Kapitel 4

»Wieso bist du noch hier?« Jenna kam überrascht an die Kasse, wo Chrissy gerade einen Kunden abrechnete, der zwei Geschenkschachteln an die Tafel gespendet hatte. Sie wünschte ihm einen schönen Abend und wandte sich dann ihrer Kollegin zu, die zwei heiße Schokoladen für sich und Kevin dabei hatte.

»Darum.«

»Chrissy ...«, raunte Jenna langsam. »Du hast heute Morgen aufgeschlossen, deine Schicht ist seit über einer Stunde vorbei. Geh nach Hause!«

»Und was soll ich da?«, antwortete Chrissy eine Spur zu patzig. Jenna zuckte zurück, aber sie schien nicht verletzt, sondern verwundert. »Tut mir leid«, sagte Chrissy dennoch. »Ich habe diesen Laden nur noch drei Monate und zuhause wartet nichts und niemand auf mich ... ich möchte einfach gerne noch hier sein, so lange es geht.«

Die Miene ihrer Kollegin wandelte sich schlagartig in Mitleid um und sie hielt ihr ihre heiße Schokolade hin, die Chrissy allerdings dankend ablehnte. Sie hatte schon wieder zig Pralinen aus den geleerten Adventskalendern genascht und Jenna außerdem nur die halbe Wahrheit erzählt.

Ja, es tat ihr weh, dass sie die Confiserie verlor. Sie hatte in den letzten Tagen fünf Mal mit dem Headquarter telefoniert und versucht, ihre zehn Millionen Dollar gewinnbringend einzusetzen, indem sie anbot, den Mietvertrag zu übernehmen. Aber egal, mit wem sie telefoniert hatte, niemand hatte sich auf diesen Vorschlag eingelassen, was Chrissy mit jedem Telefonat wütender hatte werden lassen. Den Letzten, den sie am Hörer gehabt hatte, den CFO, hatte sie schlussendlich angeschrien. »Wenn Sie so versessen darauf sind, Filialen willkürlich zu schließen, sollten Sie Ihren Scheißladen gleich ganz dicht machen!« Etwas Besseres war ihr in dem Moment nicht eingefallen, aber es hatte gereicht, um eine Abmahnung in ihrer Personalakte zu kassieren.

Wenn Chrissy ehrlich war, störte sie das nicht sehr. Sie sollte nicht vorzeitig gekündigt werden, das nicht, aber sie würde sich nach der Schließung ihrer Filiale auf keinen Fall in eine andere versetzen lassen. Eher schloss sie sich der Spielerbande ihres Bruders an.

Der wahre Grund, warum sie nun also über eine Stunde nach ihrem Schichtende noch in der Confiserie herumhing, war die leise Hoffnung, dass sie Niani wiedersah. Die Elfe könnte ihr helfen.

Auch die letzten Abende hatte sie Jenna und Kevin großzügig nach Hause geschickt, um selbst den Laden abzuschließen, dann hatte sie im Dunkeln ausgeharrt und darauf gewartet, das Leuchten zu sehen. Gestern war sie sogar auf den anderen Etagen herumgewandert und hatte anschließend ein Gespräch mit John führen müssen, weil dieser sie erwischt hatte. Ihm hatte sie eine ähnliche Geschichte wie Jenna aufgetischt; sie hing so sehr an der Mall und wollte alles auskosten, was ging. Als John erfahren hatte, dass die Confiserie schließen würde, war er erschüttert gewesen – schließlich war er ein regelmäßiger Kunde – und hatte Chrissy mit einem stummen Wink nach Hause geschickt.

Ein paar letzte Besucher:innen trödelten in der Mall herum, als zum dritten Mal die Durchsage kam, dass sie in wenigen Minuten schließen würden. Jenna packte bereits ihre Tasche hinter dem Tresen, während Chrissy Kevins Arbeitszeiten ins Programm übertrug und ihm einen schönen Feierabend wünschte. Draußen am Geländer lehnten bereits zwei der Typen, mit denen Chrissy ihn bei der Weihnachtsfeier bekannt gemacht hatte. Offenbar unternahmen sie jetzt öfter etwas zusammen, was Chrissy schön fand. Vielleicht konnte Kevin einen neuen Job in dem Klamottenladen übernehmen, wenn die Confiserie nicht mehr sein würde. Wegen Jenna machte sie sich nach ihrem Gespräch keine Sorgen mehr, die würde mit ihrer charmanten Art schnell etwas Neues finden, wenn das mit der Versetzung nicht funktionieren würde.

Chrissy winkte ihrer Kollegin zu, die eine halbe Stunde später den Laden verließ, nachdem sie beide die verkauften Produkte in den Regalen ersetzt hatten. Jenna stieß fast mit einer hereinkommenden Frau zusammen. Beide lachten und entschuldigten sich, da erkannte Chrissy die nette Frau aus dem Kulturclub, die ihr bei der Weihnachtsfeier das Wasser runtergebracht hatte.

»Ich hatte gehofft, dass hier noch jemand ist«, sagte diese außer Atem, nachdem sie am Kassentresen angekommen war. »Ich bin gerannt, sobald wir zugeschlossen hatten, und ... oh, hey.« Ihr Mund verzog sich zu einem strahlenden Grinsen. »Du bist es.«

»Ja, hey.« Chrissy war heute in einer besseren Verfassung als letztes Wochenende und schaffte es daher, das schöne Lächeln zu erwidern. »Was kann ich für dich tun? Und ... wie heißt du eigentlich?«

Die Frau starrte sie lediglich für einige Sekunden an, bis sie wieder zu sich kam. »Oh, äh, ja ... Ich bin Noelle.«

»Das ist aber ein toller Name.«

»Danke, ...?« Sie sah sie fragend an.

»Chrissy.«

»Chrissy«, wiederholte Noelle zufrieden und sah einen Augenblick lang verschmitzt aus. »Ich habe eine kleine Kunstauktion in unserem Kulturclub organisiert, die am kommenden Samstag stattfindet, und ich habe überraschend viel Budget bekommen, um es so richtig schick werden zu lassen. Und da dachte ich ... Was ist schicker als ein paar teure Pralinen?«

Chrissy sprang sofort darauf an. »Das ist absolut richtig. Nichts strahlt mehr Luxus aus als ein paar hübsch verzierte Schokoladentrüffel, außerdem eignen sie sich gut als Fingerfood und schütten auch noch Endorphine im Körper aus, was vielleicht hilft, damit Leute ein paar Gemälde kaufen.«

»Ich merke schon, du bist die richtige für den Job.« Noelle grinste und deutete hinter sich. »Meinst du, ich kann noch mal kurz schauen, was ihr so da habt? Ich war noch nie in so einem Laden.«

»Sicher«, erwiderte Chrissy. Sie hatte die nächste Stunde ohnehin nichts Besseres zu tun. Als die Frau aus dem Kulturclub sich umdrehte, erlaubte Chrissy sich, woanders hinzuschauen als in ihr Gesicht. Sie hatte eine tolle Figur mit breiten Hüften und trug fabelhafte Klamotten, mit denen sie sicher sofort zu der Ausstellung hätte gehen können. Einen dunkelroten, dünnen Rollkragenpullover, über dessen Stoff eine funkelnde Goldkette lag, und einen kurzen, schwarzen Rock mit Falten. Ihre Füße steckten in Schuhen, die Chrissy kurz stutzen ließen – es waren golden glitzernde Sandaletten, die ihr sehr bekannt vorkamen.

»Man, ihr habt ja echt krasse Sachen hier«, meinte sie gerade und drehte sich mit einer Schokoladentafel in der Sorte ›Rosa Pfeffer‹ zu ihr um, sodass Chrissy ihre großen, goldenen Kreolen sehen konnte, die in Kombination dem kühlen Unterton ihrer schwarzen Haut fabelhaft aussahen. Ebenso wie ihre strahlenden Augen.

»Und die Leute sind immer wieder überrascht, wie gut die schmecken.« Chrissy war kurz davor, eine der angebrochenen Tafeln unter dem Tresen hervorzuziehen, um sie ihr alle zum Probieren hinzuhalten, als ihr im Augenwinkel etwas auffiel. Draußen, hinter der Glastür zur Etage, nahm sie ein sanftes Leuchten wahr, weit hinten am Ende der Ladenreihe.

Das war sie. Niani.

»Du ... hör zu«, begann Chrissy, die augenblicklich noch aufgeregter wurde, »ich muss dringend auf Toilette, bevor ich nach Hause fahre, aber du kannst dich hier gerne weiter umsehen. Falls du auch losmusst, können wir ja morgen besprechen, was du für die Auktion haben willst, aber ich –« Ihr ging kurz die Luft aus, weil sie Angst hatte, dass sie Niani verpassen würde. Der Gedanke war lächerlich. Falls die Elfe wirklich wegen ihr hier war, würde sie schließlich auf sie warten, oder nicht? »Na ja, ich muss jetzt wirklich dringend pinkeln, sorry.«

»Okay ...?«, machte Noelle verdutzt, winkte ihr dann aber. »Dann bis morgen. Ich verspreche, ich werde nicht klauen.«

»Sind eh überall Kameras«, rief Chrissy über ihre Schulter zurück und eilte dann aus dem Laden. Sie folgte dem schwächer werdenden Leuchten, überquerte die Brücke der beiden Galerieseiten und ging an der Ladenreihe gegenüber bis ans hinterste Ende zum Nagellack-Store. Auf dem Weg fiel ihr auf, dass sie nicht die letzte Mitarbeiterin war; auch in der Drogerie und auf der anderen Seite in dem Handtaschenladen brannte noch Licht. Die Weihnachtselfe mit den blonden Locken stand trotzdem tiefenentspannt über eine Auswahl von Nagellacken gebeugt und hielt abwechselnd ein paar Fläschchen hoch. »Hallo, Christmas«, begrüßte sie Chrissy, ohne aufzuschauen.

»Hier sind noch andere Leute, hast du keine Angst, dass man dich sieht?«, fragte Chrissy atemlos und sah über ihre Schulter zum Handtaschenladen, wo Melissa, die Inhaberin, die Auslage am Schaufenster erneuerte.

»Hast du mich denn heute Mittag gesehen, als du dir von deinem Reichtum eine Drei-Dollar-Nudelbox bei dem Asia-Imbiss gekauft hast?« Chrissy war zu schockiert, um zu antworten, und so lächelte Niani nur und nickte wissend. »Keine Sorge, ich leuchte nur für die Menschen, denen ich einen neuen Wunsch erfüllen darf. Also, Christmas, es ist so weit. Sicher geht es diesmal ohne längere Diskussionen.«

»Äh ...«, machte Chrissy und beobachtete, wie Niani ein Fläschchen öffnete, in dem rosafarbener Glitzernagellack schwamm. Seelenruhig bestrich sie damit ihre Nägel, ehe sie Chrissy auffordernd ansah. »Also, ich muss gestehen, dass ich wirklich nicht daran geglaubt habe, als du das letzte Mal da warst, aber dann –«

»Hattest du plötzlich zehn Millionen Dollar auf dem Konto, ja, ich weiß. Ich kenne die Geschichte, ich bin schließlich verantwortlich dafür.«

»Aber wie? Woher hast du das Geld? Ich habe nicht mal Lotto gespielt oder was geerbt, woher kommst du also an zehn Millionen Dollar?«

»Ich habe eben meine Mittel und Wege«, sagte Niani. Sie hatte heute purpurroten Lippenstift aufgetragen und ihre Wangen schimmerten von einer großzügigen Schicht Highlighter.

»Hast du das Geld gestohlen?«

»Das ist echt alles, woran du denken kannst, oder?« Die Weihnachtselfe klang überraschend genervt. Generell war sie gar nicht so, wie Chrissy es von einer Elfe erwartet hätte, wenn sie schon früher dran geglaubt hätte. »Es gibt Leute, die haben so wahnsinnig viel Geld, denen fällt nicht auf, wenn ein paar Millionen Dollar da fehlen. Die meisten von denen haben es außerdem auf unehrliche Weise erwirtschaftet.« Sie stellte das Nagellackfläschchen ab und zog mit ihrer unlackierten Hand wieder etwas aus ihrem Ausschnitt, das sich als dicke Papierrolle erwies. Sie hielt am oberen Ende fest und ließ eine Liste sich entrollen, die bis auf den Boden reichte.

Chrissy konnte unzählige Namen darauf erkennen, in rot geschrieben, und daneben hohe Summen, die wahrscheinlich Kontostände waren. Ihr fiel nicht nur auf, dass sie manche der Namen kannte – große Persönlichkeiten der ganzen Welt, viele von Ihnen Politiker –, sondern auch, dass die Zahlen sich stetig zu verändern schienen. Niani rollte die Liste mit einem schwungvollen Hochziehen ihres Arms wieder ein und steckte sie weg, ehe Chrissy sie ausführlich studieren konnte.

»Ist das so etwas wie eine Naughty-Liste? Von denen, die böse waren und keine Geschenke kriegen?«

»So ... ungefähr.« Niani lächelte wieder, diesmal schien es diabolischer Natur zu sein. Irgendwie gefiel Chrissy es, dass die Elfe versuchte, ein wenig Gerechtigkeit auf der Welt zu schaffen, selbst wenn sie nicht wirklich die Begünstigte hätte sein dürfen. Sie brauchte das Geld genauso wenig wie die Leute, deren Namen auf der Liste standen. Aber sie würde dafür sorgen, dass es an Stellen ging, wo es dringend benötigt wurde.

»Ich habe mir viele Gedanken über meine nächsten beiden Wünsche gemacht.«

»Das hatte ich gehofft«, seufzte Niani und fuhr damit fort, sich die Nägel zu lackieren. »Ich will nämlich noch auf die legendäre Party von meinem Cousin.«

Chrissy verkniff sich all die tausend Fragen, die ihr bei dieser Aussage auf der Zunge lagen. Wie groß war Nianis Familie? Pflanzten sie sich fort wie Menschen? Wo lebten die Elfen? Am Nordpol? Hatten sie noch mehr magische Fähigkeiten? Wieso war die Party so legendär?

Stattdessen sagte sie: »Ich wünsche mir als nächstes Weltfrieden.«

Niani sah auf und hielt in ihrer Bewegung inne. Dann fing sie lauthals an zu lachen, so schallend, dass Chrissy automatisch über die Schulter zu Melissa schaute, die jedoch nirgendwo mehr zu sehen war. »Der war wirklich gut.«

»Was?«, machte Chrissy verdattert. »Aber ich meine das ernst.«

»Natürlich meinst du das ernst«, sagte die Elfe immer noch prustend. »Süße, was glaubst du, wer ich bin? Eine Göttin? Ich kann dir zehn Millionen Dollar schenken, aber ich kann nicht die gesamte Menschheit in ihrem Wesen verändern, damit nie wieder irgendwo Krieg herrscht.«

»Aber wieso nicht?«

»Wieso?« Niani schraubte den Nagellack nun zu und stellte ihn zurück, schnippte zweimal dagegen und kam dann zwei Schritte auf Chrissy zu. »Weil das nicht in meiner Macht steht. Abgesehen davon ist das auch nicht meine Aufgabe. Was denkst du, warum ich hier bin? Warum du ausgewählt wurdest, um drei Wünsche erfüllt zu bekommen? Hast du dir darüber auch Gedanken gemacht?«

Ehrlich gesagt hatte Chrissy das nicht, deshalb schüttelte sie langsam den Kopf. Sie hatte lange gebraucht, um das mit ihrem neuen Kontostand zu realisieren und sich dann wiederum einzugestehen, dass Niani und ihre Magie wirklich existierten. Chrissy hatte sich nur darüber den Kopf zerbrochen, wie sie die Erde zu einem besseren Ort machen könnte, aber nicht, warum man ihr diese drei Wünsche gab. Genauso wenig hatte sie sich Gedanken darum gemacht, warum die Welt noch nicht das friedliche Paradies war, wenn es Weihnachtselfen gab, die jedes Jahr Wünsche verteilten.

»Du willst Weltfrieden. Du arbeitest an all deinen freien Tagen im Kinderhospiz und bei der Tafel und spendest Adventskalender mit deinem eigenen Geld. Du leihst deinem Bruder mehrere tausend Dollar, wohlwissend, dass du sie nie wieder zurückbekommen wirst, schenkst Obdachlosen auf den Straßen jede Woche Essen und Kleidung und Gutscheine für Lebensmittelläden.« Niani seufzte und legte ihre beiden Hände auf Chrissys Schultern, wobei ihr ein angenehmer Schauer über den Rücken lief. »Du hast eine ganze Liste von Organisationen geschrieben, die du mit deinen zehn Millionen Dollar zuscheißen wirst, bis nichts mehr davon übrig ist. Du verzichtest auf Urlaube, denkst pausenlos an all die Krankheiten, die die Menschen um dich herum bekommen könnten, gehst dreimal die Woche morgens mit Hunden aus den umliegenden Tierheimen in den Park und du bezahlst die teuren Herzmedikamente deiner alten Nachbarin.«

Chrissy winkte ab, beschämt darüber, wie lächerlich das alles klang. »Ich tue nicht genug, ich weiß, aber –«

»Christmas Eve Keller«, unterbrach Niani sie forsch und nahm ihr Gesicht in ihre Hände. Es fühlte sich an, als würde sie direkt in sie reinsehen. »Wann hast du das letzte Mal an dich selbst gedacht?«

»Ich denke seit einer Woche nur an mich, weil ich meine Confiserie verliere und nicht weiß, was ich dann tun soll«, murmelte Chrissy.

»Vielleicht wüsstest du es bereits, wenn du dir weniger Gedanken um all die anderen Lebewesen machen würdest. Aber das soll kein Vorwurf sein, ganz im Gegenteil.« Niani ließ sie nun los und deutete auf ihren Ausschnitt. »Weil du so bist, wie du bist, stehst du auf meinem Zettel. Meine Aufgabe ist es, dir etwas Gutes zu tun, aber das geht nur, wenn du dir mal erlaubst, ein bisschen egoistisch zu sein. So wie mit dem Geld ... Ich habe erst hinterher erkannt, dass die Rechnung nicht aufgehen wird und du das Geld in andere investieren wirst, aber sei es drum. Vielleicht behältst du ein bisschen was für deine Rente.«

Chrissy hatte das dringende Bedürfnis, sich zu setzen, aber ihr blieb keine andere Möglichkeit, als sich vorsichtig gegen den hohen Tisch zu lehnen, auf dem eine limitierte Edition präsentiert wurde. Sie dachte über das nach, was die Elfe gesagt hatte, während diese durch den Laden spazierte und sich Nagellacke griff. Immer, wenn sie ein Fläschchen entfernt hatte, schnipste sie gegen die Auslage und wie aus dem Nichts erschien eine identische Flasche am leeren Platz.

Möglicherweise hatte Niani ein kleines bisschen recht. Auch wenn es Chrissy ein Rätsel war, woher sie all diese Dinge über sie wusste, stimmten sie. Die Liste war nicht mal vollständig gewesen, und trotzdem dachte die junge Filialleiterin mindestens einmal die Woche daran, dass sie gerne mehr machen würde. Mehr Ehrenämter, mehr Geldspenden, Politik womöglich noch, um Dinge im Kern zu verändern. Aber wann sollte sie all das tun? Sie müsste andere Sachen dafür aufgeben und dazu war sie nicht bereit. Und es war nicht so, dass ihr all das nichts gab; sie profitierte emotional von den Spaziergängen mit den Hunden, von den fröhlichen Gesichtern bei der Tafel oder im Kinderhospiz, von den Dankesschreiben der Organisationen, an die sie spendete. Aber es war schon nicht abzustreiten, dass sie sich bis auf ein paar Pralinen die letzten Jahre nicht wirklich etwas zugestanden hatte. Oder gegönnt, wie Jenna zu sagen pflegte.

»Das bedeutet, dass ich mir nichts wünschen darf, was nicht für mich selbst bestimmt ist?«

»Du hast es verstanden!«, rief Niani erfreut aus, während sie hinter dem Tresen nach einer Geschenktüte kramte und ihre Nagellacke darin verstaute.

»Aber dann muss ich in eine völlig andere Richtung denken ... keine Ahnung, was ich mir dann wünschen soll.«

Die Elfe kam zurück zu Chrissy und sah dabei auf eine goldene Armbanduhr an ihrem Handgelenk. Es war offensichtlich, dass sie nicht glücklich über die Verzögerung war. »Keine Sorge, ich mache den Job schon seit ein paar Jahren, ich kann dich bei deinem Wunsch unterstützen. Lass uns ein Stück gehen, ich will noch mal zum Friseur, die haben immer so tolle Produkte für lockiges Haar.«

Mit diesen Worten zog sie Chrissy aus dem Store hinaus und schloss die Tür hinter sich. Es war ein leises Klicken zu hören, als hätte sie sich wieder verriegelt, bevor sie die immer noch hell erleuchtete Malletage entlangschritten. Chrissy sah am anderen Ende zwei Putzwagen stehen, doch niemand schien sie zu bemerken. Auch John nicht, der sie sicher auf den Kameras hätte sehen müssen, so wie gestern.

»Was gibt es, von dem du seit einiger Zeit etwas in der Art denkst wie ›Ach, wenn ich doch nur ...‹?«, fragte Niani sie. Die Absätze ihrer dunkelgrauen Stiefel, die sie heute trug, klackerten auf dem Fliesenboden der Mall.

»Keine Ahnung«, antwortete Chrissy grübelnd. »Wenn ich doch nur dafür sorgen könnte, dass alle Obdachlosen in New York ein Zuhause hätten? Wenn ich das strukturelle Problem lösen könnte? Wenn ich dafür sorgen könnte, dass benachteiligte Personengruppen endlich überall Gleichbehandlung erfahren?«

»Das ist nicht die Richtung, in die ich wollte«, nuschelte Niani, als würde sie mit sich selbst sprechen.

»Könntest du machen, dass ich Präsidentin wäre? Das wäre doch ziemlich egoistisch, oder?«

»Ich hätte früher zu dir kommen sollen«, seufzte Niani lediglich und stoppte sie beide. Als sie sich wieder vor sie stellte und sie ansah, wurde Chrissy abermals heiß. »Wünschst du dir das wirklich? Ein ganzes Land zu regieren? Sicher, du hättest viele Vorteile davon, die man als Egoismus abtun könnte, aber auch zahlreiche Nachteile. Und wir beide wissen, dass du damit nur dir selbst und der Welt beweisen willst, wie toll du bist. Aber du musst das nicht beweisen, Evi. Wir alle wissen schon, dass du toll bist. Also ... denk nach.« Sie atmete tief durch und legte denn zwei Finger unter ihr Kinn.

Es war schon fast gruselig, wie gut Niani sie durchschauen konnte. Chrissy redete sich ein, dass das nur auf die magischen Kräfte der Elfe zurückzuführen war, hatte aber gleichzeitig Angst, dass andere auch all das wussten, was Niani wusste. Dass sie etwas beweisen wollte. Dass sie besser sein wollte als andere. Dass sie viel zu verkopft an die Frage nach dem Sinn des Lebens ranging und tief in sich unglücklich war, weil sie ihre eigenen Ansprüche nicht erfüllen konnte. Wie war sie so geworden? War es die ständige Kritik ihrer Mutter gewesen? Dieses Gefühl, anders zu sein, als diese es sich erhofft hatte? Chrissy hörte seit Jahren keine Metalmusik mehr und hatte ihren Kleidungsstil größtenteils neutral gehalten, um niemandem aufzustoßen. Sie lächelte, wenn Leute ihr erzählten, für welch sinnlosen Dinge sie ihr Geld zum Fenster hinauswarfen, und verurteilte sie gleichzeitig innerlich.

»Was willst du? Welche unrealistische Sache willst du seit Jahren wahrwerden lassen? Was würdest du tun wollen, wenn morgen dein letzter Tag wäre?«

Nachdem Chrissy all die Einschränkungen des Wünschens verinnerlicht hatte, war ihr Kopf nun ziemlich leer. Sie hatte sich viele Gedanken gemacht die letzten Tage; Weltfrieden, kontinentübergreifender Pazifismus, Bekämpfen der Hungersnot und Armut, Stoppen des Artensterbens, für immer plastikfreie Weltmeere ... aber jetzt? Was wollte nur sie? Was war bisher unmöglich gewesen?

»Du weißt etwas.« Niani zeigte ihre Zähne, als sie zu grinsen begann. »Habe ich recht?«

»Es ist nur ein Gedanke ... ich glaube nicht, dass du mir das erfüllen kannst.« Chrissy war vielleicht wegen ihrer Mutter so geworden, wie sie heute war. Aber sie hatte keine Chance mehr, darüber mit ihr zu sprechen, sich ihre Sicht der Dinge einzuholen und außerdem gutzumachen, was sie damals verbockt hatte.

»Ich habe ein gutes Gefühl dabei«, sagte die Elfe zuversichtlich und klatschte leise in die Hände, wobei die losen Nagellackfläschchen in der Tüte an ihrem Arm klimperten. »Hau raus.«

»Also ich ...« Chrissy war es fast unangenehm, sich das zu wünschen. Wenn Niani so viel über sie wusste, dann kannte sie bestimmt auch die dunkle Wolke an Schuld, die bei dem Gedanken in Chrissy aufwallte. »Ich würde gerne meine Mutter wiedersehen.«

»Okay.« Das war alles, was die Weihnachtselfe dazu sagte.

»Sie ist tot, falls du das nicht –«

»Ich weiß, keine Sorge, ich weiß. Du vermisst sie und willst sie wiedersehen. Das verstehe ich und es ist egoistisch. Glückwunsch.«

»Aber –«, setzte Chrissy erneut an, doch die Elfe unterbrach sie mittels einer einfachen Handbewegung.

»Deine Mutter sollst du wiedersehen.« Und dann schnippte sie Chrissy zweimal gegen die Stirn.

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