen. Die beiden verstanden sich jeden Tag besser und Isolt verliebe sich in den No-Maj - sie schaffte es nicht, ihn zu oblivieren, obwohl sie es sich jeden Tag vornahm.
Die beiden mussten irgendwann einsehen, dass sie verliebt waren und heirateten. Chadwick und Webster wuchsen bei ihnen auf, wie ihre eigenen Kinder. James errichtete ein Steinhaus auf dem Gipfel des Greylock für sie, welches Isolt Ilvermorny taufte, und legte die Grundsteine der späteren Schule.
„Das ist die Kurzfassung der Gesichte", sage ich, „Ähm, die Sache mit dem Pukwudgie ging noch weiter..." Pukwudgies sind den Menschen nicht so zugetan, aber das ist, wie gesagt, eine ganz andere Geschichte.
„Wow." Das Mädchen schaut mich an. „So genau haben wir nicht darüber gesprochen."
Ich zucke mit den Schultern. „Das weiß bei uns jeder."
Sie mustert mich gründlich. „Okay, bei uns kennt auch jeder die Gründungsgeschichte von Hogwarts." Sie schaut herausfordernd und will offenbar wissen, ob ich mich damit auskenne.
„Ich hab davon gelesen. Ilvermorny funktioniert ähnlich", sage ich. „Wir haben auch vier Häuser, wie ihr. Ihr habt", ich überlege kurz, „Gryffindor, Slytherin, Ravenclaw und Hufflestuff."
„Hufflepuff", korrigiert sie mich lächelnd. „Sorry, über eure Häuser weiß ich gar nichts." Sie wird rot und sieht ernsthaft verlegen aus. „Ich hab noch nie - ich musste nie..." Sie bricht ab und schaut auf ihre buntlackierten Fingernägel.
„Unsere Häuser sind der Donnervogel, der Wampus, die gehörnte Schlange und - natürlich - der Pukwudgie."
Angeblich leben die Nachfahren von William, dem Pukwudgie heute noch in Ilvermorny. Nate hat groß getönt, mal einen gesehen zu haben, aber ich weiß nicht, ob ich ihm das glauben soll.
Sie runzelt die Stirn und versucht vermutlich zu verstehen, für was die Tierwesen stehen. Ich weiß, dass jedem Haus Hogwarts bestimmte Eigenschaften - im Sinne ihrer Gründer - zu geschrieben werden.
„Bei unserem Aufnahmeritual wirkt viel Magie." Ich lächle und bekomme unwillkürlich Gänsehaut, als ich an meine eigene Einschulung vor sechs Jahren zurückdenke. „Alle Schüler sind in unserer Halle und der jeweilige Schüler stellt sich auf den gordischen Knoten in der Mitte." Ich spüre ein unbestimmtes Flattern im Bauch und fühle mich seltsam unvollständig. Mir fehlt diese Brosche. Ich konnte sie nicht mitnehmen. „Die Brosche, der gordische Knoten, ist auch ein Teil unserer Schuluniform und hält den Umhang zusammen und-"
Ich unterbreche mich. Ich werde bloß melancholisch und heule vermutlich vor lauter Heimweh los. „Dann entscheiden die Geister, wer Anspruch auf den Schüler erhebt."
„Geister?" Sie runzelt die Stirn.
„Naja, die Häuser eben. Der Geist des Wampus, des Pukwudgie..." Ich grinse schief. „Und dann wirst du erwählt."
„Bei uns macht das der sprechende Hut."
Das habe ich gehört. Du bekommst einen alten Hut über gestülpt und der sortiert dich in ein Haus. Ich sage ja nichts, aber was wäre, wenn einer der Erstklässler, sagen wir... Läuse mit in die Schule brächte?
„Und was passiert, wenn dich der Krampus und die Schlange haben wollen?"
„Wampus." Der Wampus ist ein pantherähnliches, magisches Geschöpf, das hauptsächlich in den Appalachen im Osten der USA zu Hause ist. Er ähnelt einem Berglöwen sowohl in der Größe als auch im Aussehen, kann aber auch auf zwei Beinen laufen. Sie sind pfeilschnell und man sagt, sie hätten eine Begabung zur Hypnose und Legilimentik. Gesehen habe ich glücklicherweise noch nie einen. Sie sollen sehr tödlich sein.
„Dann darfst du wählen."
„Kommt das häufig vor?"
Ich zögere. „Es kommt vor." Sehr selten zwar, aber es kommt vor.
Wir sehen uns einen Augenblick schweigend an, dann reicht sie mir die Hand. Ihr Händedruck ist kühl, aber fest. „Ich bin übrigens Vi."
„Rory, hallo." Ich lege den Kopf schief. „Vi wie Viola?"
„Wie Violett."
Ich starre sie perplex an. Ihre violetten Haare stehen im starken Kontrast mit ihren hellen, grünen Augen und sie strahlt, als sie lacht. „Ernsthaft?"
„Ernsthaft."
„Sehr erfreut dich kennenzulernen", grinse ich und sehe zur Tür. Im Gang tut sich was. Blondie kommt aus dem Nachbarabteil und diskutiert mit einem hübschen, hellblonden Mädchen. Sie sieht gestresst aus und hat einen verkniffenen Gesichtsausdruck.
Vi folgt meinem Blick und stöhnt genervt. „Bei Merlins Bart, ich hätte mich ans andere Ende des Zuges setzen sollen...", murmelt sie und klingt gestresst.
„Dann hättest du mich nicht kennengelernt."
„Stimmt auch wieder", sie grinst und ihre kurzen, bunten Haare wippen auf und ab. „Aber dieses Drama..."
„Ein reizender Affe."
„Ja, ja, unser Schul-Ghul... Du hast ihn in Hochform erlebt." Sie rollt die Augen, streift ihre Schuhe ab und legt die Füße neben mir auf den freien Sitz. „Sly McDougal. Merk dir den Namen des strahlendes Heldes." Ihre Stimme tropft vor Sarkasmus.
„Dein bester Freund?"
„Ja... nein. Eher nicht." Sie schüttelt sich. „Er ist... wie sage ich das freundlich: der Mittelpunkt des Universums. Glaubt er."
Ich denke kurz an meinen Bruder und schlucke. „Lass mich raten: Quidditch-Spieler?"
„Hüter", sie spuckt das Wort aus, wie eine von Bertie Botts Bohnen mit der Geschmacksrichtung Windeln. „Hat vorletzte Saison alle Spiele zu null gewonnen. Letzte Saison-" Sie zögert sichtlich und sieht zur Tür. „Nun, er war unausstehlich danach. Man munkelt, er hätte jetzt schon einen Profi-Vertrag bekommen können."
Das ist krass. Collin war direkt mit 18 Jahren verpflichtet worden, das war ziemlich jung. Wie alt ist dieser Sly? 12? Gut, dem breiten Kreuz nach älter.
„Ich danke dir jedenfalls, dass du ihn so an den Kessel gepisst hast. Das trauen sich nicht viele. Normalerweise tut er so, als gehöre die Schule ihm, und die Leute akzeptieren das."
„Du auch?" Sie wägt eine Weile ab. „Ich gehe Sly McDougal großräumig aus dem Weg, wenn es sich nicht anders einrichten lässt."
„Das heißt, ihr seid nicht im gleichen Haus?"
„Eher würde ich 'ne Doxys knutschen, als mit ihm im gleichen Haus zu sein." Vi schüttelt sich und grinst. „Sly ist in Slytherin. Ich bin eine Ravenclaw." Letzteres sagt sie mit unverhohlenem Stolz in der Stimme.
„Warte. Er heißt Sly und ist in Slytherin?"
Um Vis Mundwinkel erscheint ein süffisantes Lächeln. „Ironie des Schicksals."
Ich bin mir jedoch nicht so sicher, ob das tatsächlich stimmt oder ob, da nicht noch mehr dahinter steckt. Auch diese Vibes zwischen ihr und dem Schul-Ghul, wie sie ihn so nett bezeichnet hat, waren so unterschwellig-oberschwellig greifbar, dass man fast glauben könnte, da wäre was. Vielleicht hat er sie abserviert?
„Und wer ist sie?" Ich sehe auf den Gang. Die Diskussion zwischen Sly McDougal und seiner verkniffenen Begleitung ist abgeflaut. Mittlerweile sind sie zu Stufe 2 übergegangen und knutschen.
Vis Augenbrauen ziehen sich so fest zusammen, dass sie eine Linie bilden und sie sieht gar nicht glücklich aus. „Susie Fletcher!", stößt sie angewidert aus. Susie ist mit großem Engagement dabei und geht ganz schön zur Sache. McDougal lehnt während der ganzen Knutscherei gegen die Wand und hat seine Hände breit auf Susies Hintern platziert. Dann öffnet er plötzlich ein Auge und sieht mich direkt an. Schnell sehe ich weg. Igitt.
„Seine Freundin?"
Vi zuckt mit den Schultern. „Sorry, da bin ich nicht drüber informiert."
Dann öffnet sich die Schiebetür erneut, und ein Mädchen mit dicken, schwarzen Locken streckt den Kopf herein. „Violett? Hier bist du! Wir haben dich schon gesucht." Sie tritt ein und setzt sich zu uns. „Hi, ich hin Cassandra."
„Rory", stelle ich mich vor. Dann wiederholt sich das Gespräch von vorhin. Austauschschülerin? Nein, Schulwechsel. Oh, woher. Ilvermorny. Oh, krass. Und so weiter. Cassandra - Cassie - ist wie Vi im Ravenclaw-Haus und ein Jahrgang unter ihr. Es stellt sich heraus, dass die beiden eigentlich verabredet waren, aber nachdem ich Sly McDougal so „herrlich habe auflaufen lassen" musste sie mich einfach kennenlernen. Und das weckt auch Cassies Interesse. Cassie spielt ebenfalls Quidditch, erzählt sie. Sucher. Für Ravenclaw.
Die Luft im Abteil wird ein wenig dünn und ich muss dem Drang widerstehen, das Fenster herunterzudrücken und Frischluft hereinzulassen.
Sie hofft sehr, dass die Ravenclaw-Mannschaft in diesem Jahr stärker ist, als im Letzten. „Da wurden wir nur dritte im Quidditch-Pokal."
Wenn ich vorher gewusst hätte, wie Quidditch-besessen hier alle sind, hätte ich darauf bestanden, zurück nach Ilvermorny zugehen. Das ist Quatsch, du wusstest das, mahnt mich die kleine Stimme in meinem Kopf. Hogwarts ist bekannt dafür, gute Quidditch-Spieler herauszubringen. Gwenog Jones, Oliver Wood, Ginny Weasley. Hatte die nicht Harry Potter geheiratet?
Ich schüttelte innerlich den Kopf. Das sind alles Gedanken, die ich abstreifen muss. Als wir umgezogen sind habe ich mir geschworen, das alles hinter mir zu lassen. Wäre ich in Ilvermorny geblieben, okay. Aber wenn schon Neustart, dann will ich auch nicht mehr den ganzen Mist um Collin denken müssen. Und dazu gehört auch dieser Sport. Quidditch.
Mittlerweile fährt der Zug durch Yorkshire. Kurz nachdem wir an Leeds vorbei sind, hören wir das Klappern des Servierwagens der Imbisswagen-Verkäuferin. „Ihr Lieben, möchtet ihr einenKürbis-Pastete?", fragt sie herzlich.
Vi sieht Cassie und mich an und kramt ihrer Tasche bereits nach Münzen. „Eine für mich. Und für euch?"
„Schokofrosch und einen Lakritzzaubertsab", sagt Cassie.
„Haben sie Zischende Wissbies?", frage ich und mustere die Auslage.
Die Verkäuferin sieht mich verwundert an. „Aber Liebes, allmählich solltet ihr mein Sortiment doch kennen!", gibt sie stirnrunzelnd zurück und drückt mir stattdessen eine Packung Bertie Botts Bohnen sämtlicher Geschmacksrichtung in die Hand.
„Noch zwei Schokofrösche!", ruft Vi und folgt der Imbiss-Hexe in den Gang.
Es geht Schlag auf Schlag weiter...
Uuund?
Was sagt ihr bislang? 💙💚💛❤
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