Kapitel 5

Tag um Tag verging, ohne dass Niani Chrissys Wunsch erfüllte. Sie wusste, dass es bei dem Geld auch ein wenig gedauert hatte, und wurde deshalb jeden Tag aufgeregter. Gleichzeitig schlichen sich aber mit jeder verstrichenen Stunde größere Zweifel in Chrissys Herz. Geld von reichen Magnaten abzuzweigen war eine Sache, aber eine tote Person wieder auferstehen lassen? Sie konnte kaum glauben, dass das in Nianis Macht stand, auch wenn diese gewirkt hatte, als sei es das Einfachste der Welt.

Hinzu kam, dass Chrissy allmählich Angst bekam, wie sich der Wunsch erfüllte. Denn wie hatte ihre Mutter immer gesagt? Man muss aufpassen, was man sich wünscht. Schon seit ihrer frühsten Kindheit versuchte Chrissy daher, beim Pusten von ausgefallenen Wimpern möglichst präzise zu sein. Wenn man sich wünschte, dass ein Tag schnell vorüber ging, könnte das bedeuten, dass man ihn komplett verschlief. Wenn man sich wünschte, dass man auf der Arbeit keinen Stress hatte, könnte das bedeuten, dass niemand etwas kaufen wollte. Wenn man sich wünschte, dass die eigene Mutter einen nicht mehr nervte, könnte es sein, dass sie starb.

Was, wenn ihre Mutter als Zombie zurückkehrte? Oder als unglücklicher Geist, der nicht in der Lage war, Frieden zu finden? Was, wenn sie mit diesem Wunsch alles nur noch schlimmer machte?

Heiligabend rückte mit großen Schritten näher und Chrissy fuhr mit Jenna noch einmal zu verschiedenen Foodbanks, um dort die gespendeten Geschenkboxen abzuliefern. Sie besuchte außerdem ihren Vater in ihrem kitschig geschmückten Elternhaus und lag ihrem Bruder weiter mit der Jobsuche in den Ohren. Sie machte weiterhin Überstunden, weil der Andrang in den letzten Tagen vorm Fest größer wurde, und bereitete am 23. Dezember nach Feierabend die Kunstauktion mit vor. Chrissy hatte Noelle angeboten, den krank geworden Kellner zu ersetzen, und drapierte ihre Pralinen und Trüffel auf Silbertabletts, mit denen sie später herumgehen würde. Das Event war groß angepriesen worden; vor der Mall standen überall Aufsteller, in den Nebenstraßen hingen Plakate und Noelle hatte ordentlich Wirbel auf Social Media gemacht und sogar eine Anzeige im Radio geschaltet.

Sie war die Initiantin der Auktion, die obdachlose Künstler:innen fördern sollte. Die Werke, die auf Staffeleien standen oder an den weißen Wänden des Kulturclubs hingen, waren allesamt unterschiedlich. Manche düster, manche farbenfroh, einige mit klaren Linien, andere mit wilden Klecksmustern.

»Ich liebe es, dass du das machst«, sagte Noelle, als sie neben ihr auftauchte und sich die Hände rieb. »Danke, danke, danke.« Man konnte ihr anhören, dass sie wahnsinnig aufgeregt war. Ihre Stimme zitterte und als sie noch einmal erzählte, dass sogar der Bürgermeister kommen wollte, wurde sie kurzatmig.

»Alles wird gut«, sagte Chrissy und richtete sich von den Tabletts auf. Sie legte ihr die Hände auf die Schultern, was Noelle mit einem verwunderten Blick quittierte. Chrissy fuhr unbeirrt fort: »Du hast was Großartiges organisiert und ich bin mir sicher, alle werden begeistert sein. Morgen ist außerdem Heiligabend, also die perfekte Gelegenheit für einige, noch malerische Unikate als Geschenk zu erwerben, oder nicht?«

Noelle lächelte dankbar, ihre Stirn glänzte feucht im grellen Licht des Hauptraums. »Ich habe mir so sehr gewünscht, dass der Abend ein Erfolg wird und ich vielleicht in die Presse komme«, sagte sie nun und sah sich um, als ob jemand sie hätte hören können. »Weil dann könnte ich so etwas öfter machen, verstehst du?«, fügte sie leise hinzu. »Vielleicht kann ich dann bald ein eigenes Atelier haben. Wie krass wäre das?«

Das wäre tatsächlich ziemlich krass, aber Chrissy wünschte dieser tollen, ambitionierten Frau von Herzen, dass ihr Traum in Erfüllung ging.

Nachdem die ersten Gäste eingetrudelt waren, schnappte sie sich ihre Tabletts und bot ihnen die Schokolade an. Sie hatte sich ein großes Namensschild mit dem Verweis auf die Confiserie an die Bluse gesteckt, außerdem waren die kleinen Papierumschläge der Pralinen mit dem Firmenlogo versehen. Sie würde früher oder später einen Ausverkauf ihrer Waren machen müssen und da wäre es sicher hilfreich, noch neue Kund:innen zu gewinnen.

Während der Abend voranschritt, beobachtete Chrissy die steigende Zahl an Interessent:innen neben den einzelnen Gemälden. Die wohnungslosen Künstler:innen mischten sich anfangs sehr schüchtern unter die Menge, doch als sie bemerkten, wie gut ihre Kunst ankam, tauten die meisten von ihnen auf. Der Bürgermeister und Noelle schwangen beide eine Rede, drei der Künstler:innen berichteten außerdem davon, wie es für sie war, die Bilder zu malen, und dann begann die Auktion. Die Leute überboten sich gegenseitig, selbst Chrissy bot zweimal bei den weniger beliebten Gemälden mit, schließlich hatte sie ja das Geld.

Um halb zwölf waren nicht nur alle Bilder verkauft, sondern auch alle Pralinen gegessen und die Gäste verschwunden. Noelle saß in der Mitte des Hauptraums auf dem Boden und starrte mit glänzenden Augen geradeaus, als könnte sie nicht glauben, was die letzten Stunden geschehen war. Zwei Reporter waren dagewesen, außerdem hatten alle Leute unzählige Fotos geschossen und auf ihren Online-Kanälen geteilt, das hatte Chrissy beobachtet, während sie ihre Runden gedreht hatte.

»Das lief doch super, oder?«, fragte Chrissy, als sie mit Aufräumen fertig war, und ging vor Noelle in die Hocke.

»Das war absolut großartig«, flüsterte die junge Frau ehrfürchtig, ohne dass sich ihr Blick klärte. »Ich kann kaum glauben, dass das alles wirklich passiert ist. Der Bürgermeister hat gesagt, dass ich eine ähnliche Aktion im Rathaus organisieren soll.«

»Wirklich?«, entfuhr es Chrissy erfreut. »Das ist ja Wahnsinn!«

»Du hast recht, das ist Wahnsinn.« Noelle sah sie an und auf einmal huschte Angst über ihr Gesicht. »Was, wenn ich das verkacke?«

»Ich verstehe, dass du Zweifel hast, aber ich denke nicht, dass diese Möglichkeit besteht«, versicherte Chrissy ihr und bot ihrer neuen Freundin die Hand an, um ihr aufzuhelfen. »Weil meine Confiserie geschlossen wird, habe ich bald keinen Job mehr. Dann kann ich dir helfen.«

»Das ist ja schrecklich!«, rief Noelle und Chrissy erkannte, dass sie sie damit völlig rausgerissen hatte.

Deshalb winkte sie rasch ab, schließlich sollte sie ihren Erfolg des heutigen Abends genießen dürfen, ohne sich Gedanken um Chrissy zu machen. »Es gibt schlimmere Dinge, keine Sorge. Ich glaube, ich brauche ohnehin erstmal Zeit für mich.«

Als die beiden sich vor dem Eingang der Mall voneinander verabschiedeten, hatte Chrissy ein warmes Gefühl im Bauch, auch wenn sie wegen ihres Jobverlusts gelogen hatte. Sie lächelte den gesamten Nachhauseweg über, was ihrer Meinung nach auf diverse Dinge zurückzuführen war. Die Veranstaltung hatte Spaß gemacht, sie hatte Leuten Schokolade andrehen können und zu etwas Gutem beigetragen. Und Noelle hatte das wahnsinnig beeindruckend gemeistert, mit so viel Souveränität und gleichzeitig Authentizität. Sie wusste, was ihr Traum war.

Daran sollte Chrissy sich ein Beispiel nehmen, dachte sie, als sie schließlich ins Bett stieg und einschlief.

***

Als Chrissy die Augen wieder aufschlug, blendete die Sonne sie. Eine warme Brise umspielte ihre Haare und sie schirmte das grelle Licht mit der Hand ab, um sich umzusehen. Da waren Hütten aus Holz um sie herum, Palmen wuchsen mitten aus der Erde heraus und sie hörte das Gewusel von einem Menschenpulk, ohne ihn zu sehen. Sie befand sich viele Meter über der Erde auf einer Art Felsenvorsprung, auf dem saftig grünes Gras wuchs.

Chrissy stieg vorsichtig von der kleinen Anhöhe herunter und ging einen sandigen Weg entlang zu einer Art Holzveranda, die alle Gebäude miteinander verband. Es erinnerte sie an ihr Stockwerk in der Mall, wo man hinunter ins Erdgeschoss schauen und die Menschen beobachten konnte. Aber auch hier auf ihrer Ebene war viel los. Sie sah Frauen mit großen Hüten und Männer in halboffenen Hemden und Sandalen. Manche hielten sich an den Händen, andere diskutierten aufgeregt miteinander.

Chrissys Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Die Umgebung und die Leute gaben ihr ein gutes Gefühl.

Dann weckte etwas vor ihr ihre Aufmerksamkeit. Chrissy fing sofort an zu weinen, ohne überhaupt zu realisieren, was geschah. Sie sah ihre Mutter aus der Ferne auf sich zukommen, die Sonne strahlte auf sie hinab, und mit ihr kamen all die bitteren Schuldgefühle hoch, die sie seit ihrem Tod spürte. Sie bemerkte erst, dass keine Menschen mehr auf der Brücke waren, als sie das Gesicht ihrer Mutter erkennen konnte. Die runden Wangen, die Leberflecken über dem rechten Auge, die faltigen Lider und die großen Ohren.

Ihre Mutter lächelte sie warmherzig an, so wie sie es immer nur getan hatte, wenn sie ihre Kinder stumm beobachtet hatte.

Chrissy wischte sich mit den Handrücken über ihre Wangen, die Tränen durchnässten das viel zu lange, blaue Langarmshirt, das sie plötzlich trug.

»Mom«, schluchzte sie dann.

»Chrissy. Mein Schatz.« Ihre Mutter breitete die Arme aus und zog sie an sich. Drückte sie. Ließ sie eine Wärme spüren, die Chrissy seit jenem Tag vermisst und erst vor ein paar Tagen wiederentdeckt hatte.

Niemals wäre es Chrissy eingefallen, sie jemals wieder loszulassen, aber ihre Mutter schob sie schon bald von sich. Sowie sie ihr ins Gesicht blickte, wurde ihr Ausdruck ernst. Mit sanften Berührungen strichen ihre Daumen die Tränen weg, die Chrissy immer noch weinte.

»Ich kann nicht glauben, dass du hier bist. Und dass ich dich anfassen kann.«

»Wo soll ich denn sonst sein, mein Schatz?«

Chrissy bekam einen dicken Kloß im Hals, als ihre Mutter dies fragte. Sie wusste, das hier war ein Traum, und doch war ihr die ehrliche Antwort ein zu großes Risiko. Um keinen Preis wollte sie zerstören, was ihr Gehirn sich hier gerade ausmalte.

Stattdessen deutete sie auf die Brücke und die vielen Holzhäuser auf ihren Stelzen. »Wo genau sind wir?«

»Im Urlaub.« Ihre Mutter lächelte selig und nickte nach unten. Als Chrissy der Kopfbewegung folgte, drangen wieder die Geräusche ihrer Umgebung an ihr Ohr. Menschen redeten, lachten, schlurften über das sandige Pflaster, einige sangen sogar. Und als sie ihren Blick in die Ferne richtete, konnte sie plötzlich das Meer sehen.

»Im Urlaub«, bestätigte sie. Sie kannte diesen Ort zwar nicht, aber sie wusste, dass es so war. Das Meer war immer mit Urlaub verbunden, oder? Oder war es mehr der Eindruck von Gelassenheit und Freude, den die Menschen unter der Brücke ihr vermittelten? Fern vom Alltagsstress.

Fern von der Realität.

»Lass uns ein Stück gehen.«

Sie gingen in die Richtung, aus der ihre Mutter gekommen war. Auf ihrer Ebene war es jetzt nicht mehr leer und Chrissy musste immer wieder anderen Menschen ausweichen, die sie gar nicht wahrzunehmen schienen.

Sie bemerkte erst, dass ihre Mutter ihre Hand gegriffen hatte, als diese fragte: »Bist du glücklich, mein Schatz?«

»Was?«

»Ich frage dich, ob du glücklich bist.« Das Lächeln ihrer Mutter war unerschütterlich, ganz egal, wie verwundert Chrissy über diese Frage war.

»Ähm ... ja?«, antwortete sie schließlich. Sie hörte selbst das Fragezeichen und die Oktave, die ihre Stimme nach oben geschnellt war.

Beides rief ein Runzeln auf die Stirn ihrer Mutter. »Das klingt nicht danach.«

Das Lachen der Menschen unter ihnen war auf einmal ohrenbetäubend, als wollten sie Chrissy mit Qualen deutlich machen, dass sie sich nicht so fühlen konnte wie sie. Dann schwoll es wieder ab und trat in den Hintergrund, ganz im Gegensatz zu dem abwartenden Blick ihrer Mutter.

»Nun ja«, begann Chrissy langsam. Sie wollte ihrer Mutter keine Sorgen bereiten, gerade in dieser sonnendurchfluteten Welt nicht. Aber auf Lügen stand eine hohe Strafe im Hause Keller, also hielt sie es vage: »Es geht mir gut. Ich habe einen Job, mit dem ich meine Rechnungen bezahlen kann, und bin gesund.« Und dann waren da noch die zehn Millionen Dollar, aber die Erklärung hätte zu viel kostbare Zeit geraubt.

»Das weiß ich alles«, entgegnete ihre Mom mit schneidender Stimme. »Das war nicht meine Frage.« Sie griff wieder nach ihrer Hand, wesentlich sanfter, als ihr Ton es vermuten ließ, und drückte ihre Finger leicht. »Bist du glücklich?«

Chrissy presste die Lippen zusammen. »Ich weiß nicht«, murmelte sie schließlich. »Ich glaube nicht, dass ich weiß, wie sich das anfühlt. Jedenfalls nicht mehr.«

Ihre Mutter nickte. »Das habe ich mir gedacht.« Sie strich mit der Hand über das Holzgeländer der Brücke, deren Ende sie nun erreichten. Als sie auf eine der großen Holzveranden traten, fuhr ihr Arm in die Luft. Ihre Hand drehte sich anmutig in der Luft und schien etwas wie gelben Rauch zu bewegen. Als Chrissy blinzelte, war er schon wieder verschwunden, dafür begegnete sie dem Blick ihrer Mutter. Ihre Augen waren dunkelblau, unergründlicher als jeder Ozean, selbst für ihre eigene Tochter. »Du musst auf dich achten, mein Schatz«, sagte sie dann. »Bitte tu das für mich, ja? Du musst versuchen, glücklich zu werden. Selbst, wenn du es nie ganz schaffst ... der Versuch allein wird dein Leben verändern.«

Ein Stein fiel in ihrem Magen herab, als Chrissy erkannte, dass sie lange nicht mehr das Gefühl gehabt hatte, zufrieden zu sein. Immer gab es etwas, dass sie verbessern wollte, an sich selbst und an anderen und an der Welt. All die schlechten Nachrichten, die tagtäglich die Kanäle fluteten, die sinkende Wirtschaftskraft ihres Landes, all die Atomwaffen, die irgendein gestörter Mann früher oder später zünden würde. Die hungernden Kinder, die verwahrlosten Tiere auf den Straßen, der Krieg überall.

Chrissy hätte tatsächlich gerne, dass sich nicht nur die Welt, sondern auch ihr eigenes Leben veränderte. Sie wusste ganz genau, wie sie es haben wollte: So wie vor zehn Jahren. Nur mit dem Unterschied, dass sie dann klüger und reifer handeln würde, und dass ihre Mutter nicht ihr Leben verlor.

War der Gedanke einmal gedacht, so konnte Chrissy ihn nicht mehr verdrängen. Ihr Herzschlag nahm zu und sie spürte die Berührung ihrer Mutter an ihrer rechten Hand überdeutlich. Etwas, das sie bis vor kurzem für absolut unmöglich gehalten hatte.

»Es tut mir so leid, Mom«, schluchzte sie kurz darauf los. Sie konnte ihre Tränen nicht mehr aufhalten und dem Risiko entgehen, den Traum oder ihre Mutter zu vertreiben, sie musste sagen, was ihr seit Jahren auf der Seele brannte. »Ich hätte niemals all diese schlimmen Dinge zu dir sagen dürfen. Oder mich so stur aufführen dürfen. Ich –«

»Hey.« Ihre Mutter blieb stehen und drückte ihre Hand, bevor sie vor sie trat und ihr direkt in die Augen sah. »Was redest du denn da?«

»Ich ...« Chrissy holte tief Luft, was angesichts des Brockens in ihrer Kehle und der verstopften Nase schwierig war. Wieder schluchzte sie, ihre Lungen zogen sich eng zusammen, als ihr wieder bewusst wurde, wie sehr sie ihre Mutter eigentlich vermisste und wie weh dieses Vermissen manchmal tat. »Ich entschuldige mich bei dir. Für mein unmögliches Verhalten. Und dafür, dass ich dich nie zu schätzen gewusst habe. Ich war eine grauenvolle Tochter.«

»Ach, mein Schatz«, seufzte ihre Mutter nur. Ihre Mundwinkel waren verdächtig weit nach unten gesunken. »Du musst dich für gar nichts entschuldigen.«

»Doch.« Sie schlug die Hände vor die Augen, weil die Scham sie endgültig übermannte. Es war dasselbe Gefühl, das sie immer überkam, wenn sie ihrer Mutter auf einem Foto in die Augen sah, nur eintausend Mal intensiver. »Ich habe laut angezweifelt, ob du wirklich meine Mutter bist, und mir gewünscht, dass du mich nicht mehr nervst ... und dann warst du weg. Tot. Ich meine, welches Kind tut so etwas? An deiner Stelle hätte ich mich auch gehasst.«

»Evi!«

Chrissy erschrak, als ihre Mutter in strengem Ton ihren eigentlich so liebevollen Spitznamen aussprach. Sie wagte es nicht, die Hände vom Gesicht zu nehmen – sie hatte ihre Mutter wieder wütend gemacht, selbst hier, im Traum –, doch Finger legten sich um ihre Handgelenke und zogen energisch. Als sie ihrer Mutter wieder in die Augen sah, war ihr Kinn demütig gesunken. Sie fühlte sich so elend und glücklich zugleich, dass ihr Inneres zu zerfließen begann. Sie konnte es spüren, wie es an ihrem Rücken und ihren Knöcheln herunterlief, heiß und kalt zugleich.

»Ich habe dich nie gehasst und ich werde dich niemals hassen. Wie kannst du so etwas nur denken?« Nun war es an ihrer Mutter zu weinen. Chrissy verzog irritiert das Gesicht, weil die Szenerie ihr so unbekannt war. Es wirkte falsch, was sie da sah. Entweder verzerrte der Traum eine authentische Gefühlsregung oder Chrissy konnte sich nicht mehr daran erinnern, ihre Mutter jemals weinen gesehen zu haben. Ihre Tränen waren dicke Tropfen, die im Sonnenlicht unnatürlich hell glitzerten und ein Platschen verursachten, als sie auf die Holzveranda fielen.

»Du musst nicht weinen«, flüsterte Chrissy in dem schwachen Versuch, einen Menschen zu trösten, den sie noch nie getröstet hatte. Sie fühlte sich hilflos.

»Das muss ich wohl, wenn ich so eine schlechte Mutter gewesen bin, dass du das denkst«, erwiderte ihr Gegenüber mit bebender Stimme. »Schatz, ich habe dich immer über alles geliebt. Genauso wie deinen Bruder. Und deinen Vater. Ganz egal, was war oder wie ihr euch benommen habt. Das hatte nie einen Einfluss darauf.«

Chrissy schluckte schwer. Sie weinte nur noch stumm, Tränen rannen in Rinnsalen über ihre Wangen und durchnässten nicht nur ihre Ärmel, sondern auch ihre Socken. »Aber wir haben uns gestritten, bevor du ...« Sie fasste den letzten Mut, den sie aufbringen konnte. »Bevor du gestorben bist.« Sie kniff die Augen angsterfüllt zusammen, doch ihre Mutter verschwand nicht, als sie es aussprach, sondern sah sie nur mitleidig an. »Manche haben gesagt, dass dein Herzinfarkt durch den ganzen Stress verursacht wurde und du hast dich bestimmt über mich aufgeregt, weil wir uns so gestritten haben ... Ich konnte mich nie bei dir entschuldigen und dich um Verzeihung bitten.«

»Schatz, ich bin doch nicht deshalb gestorben. Was denkst du denn? Es war niemals nötig, dass du mich um Verzeihung bittest.«

Bei diesen Worten fiel ein Gewicht von Chrissy ab, dessen Niederschlagkraft ihr erst jetzt richtig bewusst wurde. Sie konnte die Schultern wieder straffen, als wären sie seit Jahren von Wassermassen heruntergedrückt worden. Oder von schweren Säcken, die all die schlimmen Dinge beinhalteten, die Chrissy jemals zu ihrer Mutter gesagt hatte. Jetzt schlugen sie stattdessen auf die Planken und als sie hinuntersah, konnte sie sogar ein Loch erkennen. Menschen unter ihr tummelten sich um vergilbte Papierschnipsel, die langsam vom Wind getragen davonflogen.

Und mit ihnen all die schlechten Gefühle, die Chrissy belasteten.

»Es tut mir leid, dass dir das nicht bewusst war«, flüsterte ihre Mom und rief damit ihre Aufmerksamkeit zurück auf sich. »Vielleicht wirst du das eines Tages verstehen, wenn du selbst Kinder hast.« Sie hob rasch die Hände, als sie Chrissys offenen Mund bemerkte. »Oder auch nicht. So oder so wirst du sicher irgendwann verstehen: Eine solch innige, natürliche Liebe kann nichts erschüttern, mein Schatz. Niemals.« Sie nahm Chrissys Hand und legte sie auf ihre Brust. Sie lächelte.

Chrissys Sicht verschwamm, als neue, dicke Tränen ihre Augen füllten. Unter ihrer Hand konnte sie keinen Herzschlag fühlen – und selbst wenn es nicht das war, was ihre Mutter ihr mit dieser Geste weismachen wollte, so versetzte sie ihr einen ungemütlichen Tritt in die Realität.

Ihre Mutter war tot. Das hier war nur ein Traum. Es war egal, was sie sagte, sie würde nicht wieder zurückkommen.

Es würde nie wieder so werden können wie vor zehn Jahren.

Chrissys Blick richtete sich auf etwas, das sich am Horizont auftürmte.

»Nein«, wisperte sie und sah dann verzweifelt ihre Mutter an. »Nein. Mom, bitte nicht. Das hier darf noch nicht zu Ende sein.«

Ihre Mutter drehte sich nicht um, als könnte sie den Lärm gar nicht hören, mit dem die riesige Sandwelle auf sie zukam. Stattdessen blickte sie mit einem Grinsen und einem Blitzen in den jungen Augen über das Geländer nach unten, wo die Menschen zu jubeln begannen. Einige schnappten sich Surfbretter, die an den Häuserwänden auftauchten, andere pusteten in ungeheurer Geschwindigkeit Pooltiere auf – Delfine, Flamingos, Krokodile.

»Mom«, flehte Chrissy erneut. Ein Windzug erfasste ihre Haare, diesmal war er kalt. »Bitte. Ich habe noch so viele Fragen an dich.«

Ihre Mutter richtete sich auf und sah ihre Tochter an. »Es ist okay, Evi«, sagte sie und nahm ihr Gesicht in ihre Hände. Sie gab ihr einen Kuss auf die Stirn, als es unter ihren Füßen zu beben begann. Die Flutwelle aus Sand hatte die ersten Häuser erreicht und begann, sie unter sich zu begraben.

»Mom, bitte.« Chrissys Füße waren nass, sie stand in einer Pfütze ihrer eigenen Tränen, doch egal, wie viel sie auch weinte oder sich zu konzentrieren versuchte; nichts konnte das Ende aufhalten, das auf sie zukam.

Und so schloss sie lediglich die Augen, als die Welle sie traf. Es war mehr ein Sturm, bemerkte Chrissy da, und sie klammerte sich an die Arme ihrer Mutter, die immer noch ihr Gesicht hielt. Sie schluchzte laut, doch der Sand drang ihr nicht in den Mund.

Und als der Lärm vorüber war und sie die Lider wieder öffnete, war alles verschwunden. Chrissy sank auf die Knie und sah sich um. Da waren keine Häuser mehr. Keine Menschen. Keine Mutter. Nur eine Brücke ohne Anfang und Ende.

Sie war ganz allein.

***

Chrissys Aufwachen war langsam. Sie spürte jede einzelne Faser ihres Körpers aus der Traumwelt zurückkehren, obwohl sie um jeden Preis hatte dableiben wollen. Doch nun spürte sie allmählich wieder die weichen Laken unter ihren Händen, spürte den Schweiß auf ihrer Stirn und den kalten, nassen Stoff des Kissens an ihrem Hals. Alles war nass von den Tränen, die sie geweint hatte, und Chrissy hatte beim besten Willen nicht die Kraft, jetzt damit aufzuhören. Also rollte sie sich auf der Seite liegend zusammen und hielt sich eine Hand vor den Mund, als ein verzweifelter Schrei aus ihr herausbrach.

Es war, als starb ihre Mom ein zweites Mal. Sie war sich der Last bewusst, die von ihren Schultern gefallen war, aber auch der tiefsitzenden, alles zerreißenden Sehnsucht, die ihr Innerstes in Stücke zerbrach.

Man musste eben immer aufpassen, was man sich wünschte.

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