Kapitel 16
Finneagan
Drei Stunden nach dem Anpfiff ist der Lärm von der Tribüne lange verhallt. Trotzdem klingeln mir noch die Ohren, als ob die Menge noch immer schreit. Es ist kein angenehmes Geräusch.
Mein Puls rast noch immer.
Und ich bin noch immer scheiß wütend.
Die Umkleide ist schon lange leer, nur ich sitze noch immer gegen die Wand gelehnt da und lasse das Spiel wieder und wieder Revue passieren.
Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich kann mir nicht erklären, warum ich diese Fehler zugelassen habe. Warum ich diese Bälle reingelassen habe.
Es ist die höchste Niederlage meiner Karriere. Wir haben noch nie so hoch verloren. Ich habe noch nie so viele Quaffel vorbeigelassen. Sechsundzwanzig Stück bis es vorbei war. Bis Hufflepuff den verdammten Schnatz gefangen hat. Es war, als ob der Nimbus einfach nicht reagieren will. Als ob er verhext war.
Das ist Schwachsinn, das weiß ich. Niemand hat den Besen verhext. Ich war einfach... nicht da. Nicht bei der Sache.
Gryff würde mir was erzählen, wenn er das gesehen hätte.
Ich starre noch immer auf die Fliesen vor mir und halte Attis Mojo-Amulett in der Hand. Allmählich beschleicht mich der Verdacht, dass das überhaupt nichts bringt. Ich fliege immer noch genauso mies wie letztes Jahr. Es wird, um ehrlich zu sein, immer schlimmer.
Vi macht es auch nicht besser.
Evans macht es nicht besser.
Ihre miesen, kleinen Sticheleien geben mir einfach den Rest.
Vielleicht sollte ich-
Aber sie hat recht.
Fliegen muss ich selbst. Und ich kann es nicht mehr. Es funktioniert einfach nicht mehr.
Wütend schleudere ich das Mojo-Amulett quer durch den Raum und es landet zielsicher im Mülleimer auf der anderen Seite. Vielleicht sollte ich Jäger spielen. Nur muss ich da ebenfalls fliegen.
Verdammter Scheiß.
Die Tür knarrt leise und ich hebe den Kopf. Mein Blick bleibt zuerst an ihren schwarzen Chucks hängen, dann an diesen meterlangen Beinen, die in dieser dunkelgrauen Jeans stecken und dann wende ich den Blick ab. Warum überrascht mich es nicht, dass ausgerechnet sie hier auftaucht? „Stellst du mir nach?"
„Oh ja... Ich kann mir nichts besseres vorstellen, als dir nachzustellen." Evans lehnt sich in den Türrahmen und mustert mich. Ihr Blick ist so unnachgiebig, wie immer, und ihr haftet dieses leicht amüsierte Lächeln an, dass sie manchmal zu verstecken versucht.
Ich will nicht, dass sie mich so sieht. Wenn sie jetzt irgendeinen dummen Spruch bringt, raste ich vermutlich aus. Fliegen musst du erstmal selbst. Wunderbar, da hat sie genau das Salz in die richtige Wunde gestreut. Ich bin jetzt wirklich nicht in der Stimmung für irgendwelche Spielchen.
„Was willst du?", frage ich genervt und ziehe endlich meine klobigen Handschuhe aus. Schwerfällig werfe ich sie vor mir auf den Boden und atme energielos aus.
Sie blinzelt und kommt langsam in die Umkleide. Sie soll abziehen. Ich lege keinen Wert auf Gesellschaft. Schon gar nicht auf ihre.
Dennoch setzt sie sich ungefragt neben mich und schweigt eine Weile.
„Scheiß Niederlage", sagt sie dann.
Mir wird heiß. Sie sitzt viel zu dicht neben mir. Viel zu dicht.
„Hmpf", mache ich und will, dass sie verschwindet. Und bleibt.
Was ist nur los mit mir?
„Du verlierst nicht oft, was?"
„Ich verliere vor allem nicht gerne" gebe uch pissig zurück. Ich greife blind an meine Schienbeine und löse die Schoner, bevor ich auch die mit voller Wucht auf den Boden werfe. Ich achte darauf, Evans auf gar keinen Fall zu berühren.
Ich will sie nicht so anpampen. Aber ich kann nicht anders.
Ihre Anwesenheit passt mir nicht. Die aufsteigende Hitze in mir passt mir nicht.
Sie soll gehen.
Bleiben.
In jedem Fall soll sie die Klappe halten.
Mein Kopf sinkt schwer nach hinten und ich strecke meine Beine aus.
Evans schweigt und ich habe das Gefühl, dass sie darüber nachdenkt, ob sie mir wirklich sagen will, was sie als Nächstes sagen wird.
Dann murmelt sie: „Wir waren im letzten Jahr auch die Favoriten bei uns in Ilvermorny. Wir hatten das Mega-Team. Seit Jahren eingespielt. Von unseren Seniors sind zwei nach dem Abschluss in L.A. und Washington als Profis verpflichtet worden... richtig gute Spieler..." Sie holt tief Luft. „Wir sind aufs Feld, es war ein perfekter Tag, nicht so Mistwetter wie heute. Und diese dämlichen Pukwudgies ziehen uns zu null ab. Ich könnte Nate heute noch seinen Besen in den Rachen stopfen für sein gehässiges Grinsen, als er seinen Freudentanz danach aufgeführt hat."
Ich drehe mich abrupt zu ihr um, sehe sie an und öffne den Mund. Meine Wut löst sich schlagartig in Rauch auf.
Zu null.
Wir sind aufs Feld.
Ich starre sie an, als mir klar wird, was sie gerade gesagt hat. Sie spielt. Sie spielt wirklich. Ich wusste es!
Sie hat mich angelogen.
Ich hasse Quidditch nicht.
Ich fliege nicht.
Ich hab's gewusst. Natürlich habe ich es gewusst. „Zu null", wiederhole ich und lasse das sacken.
Sie spielt. Evans spielt wirklich Quidditch.
„Streu kein Salz in die Wunde, ja? Es war wirklich bitter", sagt sie leichthin.
Ich habe mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass sie mir nach dieser Niederlage so etwas erzählt. Dass sie fliegt, dass sie spielt, war mir klar. Sie saß nicht ohne Grund mit einem fucking Feuerblitz in der verdammten Eulerei. Ich habe den verdammten Besen sofort gesehen. Niemand, der nicht spielt, hat einfach so einen Feuerblitz. Du musst schon wirklich Quidditch spielen, richtig gut spielen, um einen Feuerblitz zu haben.
„Welche Position spielst du?", frage ich mechanisch und der Knoten in meinem Bauch wird stärker. Der Knoten ist seit Tagen da und sorgt dafür, dass ich mir viel zu viele Gedanken mache. Und die meisten kreisen um Evans.
Sie hebt nur eine Augenbraue. Sie wird es mir nicht sagen. „Jäger definitiv nicht, dafür wirfst du zu mies", sage ich matt, aber mein Herz stoppt holprig. Jäger. Dann beschleunigt der verdammte Muskel und mein Herz schlägt viel zu schnell, während ich das Blut in meinen Ohren rauschen höre. Wenn sie wirklich Jäger spielt wie...
„Ey!" Sie stößt mich mit der Schulter an und grinst.
„Tatsache." Ich breche den Gedanken ab und ringe mir ein trockenes Lachen ab. Ich schließe die Augen. „Warum spielst du nicht mehr?" Ich stelle die Frage aus Reflex. Ich kenne die Antwort bereits. Ich komme mir verdammt mies vor, deshalb sehe ich ihr dabei auch nicht in die Augen.
Rory schweigt und ich höre, dass sie schwer schluckt. Statt mir zu antworten, schlägt mir eine Gegenfrage entgegen, mit der ich hätte rechnen müssen: „Warum hast du solche Panik vorm Fliegen?"
Darauf werde ich ihr nicht antworten. Ich schließe die Augen, ringe mir aber ein kleines Lächeln ab, das das miese Gefühl überdeckt wie Zitrone den schalen Geschmack von abgestanden Bier. „Zu null ist wirklich hart", gebe ich trocken zurück, „Da kann ich mich ja glücklich schätzen, dass die Puffs uns nicht ganz deklassiert haben."
Rory grinst schief. „Trag es mit Fassung, McDou. Es gibt schlimmeres."
Ich schlucke. Gibt es. Es gibt weitaus schlimmeres, als ein Quidditch-Spiel zu verlieren. Wir wissen das beide.
Sie schweigt kurz, dann sagt sie: „Finn?" Sie sieht mich schräg an und in meiner Brust verknotet sich etwas. Ihre Augen sind so blau. Blau wie Kornblumen im Sommer. „Sorry wegen des Spruchs."
Ich spüre, wie meine Unterlippe zuckt. In meinen Magen fällt etwas Schweres hinein, etwas wie ein Stein oder ein Felsbrocken vielleicht, und dann löst er sich auf, einfach so, weil Evans lächelt. „Passt schon. Hast ja recht." Ich schlucke schwer und zucke mit den Schultern und kann den Blick kaum von ihr abwenden. Sie ist so...
Und dann tue ich es doch. Ich sehe weg, bevor ich den Gedanken beende.
Ich denke an meinen Besuch neulich in der Bibliothek, als ich im Zeitschriftenregal nach diesem Artikel für meine Strafarbeit gesucht, und etwas ganz anderes gefunden habe. Es fühlt sich mies an, hier zu sitzen, mit ihr, dieses Wissen im Hinterkopf, und sie so anzulügen.
Ich schließe die Augen und atme tief durch. Okay, Finn... mach schon.
Ich öffne die Augen und werfe ihr einen kurzen Blick zu. Das miese Gefühl vermischt sich mit einem anderen, einem viel besseren Gefühl, wenn sie mich so ansieht. Wenn ihre blauen Augen so angriffslustig funkeln wie jetzt und ich den Drang verspüre, ihre Hand zu nehmen, ihr einen Besen in die Hand zu drücken und mit ihr fliegen zu gehen wie damals. Weg von hier. Weit weg.
Aber jetzt überwiegt das miese Gefühl.
Als ich in der Bibliothek war, habe ich etwas Unverzeihliches getan. Pince killt mich, wenn sie das jemals herausfinden sollte. Aber es kam mir falsch vor, also habe ich... etwas wirklich Dummes gemacht.
„Ich habe...", setze ich an und greife in meine Trainingstasche, „bei der Recherche über deine komische Schule..." Ich ziehe das sorgfältig verschnürte Paket heraus und reiche es ihr, bevor ich ganz offensichtlich die Luft anhalte und es jetzt vermeide, sie anzusehen. Ich trage das Paket seit Tagen mit mir herum, weil ich nicht will, dass es zufällig jemand entdeckt. „Ich habe die gefunden..."
Neben der US Witch Weekly sind da andere Zeitschriften. Ganz unterschiedliche. Nachdem ich angefangen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören zu suchen. Ich war wie im Rausch.
Seeker Weekly.
Rennbesen im Test.
US Quidditch.
Rory starrt auf die Zeitschriften und mir wird eiskalt, während ihr alle Farbe aus dem Gesicht weicht. Meine Haut fühlt sich plötzlich viel zu eng an und ich habe das Gefühl, es hier nicht mehr auszuhalten. Es ist die Art, wie sich ihr Blick, ihre gesamte Haltung verändern. Sie sieht so aus, als ob es ihr nicht wirklich anders geht: Sie hält das nicht aus. Sie muss hier raus und sieht aus, als ob sie kaum Luft bekommt.
Vom obersten Titelbild aus strahlt sie das Gesicht ihres Bruders an. Collin Evans Superstar. In einer Hand hält er einen Feuerblitz und den US-Quidditch-Cup, den er mit den Boston Battlesticks gewonnen hat. Mechanisch nimmt sie die oberste Zeitschrift in die Hand und schaut in Collins glückliches Gesicht, wie er lacht und winkt und den Besen über seinen Kopf schwenkt.
Es trifft sie.
Hinterrücks.
Damit hat sie nicht gerechnet. Und ich will es zurücknehmen. So, wie sie aussieht, so verletzt, will ich nichts lieber, als die Zeit um zwei Minuten zurückdrehen, und ihr die Zeitschriften niemals geben. Aber das kann ich nicht.
Ich habe keinen Zeitumkehrer.
„Das...", setzt sie an, aber alle Worte, die sie eben vielleicht noch hatte, sind aus ihrem Kopf verschwunden. Wie bei mir. Sie nimmt sich die nächste Zeitschrift. Us Quidditch. Der große Artikel über die Quidditch-WM. Evans und das US-Team dominieren. Ich schließe die Augen, denn dann sieht sie die Ausgaben der Witch Weekly, des Tagespropheten und des Klitterers: US-Star-Jäger spurlos verschwunden. MACUSA erklärt Evans für tot. Familie von US-Quidditch-Spieler im Kreuzfeuer des MACUSA.
Sie will aufstehen.
Sie will weg von mir.
Aber sie kann sich nicht rühren. Wie gelähmt starrt sie auf die letzte Überschrift, als ob in ihrem Kopf ein Denkarium der Erinnerungen abläuft.
„Rory..." Ich schlucke und sehe sie an. Ich will ihre Hand nehmen, sie drücken, aber ich tue es nicht. Meine Stimme ist ganz leise und ich will nichts lieber, als ihr diese Zeitschriften abnehmen, und sie in den Arm nehmen. Es ungeschehen machen. Ich habe einen fürchterlichen Fehler gemacht.
Sie reagiert nicht. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
„Was soll das?", flüstert sie dann. Ihre Stimme ist bedrohlich leise. Wie ein herandrohendes Gewitter.
Ich schlucke erneut. Mein Adamsapfel zuckt dabei hoch und runter und ich bin mir unsicher, ob sie mir gleich eine Ohrfeige geben wird. Wenn es so kommt habe ich das vielleicht verdient. Das hier ist so privat. So intim... Ich habe sie verletzt. Wie sehr, merke ich erst, als sie aufsteht.
„Ich weiß, dass..." Ich breche ab und beiße mir auf die Lippe. Dann schüttele ich den Kopf. „Hör zu, du solltest die haben und-" Wieder unterbreche ich mich und sehe auf die Holzbank zwischen uns. „Ich weiß, wie-"
„Du weißt?", faucht sie, „Nichts weißt du! Gar nichts! Du hast gar keine Ahnung, McDougal!" Sie schnappt sich die Zeitschriften und springt auf. „Überhaupt keine Ahnung!"
Wie vom Donner gerührt bleibe ich sitzen. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals.
Fuck.
Tja... fuck?
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