Kapitel 11
Ich weiß nicht, wie lange ich unter der Tribüne sitze, bis ich mich aufraffen kann und aufstehe. Die Stimmen der Slytherins sind längst verklungen, als ich unter den Holzstangen hindurch tauche und am Mannschaftsausgang an den hinteren Torringen stehenbleibe. Mein Blick gleitet über das taufeuchte Gras und ich kann nicht anders, als zu lächeln. So müde ich bin, so traurig mich das Gespräch mit Liam gemacht hat und so sehr ich mir Collin zurückwünsche, das Feld, der Anblick der Torringe, die ganzen Erinnerungen, die mit diesem Spiel verbunden sind, machen mich immer noch glücklich. Ich kann das nicht abschütteln, so sehr ich es mir wünsche.
Dann stutze ich.
Ich bin nicht alleine auf dem Feld. Auf der gegenüberliegenden Seite des Feldes ist noch jemand. Ich bin mir erst nicht sicher, wer es ist. Der Spieler dreht um die Torringe seine Runden, steigt nach oben, zwanzig, fünfundzwanzig Meter nach oben, bricht dann den Steigflug ab und stürzt nach unten und und reißt den Besen kurz vor dem Boden in die Waagrechte. Dann durchbricht ein lautes „Fuck!" die Stille und ich bin mir nicht sicher, was das zu bedeuten hat.
Was ich weiß, ist, dass Sly McDougal im nächsten Moment seinen Besen weit von sich schleudert und seine rechte Faust mit voller Wucht gegen den Torpfosten rammt. Okay...
Ich sollte gehen, schießt es mir in den Kopf. Ich sollte nicht hier sein. Und doch bewegen sich meine Beine keine Zentimeter vorwärts. Stattdessen starre ich auf Sly, der dort hinten steht, beide Hände auf die Oberschenkel gestützt und schwer ein- und ausatmet.
Warum zum Teufel steht er ganz allein auf dem Feld?
Trainiert er noch?
Alleine? Aber was zum Teufel trainiert ein Hüter alleine? Quaffel halten sicher nicht. Was sollte dieser verkorkste Sturzflug eben?
Er sieht überhaupt nicht so aus, als ob er, Finn Sly McDougal, im Moment auf einen Besen steigen kann. Er klammert sich an der linken Torstange fest, als ob er gleich umfällt, und als ich näher komme, sehe ich, dass er zittert.
Hat er eine Panikattacke?
Gut, das kann auch die Kälte sein, ich zittere immerhin ständig, aber ich denke nicht, dass ausgerechnet McDougal vor Kälte zittert. Viel eher glaube ich wirklich, dass Slytherins Nummer 1 gerade eine ausgewachsene Panikattacke hat.
Er ist kalkweiß im Gesicht und sieht so aus, als ob er ein Gespenst gesehen hätte. Und damit meine ich nicht Peeves oder den Kopflosen Nick – sondern ein richtiges. Das Zittern, das heftige Atmen, als ob er sich selbst beruhigen müsste. Und das nach diesem Sturzflug.
Ich mache einen Schritt und unvermittelt knackt es. Ich sehe nach unten, während McDougal im gleichen Moment den Kopf herumreißt und mich mit weit aufgerissenen Augen anstarrt. Unter meinem rechten Fuß ist ein trockener Ast, der jetzt in zwei Hälften gebrochen ist. Hastig sehe ich wieder hoch und starre in McDous geschocktes Gesicht.
„Was machst du hier, Evans?!", zischt er.
„Ist alles okay mit dir?" Ich bin mir der Ironie durchaus bewusst, dass er mir vor ein paar Tagen dieselbe Frage gestellt hat. Ich blinzele und mustere ihn argwöhnisch. Er sieht so aus, als ob er sich gleich übergeben muss. Er sieht richtig beschissen aus.
„Spionierst du mir nach?"
„Klar. Ich hab nichts besseres zu tun, als dir nachzusteigen, du Trottel." Ich will die Augen rollen, lasse das aber bleiben.
„Verzieh dich einfach, okay?" Ich kenne ihn jetzt seit ein paar Wochen und noch nie klang seine Stimme weniger feindselig als in diesem Moment. Er klingt einfach müde und abgespannt.
„Ganz sicher nicht, McDougal." Ich mustere ihn gründlich. Langsam komme ich näher. Das Gras unter meinen Füßen ist feucht und ich spüre, wie der Tau meine Sneaker durchnässt. Er dreht den Kopf weg von mir und löst unter größter Anstrengung die Hand vom Torpfosten, nur um direkt wieder danach zu greifen. Er wankt leicht und schüttelt den Kopf.
„Also? Ist alles okay mit dir?", frage ich ihn erneut.
„Kannst du nicht deine dämlichen Bücher schnappen und abhauen, Evans?"
Ich lasse meinen Blick über ihn gleiten. Sein ganzer Körper ist maximal angespannt. Mir ist neulich schon aufgefallen, dass er groß ist und breit. Und wenn er sich vor einem aufbaut, ist das ziemlich beeindruckend – es wäre noch beeindruckender, wenn er nicht so arg zittern würde. Gedehnt sage ich: „Nope..." und lehne mich mit dem Rücken gegen den Mittelpfosten.
„Evans, bitte...", sagt er leise.
„Wow, du kannst ja doch mit höflich und so", gebe ich sarkastisch zurück und er dreht sich ruckartig zu mir um. Er ist immer noch kreidebleich im Gesicht, aber immerhin weicht der panische Ausdruck in seinen Augen jetzt dem angriffslustigen Funkeln, das ich kenne. „Im Gegensatz zu kleinen rothaarigen Schlammblüterinnen bin ich auch gut erzogen."
„Und du glaubst, das trifft mich?" Ich lache leise und streiche mir das rotblonde Haar hinters Ohr. „Du bist ein bellender Hund."
„Was?"
Ich lächle. Das war einer der Vorteile, wenn man die Sommerferien bei den No-M-- Muggel-Großeltern verbracht hatte: jede Menge Sprichwörter, von denen Hexen und Zauberer noch nie irgendetwas gehört haben. „Ein bellender Hund. Und bellende Hunde, Finneagan, die beißen nicht. Die stehen meistens da, hinter dem Zaun, bellen laut, und haben Angst."
Er starrt mich an. Der riesige Slytherin-Hüter starrt und glotzt. Sein ganzer Körper ist vor Wut angespannt, während sein Hirn meinen Spruch verarbeitet, dann öffnet sich sein Mund und schließt sich wieder. Und dann schließt er die Augen und schüttelt – wider meiner Erwartungen – langsam den Kopf. „Du hast doch keine Ahnung", flüstert er. „Und nenn mich nicht so." Er hält sich noch immer am Torpfosten fest. Ich bin mir nicht sicher, warum er das tut. Ob er sonst umfällt?
Ich erwidere seinen Blick und erlaube mir, kurz nur, ein Stück meiner Mauer fallen zu lassen. „Alter, ich bin das Mädchen im sechsten Jahr, das den sprechenden Hut aufgesetzt bekommen hat. Glaub mir, ich weiß, was Angst ist."
„Das kannst du sicher nicht vergleichen."
Ich kneife die Augen zusammen. „Hast du gerade zugegeben, dass du Angst hast?"
Sein Kiefer verhärtet sich. Dann sagt er gedehnt: „Nope..."
Und ich muss lächeln – gegen meinen Willen, aber meine Mundwinkel ziehen sich nach oben.
Wenn ich es nicht besser wissen würde, könnte man fast glauben, dass es ums McDougals Mundwinkel ebenfalls zuckt. Ich denke, es würde ihm gut stehen. Er ist eigentlich ein hübscher Kerl, die Größe, die breiten Schultern, die grünen Augen, die durch das Grün seines Trikots noch betont werden. Seine Haare sind genau richtig lang, an den Seiten kurz, oben etwas länger und wenn der Wind hineingreift, so wie jetzt, verleiht es ihm etwas Verwegenes. Wenn er dann noch lächeln würde, könnte er Werbung machen für... Abführmittel, zum Beispiel.
„Verrätst du mir, was passiert ist?", frage ich ihn dann.
„Nein." Seine Stimme klingt hart und verschlossen, genauso wie sein Blick, und ich weiß, dass ich keine Chance habe, dieses Geheimnis aus ihm heraus zu bekommen. Es ist der gleiche Tonfall, mit dem er Vi ständig abserviert.
Ich stoße mich vom Mittelpfosten ab und komme langsam auf ihn zu. Vor ihm angelangt, bücke ich mich und nehme seinen Besen vom Boden hoch. Der Stiel ist ganz feucht und das Holz etwas spröde, aber am Ende ist die goldene Schrift noch gut zu lesen. Nimbus 2001. Ich sehe zu ihm und lege den Kopf schief. „Du fliegst ja eine alte Klapperkiste."
McDou funkelt mich herausfordernd an. „Einen Klassiker."
„Fliegt der überhaupt noch geradeaus?"
„Ey!" Besitzergreifend nimmt er mir den Besen aus der Hand und sieht mich eingeschnappt an. Den Blick kenne ich von meinem Bruder. Vermutlich hat er ihm einen Namen gegeben und er heißt wie eine sexy Frau. Mandy oder Heidi. Vielleicht Giselle. Würde ich diesem Aufreißer glatt zutrauen. „Und woher willst du das überhaupt wissen?! Du steckst deine Nase doch nur in Bücher! Vi hat erzählt, du findest Quidditch scheiße."
Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Warum unterhältst du dich eigentlich mit Violett über mich?"
Jetzt zuckt es tatsächlich um seine Mundwinkel. Von der Panik von eben ist nichts mehr zu sehen – er wirkt nur noch ziemlich amüsiert. „Sag bloß, Violett hat dir dieses winzige Detail eurer ach, so innigen Freundschaft etwa bislang verschwiegen?" Er spricht ihren Namen genauso abfällig aus wie sie seinen.
Für einen kurzen Moment muss ich an mein Gespräch mit ihr denken. Ich hatte sie gefragt, ob sie in ihn verknallt ist. Daraufhin hatte sie mich nur entgeistert angestarrt und gelacht. „Wart ihr mal zusammen?"
Er starrt mich an, bevor er die Augen aufreißt und in lautschallendes Gelächter ausbricht. Ihm laufen die Tränen aus den Augen, so sehr muss er lachen, er bekommt sich kaum noch ein. „Zusammen! Ha! Evans, den muss ich mir merken!" Er prustet heftig durch die Nase und schüttelt sich. „Das erzähl ich Vivi! Haha! Zusammen, du Scherzkeks! I-gitt!!!"
„Du bist so ein Sexist! Vi ist so wunderb-"
„Schätzchen, ihr seid so fest verwachsen wie die Köpfe eines Cerberus. Hat sie dir das bis jetzt echt nicht verraten? Oh, dieses kleine Biest!"
„Du bist so ein selbstgefälliges Arschloch, McDougal! Red nicht so über sie! Was ist eigentlich los mit dir, dass du immer mit den Gefühlen anderer-"
Er lacht sichtlich amüsiert, hält inne und unterbricht mich jäh, indem er sagt: „Vi ist meine Schwester, Evans."
Ich verschlucke mich an meiner eigenen Spucke. „Deine – du - was?"
Er kichert vergnügt. „S. c. h. .w. e. s. .t .e .r. Wir sind Zwillinge."
😎
Ein paar waren nah dran. Ganz nah dran.
Aber Hand aufs 💚: habt ihr damit gerechnet? 😅
P.S.: ich liiiebe dieses Kapitel 💚💚💚
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