Kapitel 6
Am liebsten hätte Chrissy sich eine Woche lang im Bett verkrochen. Sie fühlte sich hundeelend, als sie am nächsten Morgen aufstand und sich für ihre Schicht in der Mall fertig machte. Ihr kam kurz der Gedanke, sich krankzumelden, aber so egoistisch konnte sie nicht sein. Also schleppte sie sich mit dicken Augen zur Arbeit und brachte Stunde um Stunde hinter sich.
Ja, sie hatte sich gewünscht, ihre Mutter wiederzusehen. Und sicher hatte sie gebraucht, was sie ihr gesagt hatte. Es hatte sich echt genug angefühlt, um diese schreckliche Schuld von ihr zu nehmen. Aber auch echt genug, um wehzutun.
Nachdem Jenna ihr gesagt hatte, dass sie furchtbar aussah, wollte Chrissy Heiligabend bei ihrem Vater absagen. Nach Ladenschluss wollten sie und ihr Bruder eigentlich kurz über den Platz am Rockefeller Center schlendern, um sich den Weihnachtsbaum ansehen, bevor sie zu ihrem Vater fuhren, der wie jedes Jahr eine Nachbarschaftsfeier schmiss. Aber das war viel zu viel. Die Menschenmassen, ihre Familie, ihr Schmerz.
Chrissy begann, eine Nachricht in die Familiengruppe zu tippen: Es tut mir leid, aber ich bin total krank und will euch auf keinen Fall anstecken. Vielleicht sollten wir uns ...
Sie sah von ihrem Handy auf und stöhnte. Das hier war eine riesengroße und feige Lüge. Sie wollte Weihnachten absagen? Ihr Bruder würde sie dafür hassen und ihr unterstellen, dass das etwas mit ihrer sturen Abneigung gegen das Fest an sich zu tun hatte. Ihr Vater würde am Boden zerstört sein und es auf sich persönlich beziehen.
Aber hätte sie wirklich die Kraft, ihnen zu erzählen, weshalb sie so unglücklich war? Einerseits kam es ihr total bescheuert vor, schließlich war es ja nur ein Traum gewesen. Kein Grund, sich da dermaßen hineinzusteigern, vor allem, weil ihre Mutter schon zehn Jahre tot war. Andererseits wusste sie auch, dass ihr Vater sie niemals für diese Gefühle tadeln würde. Nein, ganz im Gegenteil: Er würde sie teilen.
Chrissy erkannte mit einem kleinen Stich, dass sie anders als am Ende ihres Traums nicht alleine auf dieser Welt war. Sie war nicht alleine mit ihrem Schmerz und ihrem Verlust, auch wenn es sich manchmal so anfühlte. Eigentlich war es ziemlich egoistisch von ihr, dass sie sich dermaßen abschottete und so tat, als würde es nur ihr schlecht gehen. Als hätte nur sie ihrer Mutter noch tausend Dinge zu sagen gehabt.
Sie löschte die Nachricht wieder und steckte ihr Handy weg. Jahrelang hatte sie ihren Frust über alle möglichen Dinge hinter verschlossenen Lippen gehalten und versucht, ihn aufzuwiegen. Aber das hier konnte man nicht aufwiegen und wenn sie später alleine in ihrer Wohnung sitzen würde, würde es ihr nur noch viel schlechter gehen.
Sie musste sich dem stellen. Heute.
Als am frühen Nachmittag ihr Bruder in die Confiserie spaziert kam, hatte sie sich keine Ausrede für ihre geschwollenen und roten Augen ausgedacht. Chrissy hatte sich gewünscht, offen die Wahrheit sagen zu können, und dann erkannt, dass sie niemanden brauchte, um diesen Wunsch zu erfüllen. Als ihr Bruder sie also fragte, ob sie krank sei, antwortete sie: »Nein, ich habe die ganze Nacht geweint. Ich vermisse Mom.«
Nikolai war so überrascht über ihre Antwort, dass er zuerst nur stocksteif dastand und sie anstarrte. Chrissy erinnerte sich an ihren Traum und wie es ihr gegangen war, als sie ihre Mutter das erste Mal hatte weinen sehen. War das ein vergleichbarer Moment? War sie wie ihre Mutter, die Gefühle nicht nach außen transportieren konnte?
»Ich vermisse sie auch«, sagte Nikolai dann und verzog das Gesicht. Er kam hinter den Tresen und nahm sie in seine starken Arme, drückte Chrissy fest an sich und seufzte. »Es ist jedes Jahr wieder dieselbe Scheiße, die in mir hochkommt. Ich dachte immer, du kommst besser damit klar.«
»Ich komme gar nicht klar«, flüsterte sie unter Tränen. Sie hatte nicht gedacht, dass sie nach letzter Nacht noch welche davon übrig hatte, aber offenbar reichten ein paar Stunden, um neue zu produzieren. »Die Firma wird in drei Monaten meine Filiale schließen und ich will nicht versetzt werden, was bedeuten würde, dass ich keinen Job mehr habe. Ich versuche jeden Tag, diese Welt besser zu machen, aber es scheint sich überhaupt nichts zu verändern. Und dann im Winter erinnert mich jede dämliche Glitzerkugel und jede scheiß Weihnachtsmannfigur daran, dass ich meiner Mutter nie gesagt habe, dass ich sie lieb habe, bevor sie beim Geschenke Shoppen an einem beschissenen Herzinfarkt gestorben ist.«
Nikolai strich ihr über den Kopf und ließ sie nicht los, während sie all diese Dinge aussprach. Er verkniff sich einen Kommentar über ihren Ausbruch sowie darüber, dass sie solch persönliche Dinge schon lange nicht mehr mit ihm geteilt hatte. Und irgendwie war das alles, was sie brauchte.
»Ich verstehe dich und deinen Frust. Mir geht es auch oft so ... also ... wegen des ganzen Brimboriums fürs Fest und so.« Nicht wegen des gescheiterten Versuchs, die Welt zu verbessern, fügte sein zerknirschter Gesichtsausdruck hinzu, bevor er sich wieder fing. »Und ich weiß, dass es dir dadurch schwerfällt, Weihnachten zu mögen, aber ... Mom ist bei dem gestorben, was sie geliebt hat, immerhin das kann man sagen. Und ich weiß, dass dir sicherlich tausend Gründe einfallen, weshalb man nicht so ein Aufheben um die Feiertage machen sollte, aber du schadest damit mehr dir als anderen. Weihnachten wird es immer geben. Die Menschen, die dich lieben und es mit dir genießen wollen, hingegen nicht.«
»Wow.« Das hatte gesessen. Chrissy wusste, dass Nikolai recht hatte. Offenbar hatte sie ihm ihren Hass gegen Weihnachten nie begreiflich machen können, trotzdem verstand sie, was er ihr verklickerte. Es war egoistisch von ihr, Weihnachten zu hassen.
Das war nicht wie Donald Trump zu hassen oder Leute, die ihren Müll nicht trennten. Es war mit ausschließlich negativen Gefühlen und negativen Folgen behaftet.
»Ich stimme dir ja zu, dass manches übertrieben ist und zu viel Geld ausgegeben wird, aber ... Traditionen können so etwas Schönes sein. Ich vermisse unsere Traditionen, die wir als Kinder noch mit Mom hatten.«
Barfuß durch den ersten Schnee laufen. Jedes Jahr etwas Selbstgebasteltes an den Baum hängen. Der Wettbewerb um den hässlichsten Weihnachtspulli. Das Herausputzen für das alljährliche Keller-Familienfoto. Die bunten Pancake-Türme am Weihnachtsmorgen.
»Ich vermisse es auch manchmal«, gab Chrissy leise zu. Das hatte sie noch nie laut ausgesprochen. Vielleicht deshalb, weil sie zum ersten Mal verstand, dass diese Erinnerungen nicht an Weihnachten gebunden waren, sondern an ihre Familie. Die hasste sie schließlich nicht, oder?
»Dann sollten wir einige davon wieder einführen«, beschloss Nikolai mit einem nachsichtigen Lächeln. »Ich würde sagen, wir überspringen das Rockefeller Center heute. Was du brauchst, ist Dads traditionellen Eierpunsch und die ganzen Kalorienbomben, die er heute auftischt.«
Chrissy bezweifelte, dass irgendetwas davon ihr wirklich bei dem Loch in ihrer Brust helfen konnte, und bewunderte gleichzeitig die Leichtigkeit ihres Bruders, mit Problemen umzugehen. Daran sollte sie sich wahrscheinlich ein Beispiel nehmen. Alles weniger schwer sehen.
»Nein, weißt du was? Lass uns hingehen. Das ist schließlich auch eine Tradition.«
***
Chrissy dachte daran, wie ihre Mutter jedes Mal beim Anblick des riesigen Weihnachtsbaums in Manhattan ausgeflippt war. Sie hatte irgendwie recht, so aus dem Häuschen zu sein bei der mit fünfzigtausend Lichtern geschmückten Tanne. Auf dem Platz davor war die Eisfläche aufgebaut, zahlreiche Besucher tummelten sich in ihren Schlittschuhen darauf. Manche bewegten sich anmutig zum Takt der Musik, die aus den Lautsprechern drang, andere strauchelten mit Mühen übers Eis.
Nikolai und Chrissy gingen an den Buden mit Dekoration, Schmuck und Essen vorbei, holten sich einen Punsch und quatschten. Ihr Bruder trug eine große Tüte am Arm mit den Last-Minute-Geschenken, die er in der Mall gekauft hatte, und eine grün-rote Pudelmütze auf dem Kopf, die ihre Mutter vor langer Zeit gestrickt hatte. Sie konnte lächeln, als sie sich die Mütze ansah. Empfand weder einen Groll auf sich noch auf ihre Mutter.
Chrissy horchte in sich hinein und versuchte zu ergründen, wo ihre schrecklichen Gefühle, die sie jahrelang gut in einer Büchse der Pandora verschlossen gehalten hatte, abgeblieben waren. Sie schienen nicht weg zu sein, zumindest spürte Chrissy einen leisen Nachhall der Scham, der Schuld und des Frusts. Aber vorrangig spürte sie Trauer über ihren Verlust und gleichzeitig Freude, weil sie etwas tat, was ihre Mutter geliebt hatte.
Fühlte es so an, sich selbst zu vergeben? Oder war sie letzte Nacht wirklich ihrer Mutter begegnet, die ihr klargemacht hatte, dass es nie etwas zum Vergeben gegeben hatte?
Es war schade, dass sie keine Zeit hatten, auf die Eisfläche zu gehen, und Chrissy nahm sich vor, nächstes Jahr Anfang Dezember bereits hierherzukommen. Außerdem ließ sie sich von Nikolai dazu überreden, ihrem Vater einen riesigen Leuchtstern fürs Fenster zu kaufen – als besäße er noch ein freies Fenster, an das er ihn hätte hängen können.
Ihr Bruder deckte sich gerade augenscheinlich mit einem Jahresvorrat an gebrannten Mandeln ein, als Chrissy auf der anderen Seite der Eisfläche an einem Stand ein intensives Leuchten entdeckte. Zuerst dachte sie, es sei ein Scheinwerfer im falschen Winkel aufgebaut worden, doch dann bewegte sich das Leuchten und sie schreckte zusammen.
Niani.
Sie hatte heute nicht mit dem Besuch der Weihnachtselfe gerechnet. Geschweige denn, dass sie sich Gedanken über einen neuen Wunsch gemacht hatte. Sie überlegte eine ganze Minute lang, die Anwesenheit der Elfe einfach zu ignorieren und auf einen erneuten Besuch zu hoffen – morgen oder übermorgen zum Beispiel. Aber das Leuchten kam näher und es schien Chrissy töricht, ihren Wunsch möglicherweise zu verschenken. Sie konnte an sich denken, oder?
»Hey, Nikki.« Sie stupste ihren Bruder an und deutete hinter sich. »Ich habe hinten eine alte Freundin gesehen, der ich gerne kurz Hallo sagen würde. Kannst du hier kurz auf mich warten?«
»Sicher, geh nur«, erwiderte ihr Bruder mit den drei Packungen Mandeln in der Hand. »Ich hole mir noch einen Punsch – du fährst ja zu Dad, richtig?«
»Ja ja«, seufzte sie und nickte. »Ich bin sofort wieder da.«
Wenn sie an ihre letzten Begegnungen mit der Elfe dachte, würde das vielleicht schwierig werden, weshalb Chrissy hastig losschoss und sich durch die Besuchermassen des Marktes hindurch drängte. Sie kam Niani immer näher, bis das Leuchten schließlich schwächer wurde und sie die blondgelockte junge Frau an einem Stand mit Schmuck entdeckte. Sie hielt gerade ein Paar Ohrringe neben ihren Kopf, die aus kleinen Weihnachtsbäumen bestanden.
»Schau mal, Christmas«, begrüßte sie sie, als Chrissy nahe genug war. »Die leuchten.« Sie drückte einen Knopf an der Rückseite der Ohrringe und an den Bäumen erstrahlten jeweils vier bunte Lichter. »Sind die nicht fabelhaft?«
»Ja, ganz toll.« Sie lächelte und tippelte ungeduldig auf der Stelle herum, weil sie gerne mit Niani alleine sprechen wollte. Sie erwartete, dass die Elfe zur Abwechslung mal Geld hervorzaubern und den Verkäufer, der sie mit Hingebung anstrahlte, bezahlen würde. Doch Niani tat, was sie immer tat: Sie streckte die Hand mit den Ohrringen aus und schnipste zweimal gegen den Ständer, von dem sie sie genommen hatte. Mit einem Schwung ihrer Hand sah es aus, als hätte sie den Schmuck wieder hingehängt, doch Chrissy sah das Leuchten in ihrer Handfläche, als sie ihren Arm wieder herunternahm. Sie winkte dem Verkäufer noch zu und ging dann voraus, bedeutete Chrissy mit einem Nicken, ihr zu folgen.
Sie machen am Geländer um die Eisfläche halt und sahen eine Zeit lang den Menschen auf Schlittschuhen zu. Niani schien es heute nicht eilig zu haben.
»Wie war die Party bei deinem Cousin?«, fragte Chrissy daher.
»Legendär wie immer. Wie war das Treffen mit deiner Mom?«, fragte Niani zurück.
Chrissy riss ihren Kopf zu der Elfe herum, die nur geheimnisvoll grinste. An ihren Ohren steckten jetzt die leuchtenden Bäumchen. »Das warst also tatsächlich du?« Die blonden Locken, die sie heute auf den Kopf gezwirbelt hatte, wippten, als Niani nickte. »Wow«, entkam es Chrissy und sie wurde wieder von der warmen Brise gestreift, die sie letzte Nacht im Traum empfangen hatte. »Danke.«
»Dankst du mir wirklich? Du wirktest den Tag über nicht sehr glücklich.«
»Du hast recht. Es war ... schwer. Ich hatte sie für einen Moment wieder und dann war sie plötzlich wieder weg, verstehst du?«
»Das verstehe ich sehr gut«, entgegnete Niani leise, ohne ihren Blick zu erwidern. Die Elfe schien einen Moment lang abwesend und Chrissy hatte die leise Vermutung, dass sie ihre Situation wegen eines bestimmten Umstandes so gut nachvollziehen konnte.
Als sie ihr die Hand tröstend auf Nianis nackten Arm legte, schossen ihr grelle Bilder durch den Kopf. Eine Familie beim Essen, alle lachend. Zwei Frauen, beide mit blonden Korkenzieherlocken, vor einem Schaufenster mit funkelnden Dingen. Zuletzt eine Frau im Bett liegend, das Gesicht fahl und gräulich.
Chrissy blinzelte und war wieder auf dem Platz des Rockefeller Centers, die Hand nach wie vor auf die warme Haut der Elfe gelegt. »War das deine Mom?«, fragte sie, gerade laut genug, dass man sie über die Musik und das Gewusel der Menschen hinweg hören konnte.
»Ja«, sagte Niani schlicht.
»Es tut mir sehr leid für dich.«
»Danke.« Die Elfe seufzte tief und lächelte, ehe sie sich aufrichtete und Chrissy die Hand schnell von ihr nahm. »Dein Bruder wird viel Punsch trinken, wenn wir uns hier in Sentimentalität verlieren. Also ... was ist dein letzter Wunsch?«
»Auch auf die Gefahr hin, dass du mich jetzt hasst, aber ... ich habe ehrlich gesagt noch nicht darüber nachgedacht.« Sie wog den Kopf hin und her. »Na ja, vielleicht doch.« Chrissy schnaufte. Ihr war der egoistischste Gedanken gekommen, den sie seit Jahren gehabt hatte. »Ich wünsche mir, glücklich zu sein.«
Niani nickte, als hätte sie es geahnt – als wüsste sie, wie das Gespräch mit ihrer Mutter abgelaufen war. »Und ich würde so viel dafür tun, um dir und anderen diesen Wunsch erfüllen zu können. Aber ich kann nicht verändern, was du fühlst. Ich kann dich nur dabei unterstützen, Zufriedenheit zu finden.«
»Da gibt es ganz schön viele Regeln in deinem Wunschkatalog, weißt du das?«, lachte Chrissy bitter auf. »Ich meine, was kann man sich denn dann überhaupt noch wünschen?«
»Nahezu alles«, behauptete Niani sofort.
»Kann ich mir wünschen, dass du bleibst? Ich mag dich irgendwie und ich glaube, ich könnte noch viel von dir lernen.«
»Tut mir leid, das geht nicht«, erwiderte die Elfe und zwinkerte ihr zu. »Du bist aber nicht die Erste, die das versucht.«
»Enttäuschend«, grummelte Chrissy. Sie wollte es nicht aussprechen, aber ihr dritter Wunsch war ihr mittlerweile gar nicht mehr so wichtig. Sie durfte die Welt damit nicht verändern und ihre Gefühle konnten auch nicht verändert werden, dafür musste sie weiterhin selbst sorgen. Sie sehnte sich nicht nach materiellen Dingen und hatte noch nicht herausgefunden, was ihr persönlicher, egoistischer Traum im Leben war.
»Kann ich meinen Wunsch jemand anderem schenken?«
»Das geht auch nicht, sorry.«
»War ja klar.« Chrissy schüttelte den Kopf. »Gibt es etwas, das du mir raten würdest? Ich könnte eine gute Idee gebrauchen.«
Die Elfe blickte sie träge von der Seite an und schnalzte dann mit der Zunge. »Du bist eine wirklich sonderbare Frau, Christmas Eve Keller. Selbstlos, zu selbstlos, wie der Zettel in meinem BH beweist, und absolut unfähig, an dich selbst zu denken. Du willst einen Rat von mir? Du hast zehn Millionen Dollar von mir bekommen. Wünsch dir etwas, das man mit Geld nicht kaufen kann.«
»Weltfrieden zum Beispiel?«
»Netter Versuch, aber nein. Warte kurz hier.«
Irritiert blickte Chrissy der Elfe hinterher, die zwischen zwei Buden wieder auf die Straße verschwand, wo sie ein Pärchen mittleren Alters anrempelte, das mit roten Wangen aufkeuchte. Beide hatten je ein Paar Schlittschuhe in den Händen, von denen Chrissy sich nun eines griff und der Frau gleichzeitig zweimal gegen den Handrücken schnipste. »Tut mir leid!«, rief sie dann mit ihrem strahlenden Lächeln, das alles war, für das das Pärchen einen Blick hatte. Alles geschah furchtbar schnell und Niani hatte sich bereits wieder umgedreht, ohne dass jemand außer Chrissy etwas bemerkt hatte.
Mit einem Paar Schlittschuhe kam sie zurück und streifte sich die Stiefel von den Füßen. »Ich bin noch mit meinem Freund hier verabredet«, sagte sie leichthin, als Chrissy sie fragend ansah.
Das war nicht nur ein Wink von der Elfe, sondern auch der nötige Antrieb, wieder an Nikolai zu denken. Also überlegte Chrissy, während Niani die Senkel der Schlittschuhe auseinander friemelte.
Etwas, das man mit Geld nicht kaufen konnte. Es musste etwas sein, dass Chrissy auf irgendeine Art glücklich machte, längerfristig am besten. Etwas, für das sie bisher keine Lösung gewusst hatte. Oder dass sie auf keinen Fall selbst erreichen konnte.
Ihr kam die Confiserie in den Sinn. Aber um ehrlich zu sein, hatte sie sich in den letzten sieben Tagen mit dem Gedanken angefreundet, keine Schokolade mehr zu verkaufen. Sie liebte ihren Job und sie liebte die Mall, aber New York bot so viel mehr Möglichkeiten als das und wenn sie wollte, fand sie sicher irgendwann wieder einen Job in dem Einkaufszentrum. Möglicherweise war es jetzt aber an der Zeit, sich davon zu lösen. Sich selbst auszuprobieren und herauszufinden, was ihr Traum war. Sie hatte genug Geld, um sich das zu erlauben, also sollte sie es tun, oder?
Niani neben ihr lehnte sich geräuschvoll an das Geländer, offenbar war sie entscheidungsfreudigere Kund:innen gewöhnt. »Ich kann dich nicht glücklich machen, aber vielleicht gibt es etwas, das dich die letzte Zeit unglücklich gemacht hat, das ich beseitigen kann?«
Chrissy runzelte zuerst die Stirn über diesen kryptischen Vorschlag, dann kam ihr jedoch etwas in den Sinn. Sie dachte einen Moment lang nach, um sicher zu sein, bevor sie es aussprach: »Also ... ich würde mir einen Grund wünschen, Weihnachten in Zukunft lieben zu können. Abgesehen von meiner Familie, versteht sich. Ist das für dich möglich?«
Niani verzog die pink geschminkten Lippen zu einem Grinsen und wirkte zufrieden. »Da finde ich ein Schlupfloch, keine Sorge. Und ich habe sogar schon die perfekte Idee.« Sie rieb sich die Hände, wobei die Kufen der Schlittschuhe gegeneinander schlugen. »Du willst also überrascht werden, hm?«
»Ich glaube, ich kann ein bisschen positive Überraschung in meinem Leben gebrauchen«, stimmte Chrissy ihr zu und lächelte dann ebenfalls. Es war nicht wichtig, wie sich dieser Wunsch erfüllte und ob er sich überhaupt erfüllte. Sie glaubte, auch so auf dem richtigen Weg zu sein. Mit ihrem ganzen Geld könnte sie sich vielleicht sogar eine renommierte Therapeutin leisten, wenn sie es nicht alleine hinkriegen sollte. Sie könnte ihrem Bruder gleich eine Therapie mitfinanzieren.
»Dein Wunsch sei mir Befehl«, sagte Niani erfreut. Chrissy war überrascht, als sie ihr Gesicht in beide Hände nahm und ihr tief in die Augen sah. »Einen Grund sollst du bekommen, Weihnachten lieben zu können.«
Dann küsste die Elfe sie zweimal auf die Stirn. »Frohe Weihnachten, Christmas Eve Keller.«
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