Kapitel 19

Als ich dann zurück im Schloss bin, spüre ich fast, wie die drückende Last der letzten Tage von meinen Schultern abfällt. Der Ravenclaw-Turm ist fast leer, nur ein paar Erstklässler sind ebenfalls über die Feiertage hier und ich habe den Schlafsaal tatsächlich für mich allein. Von Jess, Sandy und Vi ist nichts zu sehen und ihr Gepäck ist auch noch nicht da.

Ich habe geglaubt, in ein kaltes, verlassenes Hogwarts zurückzukehren, aber ich habe mich geirrt. Die Korridore sind zwar verlassen, aber das gesamte Gemäuer wird geheizt und in sämtlichen Kaminen prasselt ein einladendes Feuer.

In der großen Halle stehen zwölf üppige Tannen, die mit funkelndem Dekor in den Hausfarben geschmückt sind. An den Wänden und über den Kaminen hängen duftenden Girlanden aus Stechpalme, Tannenzweigen und Misteln und ich habe das Gefühl, dass die schwebenden Kerzen ganz besonders strahlend leuchten.

Und ich glaube, dass um die Bäume mit echten lebenden Feen dekoriert sind, die um die Weihnachtsbäume fliegen, aber ich hab sie noch nicht näher betrachtet. Ich bin irritiert. Denn am Slytherintisch sitzt unverkennbar Finn McDougal und liest in einem Buch.

Das heißt, zunächst bin ich mir unsicher, denn er dreht mir den Rücken zu und trägt einen dunkelgrauen Hoodie und hat die Kapuze über den Kopf gezogen.

Was macht er hier?

Warum ist er hier und Vi nicht?

Ich starre auf seinen Rücken, bis er irgendwann den Kopf ruckartig dreht und mir direkt ins Gesicht sieht. Er muss gespürt haben, dass ich ihn angesehen habe. Ich erschrecke fast ein wenig, als ich seinen Blick aufschnappe, denn das erste, das mir auffällt, sind die tiefen, lilafarbenen Schatten in seinem aschfahlen Gesicht. Er sieht furchtbar aus. Vermutlich hat er sich deshalb die Kapuze ins Gesicht gezogen, denke ich.

Ich erwidere seinen Blick und presse die Lippen zusammen. Ich will ihn fragen, was los ist. Aber so scheiße, wie er vor Ferienbeginn drauf war, werde ich einen Teufel tun, und ihn ansprechen. Ich habe auch meinen Stolz.

Ich weiß, dass das kindisch ist. Aber er kann so nicht weiter machen.

Dann wende ich mich um und mache auf dem Absatz kehrt. Ich habe sicherlich keine Lust, mich von ihm angiften zu lassen, dann hätte ich auch zu Hause bleiben können. Ich werde mich in der Bibliothek verschanzen. Mit langen Schritten durchquere ich die große Halle und halte auf das Treppenhaus zu, bis ich vorsichtig, fast sanft eine Hand auf meiner Schulter spüre. „Rory, warte..."

Rory. Nicht Evans.

Ich schlucke und bleibe tatsächlich stehen, während Finn mich vorsichtig zu sich herumdreht. „Was?", sage ich und sehe ihm ins Gesicht.

Er hält kurz inne, ganz als ob er vergessen hat, was er mir sagen will, aber dann holt er Luft. „Ich hab mich wie ein Arschloch verhalten."

„Stimmt."

Er tritt einen Schritt zurück und atmet langsam aus. „Ich...", beginnt er und schüttelt kurz den Kopf. „Mir fällt das nicht leicht. Mit diesen... Situationen umzugehen, die ich nicht beeinflussen kann."

„Und deshalb trittst du wahllos um dich und verletzt Menschen. Das hab ich schon kapiert. So komplex zu lesen bist du nicht."

Er zögert einen Moment und legt den Kopf schief. „Es tut mir leid, Evans." Finn blinzelt und ich kann ihm ansehen, dass es ihm ernst ist.

„Ja..." Ich nicke langsam und mein Blick wandert über sein zerzaustes Haar, die schiefe Kapuze seines Hogwarts-Pullis und die müden, grünen Augen. Er sieht so aus, als ob er seit Tagen nicht geschlafen hat. „Ich weiß."

McDou hebt den Kopf ein Stück und seine Miene hellt sich ein wenig auf. „Komm mit zurück in die Halle, Evans, und nerv mich mit deinem Sarkasmus. Hier sind zu viele Zweitklässler." Dann legt er den Kopf schief und setzt tatsächlich ein „Bitte..." Hinterher

„Du klingst ja fast verzweifelt."

Es zuckt um seine Mundwinkel. „Bin ich." Er nickt zum Slytherintisch, der sonst absolut verwaist daliegt, und ich setze mich mit ihm in Bewegung. „Hier ist tote Hose. Nur Erst- und Zweitklässler. Und die nerven."

„Wo ist eigentlich Vi? Und dein übliches Gefolge?" Das interessiert mich wirklich. Vis Sachen sind nicht im Gemeinschaftssaal.

„Vi ist in London und keine Ahnung, wen du mit übliches Gefolge meinst." Er grinst.

„Das Brain Dom Manners zum Beispiel?"

McDougal verzieht das Gesicht. „Ich bin nicht seine Nanny. Vermutlich im Urlaub mit den Eltern. Soll ich eine Eule schicken? Willst du ein Date?" Er zieht skeptisch die Augenbrauen hoch und sieht so wenig begeistert aus von der Vorstellung, wie ich mich fühle.

Ich schüttele mich automatisch. „Pfuiteufel, nein." Ich werfe ihm von der Seite einen Blick zu und rutsche auf die Bank. Es ist seltsam, dass meine Wut auf ihn sich mit seiner gestammelten Entschuldigung einfach in Luft aufgelöst hat.

Finn mustert mich mit einem Hauch von Anspannung, bis sich die Härte aus seinen Schultern löst und er langsam nickt. „Jaa, hätte ich auch nicht gedacht." Er rutscht neben mich und unterdrücke den nervösen Hüpfer, den seine Nähe in meinem Bauch auslöst.

Sein Blick streift mich warm. „Jetzt, wo du ja zumindest dem Tratsch nach was mit mir hast."

„Was?!", pruste ich.

„Hast du noch nicht gehört?" Er rollt die Augen.

Ich starre ihn mit offenem Mund an. „Wie bitte?"

Er klappt sein Buch geräuschvoll zu und lehnt sich mit den Unterarmen darauf, während mein Blick wieder zu seinen zerzausten Haaren huscht. Es sieht aus, als ob er gerade vom Besen gestiegen wäre. Es steht ihm besser, als dieser sonst stundenlang gestylte, nachlässige Look. „Nach unserem Salamankabohnen-Event? Unsere Nacht im Wald? Die Zeit im heißen Pool? Schatz, jetzt bin ich enttäuscht, dass du das vergessen hast."

„Ich kipp dir gleich den Kürbissaft ins Gesicht, ist dir das klar?"

Er lacht auf.

„Im Ernst: tuscheln die?"

„Klar tuscheln die. Und glaub mir, ich hab jedes Gerücht über mich in den letzten Wochen gehört. Mach dich locker, Evans!" Er rollt die Augen. „Ich denke, es ist ein besseres Gerücht, als die, die sie über mich erzählen."

Du meinst, dass du mit Susie geknutscht hast, will ich fragen, beiße mir aber auf die Zunge.

Er schließt kurz die Augen, viel zu lange, um zu blinzeln, und hält dann inne. „Hattest du schöne Feiertage?"

Ich rolle die Augen. „Nein. Du?"

Überrascht über meine ruppige Antwort sieht er mich an und schluckt. „Sorry. Ich wollte nicht..."

Ich blinzele ihn an und verstehe erst nicht, was er meint. Erst als er sagt: „Es war sicher schwer, ohne deinen Bruder..."

Ich atme aus. Ich schließe die Augen. Ich habe vergessen, dass er es weiß. Dass er von Collin weiß.

„Ich hab nicht nachgedacht, als ich gefragt habe", sagt er leise und klingt aufrichtig. „Es war eine Floskel. Es war bestimmt..."

„Anstrengend", unterbreche ich ihn schnell. Ich schlucke und sehe auf seinen Teller. „Das war es. Es war anstrengend. Die Gesamtumstände waren einfach... nicht gut. Deshalb bin auch schon wieder hier."

Finn nickt langsam. „Ja... verstehe ich... kenne ich..." Dann schluckt auch er schwer und mir fallen wieder seine Augenringe auf. Die blasse, fahle Haut.

„Und bei dir?", frage ich automatisch und sehe, wie er sich versteift und die Luft anhält.

„Anstrengend", flüstert auch er und sieht mich an. Er muss nicht mehr sagen. Ich verstehe auch ohne Worte, was er meint. Vielleicht macht Weihnachten, dass es anstrengend ist. Man strengt sich automatisch an. Für die Familie. Man benimmt sich außerhalb der normalen Konventionen, schnürt sich in ein Korsett, das man normalerweise nicht trägt, und stelzt hölzern durch die Feiertage. Um niemanden zu verletzen. Man hält die Luft an. Atmet nicht. Zumindest ging es mir so. Vielleicht war es bei ihm ähnlich.

Und jetzt, zurück in dieser Schule, habe ich das Gefühl, endlich wieder Luft zu bekommen.

„Du hältst die Luft an...", sagt er. Finn hat ein Bein angezogen und schlingt den Arm um sein Knie, wodurch er ein wenig Abstand zwischen uns bringt. 

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top