Kapitel 7
Chrissy fühlte sich leicht wie seit Jahren nicht mehr, als sie vor dem hell erleuchteten Haus ihres Vaters hielten und ausstiegen. Im Vorgarten entdeckten sie die ersten Nachbarn, die mit Schals und Mützen der kälter werdenden Nacht trotzten und etwas von dem berühmten Eierpunsch in den Händen hielten. Chrissy umrundete das erste Mal in ihrem Leben den mit Luft gefüllten, drei Meter riesigen Weihnachtsmann, ohne die Augen dabei zu verdrehen, und betrat das volle Haus der Kellers.
Nikolai war kurz darauf nicht mehr zu sehen. Chrissy hatte die Vermutung, dass er Shelly suchte, die Tochter der Nachbarn, mit der er jedes Jahr dasselbe Herzschmerzspiel trieb, wenn sie über die Feiertage zu Besuch war. Chrissy hingegen ging zu ihrem Vater und umarmte ihn fest, was ihn nicht nur aus dem Gespräch mit seinem Arbeitskollegen riss, sondern auch ein irritiertes Lachen entlockte. Ein Zeichen dafür, dass sie das viel zu selten tat.
»Ich habe dich lieb und werde dich weiterhin damit nerven, dass ich mir Sorgen um dich mache«, sagte sie, nachdem sie ihn in die Ecke neben dem Kühlschrank gezogen hatte. »Es tut mir leid, wenn ich die letzten Jahre grummelig war oder mich über dich aufgeregt habe. Ich vermisse Mom nur sehr dolle und bin noch nicht darüber hinweg, wie wir uns gestritten haben, bevor sie gestorben ist.«
Sie stieß Luft aus wie aus einem Ballon, wedelte mit den Händen, um sich so locker zu machen, wie sie bei diesem Geständnis hatte sein wollen.
»Schatz, wie viel habt ihr beim Rockefeller getrunken?«, fragte ihr Vater.
»Das liegt nicht am Alkohol, Dad«, entgegnete Chrissy energisch. »Ich werde nur vielleicht nicht mehr so schnell in der Stimmung sein, dir all das zu sagen, deshalb musste es jetzt einmal raus.«
»Okay ...« Ihr Dad tätschelte ihr die Schulter und anschließend die Wange, während sich seine Augen mit Tränen füllten und er sie traurig anlächelte. »Ich habe dich auch lieb, Christmas, und es tut mir leid, dass dir das auf der Seele lastet. Bitte sag mir, wenn ich dir irgendwie helfen kann.«
»Danke, Dad«, flüsterte Chrissy und umarmte ihren Vater ein zweites Mal.
Das hier sollte eine Party ohne Schwermut werden, deshalb rückte sie bald schon wieder von ihrem Vater ab und schnappte sich eine Handvoll Cookies und ein Glas Eggnog. Sie plauderte mit den Nachbar:innen, die sie seit ihrer Kindheit kannte, und all den ehemaligen Freund:innen, mit denen sie aufgewachsen war. Einmal begegnete sie sogar Shelly, die ihren Bruder entweder noch nicht gesehen oder ihn ausnahmsweise dieses Jahr abgewiesen hatte, denn sie sah überglücklich aus.
Chrissy erinnerte sich außerdem an die Feiern, die sie hier noch mit ihrer Mutter verbracht hatte. Sie war eine von den Leuten gewesen, die an Weihnachten alles perfekt haben wollten, schließlich hatte sie ja das gesamte Jahr darauf hingearbeitet. Wenn eine Zutat fürs Essen fehlte oder etwas mit der Beleuchtung nicht stimmte, war ein Ausbruch meist nicht fern. Und obwohl Chrissy nie persönlich angegriffen worden war, so hatte sie die schlechte Laune ihrer Mutter sie doch jedes Mal nachhaltig runtergezogen. Jetzt konnte sie es ein wenig verstehen; ihre Mutter hatte keinen anderen Traum gehabt, als jedes Jahr das perfekte Weihnachten zu feiern. Mit Freund:innen und Nachbar:innen, mit ihrer Familie und am liebsten auch mit dem Rest der Welt. Nicht selten hatten verlorene Seelen an den Feiertagen Platz an ihrem Tisch gefunden und das ein oder andere Mal sogar welche von den Geschenken abgestaubt, die eigentlich für Chrissy und Nikolai bestimmt gewesen waren.
Und die meiste Zeit war außerdem alles glattgelaufen. Ihre Mutter hatte dann einen ihrer besonders hässlichen Weihnachtspullover an – sie hatte meist den Wettbewerb gewonnen –, trug dazu nicht selten ein Rentiergeweih als Haarreif und sang unter Einfluss des Eierpunsches schief zu ohnehin schon nervigen Weihnachtsliedern. Aber sie war glücklich gewesen. Zumindest hoffte Chrissy das.
»Hey du.« Nikolai setzte sich auf die Treppenstufe unter ihr und nahm sich einen der Cookies, die Chrissy gebunkert hatte. »Wie findest du es?«
»Weniger schlimm als die letzten Jahre«, gab sie zu und stieß ihn gegen die Schulter, als er nach Luft schnappte. »Ich war die letzten Jahre kein guter Gast, oder?«
»Es war unerträglich«, gab ihr Bruder ungerührt zurück. »Keine Ahnung, warum Dad dich überhaupt noch eingeladen hat.«
»Ha ha«, machte Chrissy lahm und brach ebenfalls ein Stück des Kekses ab. »Keine Sorge, ich gebe mir Mühe, in Zukunft weniger griesgrämig zu sein. Auch wenn ich den Konsum an Weihnachten immer noch verwerflich finde.«
»Ach, du und dein Konsum«, lachte er. »Solange die Leute keine Haustiere kaufen und anschließend wieder aussetzen, lass sie doch anderen eine Freude machen wollen. Oder sich selbst. Ich schenke mir dieses Jahr auch etwas zu Weihnachten.«
»Ach ja?«, fragte Chrissy. »Von dem Geld, das ich dir geliehen habe?«
»Als würdest du es vermissen!«, prustete er und stopfte sich den Keks in den Mund, bevor er mit einen großen Schluck Eierpunsch aus Chrissys Becher nachspülte.
Obwohl sie wusste, dass er schon ein wenig angetrunken war, lehnte sie sich vor und umarmte ihn von hinten. »Danke, dass du mir vorhin den Kopf gewaschen hast. Und es tut mir aufrichtig leid, wenn ich euch die letzten Jahre die Festtage versaut habe.«
»Die letzten Jahre?«, nuschelte ihr Bruder mit halbvollem Mund. »Wohl eher die letzten dreißig Jahre.«
»Ja, okay«, gab sie zurück und seufzte. »Entschuldige bitte.«
»Entschuldigung angenommen.« Nikolai grinste und setzte an, um etwas hinzuzufügen, als die Haustür am Fuß der Treppe aufschwang und einen kalten Windzug mit hereinbrachte. Drei Gestalten traten ein und rieben sich frierend die Hände; Chrissy konnte sehen, dass es angefangen hatte zu nieseln, was auch bald die anderen Nachbar:innen hereintreiben würde.
Jetzt aber schreckte sie überrascht von der Stufe hoch. »Noelle?«, rief Chrissy und zwängte sich an ihrem Bruder vorbei. »Was machst du denn hier?«
»Oh, also ...« Die Mitarbeiterin des Kulturclubs sah über Schulter zur Garderobe, wo ein älteres Paar Schals und Jacken aufhängte, während sie selbst ihre Handschuhe von den Fingern zog. »Meine Großeltern und ich schauen uns jedes Jahr an Heiligabend die best geschmückten Häuser an und jemand hat unser Auto angehalten und gesagt, wir sollten lieber reinkommen und mitfeiern.«
Chrissy hatte ihr kaum zugehört, sondern starrte stattdessen den Ohrring an, der ihr durch Noelles Kopfdrehung ins Auge gestochen war. Es war ein kleiner Weihnachtsbaum mit bunten Lichtern.
Da klappte ihr der Kiefer herunter. »Natürlich«, murmelte sie begreifend. Das war Noelle. Die Noelle, deren Namen den zweiten Zettel in Nianis Ausschnitt schmückte. Es war die ganze Zeit offensichtlich gewesen, aber Chrissy hatte bis jetzt nicht darüber nachgedacht, dass Niani es diesen Monat womöglich nicht viel weiter als aus dem Einkaufszentrum hinaus geschafft hatte.
Noelle hatte ihre Verblüffung gar nicht mitbekommen, sondern sich weiterhin umgesehen. »Das scheint ja eine mega Party zu sein«, bemerkte sie jetzt mit einem strahlenden Grinsen, das jeder Elfe Konkurrenz machte. »Vielleicht sollten wir ab jetzt jedes Jahr herkommen.«
Das klingt nach einer wahnsinnig tollen Idee, dachte Chrissy und ließ sich von dem Prickeln beflügeln, dass in ihrer Magengegend tanzte. Sie hielt Noelle einen der Cookies hin und als ihre Finger sich berührten, fing sie ihren Blick auf und grinste.
Ihr letzter Wunsch war es gewesen, einen Grund zu haben, Weihnachten zu lieben. Wie Christmas Eve selbst besaß ihr Schwarm einen Vornamen, der sie eindeutig mit dem christlichen Fest in Verbindung brachte – und Chrissy fand tausend Gründe, um Noelle zu lieben. Die nächsten Tage über, nachdem sie an Heiligabend ihrem Bruder Konkurrenz gemacht und die junge Frau in den Schrank unter der Treppe gezogen hatte. Die nächsten Monate, nachdem sie mehrere spendenfinanzierte Events für wohnungslose Künstler:innen in New York aufgestellt hatten. Und die nächsten Jahre, nachdem sie im Eventmanagement nicht nur ihren Traum gefunden hatte, sondern auch auf etwas viel Wertvolleres gestoßen war: Zufriedenheit.
Jedes Jahr im Dezember schickte Christmas Eve Keller ein Stoßgebet an Santa und all seine Elfen, die jedes Jahr an Weihnachten versuchten, einige Leben zu bereichern, die den Rest des Jahres dasselbe taten.
***
Hallo ihr Lieben und danke erstmal an euch alle fürs Lesen meiner kleinen Weihnachtsgeschichte! Ich hoffe, sie hat euch gefallen; falls ja, lasst gerne ein paar Votes und gerne auch ein Feedback da :) Ich freue mich, dass es mir dieses Jahr wieder so viel besser ging als die letzten Jahre und ich die Geschichte geschrieben habe und sie hier auch veröffentlicht habe ... ich hoffe, ihr habt auch ein paar Dinge, über die ihr euch dieses Jahr freuen konntet. Und falls nicht, wünsche ich euch diese fürs nächste Jahr!
Habt schöne Feiertage, frohe Weihnachten an alle von euch, die feiern, und n juuuten Rutsch!
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