Kapitel 2

Abgesehen von den zwei guten Dingen fand Chrissy die Weihnachtszeit grauenhaft. Das hatte endlos viele Gründe, und einige davon wirkten ironischer, als sie sein sollten.

Chrissys Mutter musste zum Zeitpunkt der Namenswahl unter dem Einfluss sehr starker Schmerzmittel gestanden haben. Ihr Vater hatte nicht genug Rückgrat besessen, sich gegen sie durchzusetzen, und mit angesehen, wie sie ihrer im Sommer geborenen Tochter den Namen Christmas Eve gegeben hatte. Christmas Eve Keller. Sobald die Menschen davon erfuhren, wurde es unmöglich, dem Thema aus dem Weg zu gehen. Der Frage nach dem Warum. Der kindlichen Freude, die sich auf dem Gesicht von Chrissys Gegenüber abzeichnete. Den halbgaren Lachern, die sie dafür erntete, als hätte sie nicht schon tausend Mal den Gedanken gehabt, sich rechtlich umbenennen zu lassen.

Ihr Tod war der Grund, warum Chrissy ihren Namen nicht ändern ließ. Wie könnte sie das jetzt noch tun?

Ihre Mutter selbst war ein weiterer Grund, warum sich Chrissys Abneigung gegenüber Weihnachten nie zu ihren Gunsten hatte durchsetzen können. Sie war eine Weihnachts-Fanatikerin gewesen, jemand, der das ganze Jahr über nervige Lieder gesummt, große Feste für den Dezember geplant und im August bereits die Dekoration vom Dachboden geholt hatte. Undenkbar, dass eines der Familienmitglieder da mit Metalmusik auf den Ohren im Zimmer hockte und Geschichten darüber schrieb, wie Santa Claus das Zeitliche segnete. Weihnachten war alles für ihre Mutter gewesen, manchmal hatte Chrissy sogar das Gefühl gehabt, sie liebte es mehr als sie – vielleicht auch deshalb, weil Chrissy es so sehr hasste.

Selbst jetzt, zehn Jahre, nachdem ihre Mutter nicht mehr da war, hielt ihr Vater all diese lächerlichen Traditionen aufrecht und wollte nicht einsehen, wie weh er seiner Familie damit tat. Die Erinnerungen, die dabei hochkamen, hatten Chrissys Hass auf weiße Bärte und glitzernde Kugeln nur noch verstärkt. Aber egal, wie uneinig sie und ihre Mutter sich immer gewesen waren, egal, wie oft sie sich gestritten und angeschrien hatten, es gab nichts auf der Welt, das Chrissy mehr vermisste. Wenn sie sie nur noch einmal sehen könnte und alles sagen könnte, was sie nie gesagt hatte ... vielleicht würde es ihr dann besser gehen.

»Drei Monate, hm?« Jenna kam aus der Confiserie hinaus und stellte sich neben sie, den Blick ebenfalls auf die vielen bunten Geschäfte gerichtet, die sich im Einkaufszentrum aneinanderreihten. Chrissy hatte eigentlich frische Luft schnappen wollen, nachdem sie mit dem Headquarter telefoniert hatte, war aber nicht sehr weit gekommen.

Die Information, die der Anzugtyp ihnen so nebenbei vor die Füße geworfen hatte, stimmte. Man hatte vor, ihre Confiserie zu schließen, weil die Ladenmiete zu hoch war. Chrissy hatte damit argumentiert, dass sie in den letzten Monaten wahnsinnig hohe Umsätze generiert hatte und der Laden zu einem wichtigen Teil der Mall geworden war. Viele ihrer Stammkunden waren ansässige Angestellte aus den anderen Geschäften und deren Familien, eine Basis, auf die man praktisch dauerhaft vertrauen könne. Sie hatte außerdem vorgeschlagen, mit dem Inhaber der Mall in Verhandlung zu treten, um die Mieten zu verringern, aber es hatte nichts genützt. Der Entschluss stand fest und wenn Chrissy Glück hatte, so die Frau am Telefon, könnte sie in eine andere Filiale ›in der Nähe‹ versetzt werden. Wahrscheinlich nicht in gleichwertiger Position, aber man sei ihr ›so dankbar‹ für die letzten Monate Engagement, dass man sie gerne als Angestellte halten wollte.

Am Arsch, dachte Chrissy sich jetzt. Um nichts in dieser Welt würde sie diese Mall verlassen, in der sie schon als Kind die meiste Zeit verbracht hatte. Ihre Mutter war Assistentin des früheren Inhabers des Einkaufszentrums gewesen und hatte Chrissy oft mitgenommen, weshalb sie nahezu jeden Winkel des Gebäudes kannte, den man als Kind hatte erkunden können. Währenddessen hatte ihre Mutter im Dachgeschoss in ihrem Büro gesessen und die ganzen Feiertage im Jahr mit besonderen Aktionen beplant.

Das Einkaufszentrum war der einzige Ort, den Chrissy selbst zur Weihnachtszeit erträglich fand. Sie hatte es lieber als ihre Wohnung. Lieber als ihr Elternhaus.

Es war immer ihr Wunsch gewesen, hier zu arbeiten, das würde sie sich jetzt nicht kaputt machen lassen.

»Sie sagten, sie wüssten noch nicht, wie es mit dir weitergeht. Tut mir leid, Jenna.« Chrissy sah zerknirscht zu ihrer Angestellten, die wahrscheinlich ihren Job verlieren würde. Sie hatte bereits versucht, das mit der Versetzung für Jenna zu arrangieren, aber die Frau am anderen Ende der Leitung hatte darauf sehr distanziert reagiert. Sie kannte Jenna nicht, sonst hätte sie die junge Frau mit Kusshand persönlich in der Zentrale empfangen.

»Ach, schon gut«, winkte Jenna lässig ab. »Ich finde schon was Neues. Außerdem habe ich fast genug gespart, um das mit dem Community College noch mal zu versuchen.« Sie hakte sich bei Chrissys Ellenbogen ein und lehnte sich an sie. »Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Aber was ist mit dir?«

»Keine Ahnung«, seufzte Chrissy schwer und unterdrückte die Tränen. Das hatte ihr noch gefehlt; so eine Hiobsbotschaft zur Weihnachtszeit. Wie sollte sie jetzt überhaupt versuchen, den restlichen Dezember zu genießen?

»Wir finden schon was«, sagte Jenna zuversichtlich. »Vielleicht kommst du einfach mit mir aufs College. Dann kannst du gleich ins Management aufsteigen.«

»Hm«, machte Chrissy nur, die sich nichts Schrecklicheres vorstellen konnte. Filialleiterin war die höchste Führungsposition, die sie in Betracht gezogen hatte. Für alles Weitere müsste sie den Kundenkontakt einbüßen und das kam nicht in Frage. Sie wusste viele Dinge, die sie nicht wollte. Nicht konnte.

Aber was wollte Chrissy stattdessen? Für was war sie geeignet? Wie sollte sie das herausfinden? Oder musste sie vorerst einen Kompromiss eingehen und sich doch versetzen lassen – der Sicherheit wegen? Aber dann müsste sie ihre Wohnung aufgeben und es war klar, dass sie nie wieder bezahlbaren und gleichzeitig nicht vollständig verdreckten Wohnraum in New York finden würde.

Chrissys Mundwinkel wanderten mit jeder Frage, auf die sie keine Antwort hatte, weiter nach unten. Sie hatte schon immer gewusst, dass gute Menschen nicht dafür belohnt wurden, gut zu sein. Aber dass das Karma so schlecht zu ihr war, überraschte sie dennoch.

»Fröhliche Weihnachten und ein tolles neues Jahr«, grummelte sie ironisch, ehe sie sich von Jenna löste und zurück in die Confiserie ging.

***

Chrissys Gehirn versuchte, ihr selbst nach Feierabend noch Gedanken hinzuschmeißen, die sie nicht denken wollte. Was für ein beschissenes Jahr. Was für eine beschissene Entscheidung, ausgerechnet meinen Laden zu schließen. Was für beschissene Leute, die diese Entscheidung getroffen hatten.

All das stimmte nicht. Ihr Jahr war okay gewesen, ganz im Gegensatz zu den Jahren davor. Sie hatte ausreichend Geld verdient, um sich und anderen Leuten regelmäßig etwas Gutes zu tun. Sie hatte ihr Wissen über Schokolade dank eines von der Firma bezahlten Seminars weiter ausbauen können, war sogar mehrmals in der Fabrik gewesen und hatte Ideen für neue Geschmackssorten vorbringen dürfen. Ihr Bruder war kein einziges Mal von der Polizei festgenommen worden – ebenfalls eine Verbesserung zu den Jahren davor – und ihr Vater war regelmäßig beim Arzt gewesen, ohne dass man Krankheiten oder sonstige Probleme festgestellt hatte. Das war eine gute Bilanz, fand sie.

Sie schnaufte, als sie hinten im kleinen Lagerraum zwei Kartons zur Seite hievte, um an die Restbestände von Adventskalendern zu kommen. Als sie es endlich geschafft hatte, riss sie die Plastikverpackung von der Schachtel und drückte ihren Daumennagel in die erste perforierte Öffnung, die sie sah. Es war die Nummer 16. Passend zum heutigen Datum.

»Hmm.« Sie schloss die Augen und lehnte sich gegen den Karton hinter ihr, als sie die Praline zerbiss. Rotweincreme. Sie hatte den richtigen Kalender für ihre aktuelle Stimmung gegriffen.

Cointreau war die nächste Pralinenkugel, die sie erwischte – ein süßer Likör aus Orangenschalen. Währenddessen gestand sie sich ein, dass sie den Punkt mit den horrenden Mieten durchaus verstehen konnte. Dafür, dass ihr Geschäft so klein war, schaffte sie es erstaunlich schwer, im Monat Gewinne zu erzielen. Wieso sollte das Management einer Confiserie-Kette sich dafür entscheiden, den Laden zu halten? Nur, weil Chrissy Geschäft mit Wohltätigkeit vermischte? Oder etwa, weil sie es liebte, hier in der Mall zu arbeiten und nahezu alle Ladenbesitzer:innen und Mitarbeiter:innen zu kennen? Das würde sie auch nicht interessieren, wenn sie eine geldgierige Anzugträgerin wäre.

»Hmpf.« Chrissy schob die nächste Praline hinterher, um ihre negativen Gedanken an die Menschen im Headquarter zu vertreiben. Pistazie-Marzipan. Ein Traum, der dennoch nur bedingt half, denn sie war immer noch sauer.

Sie hatte zehn Pralinen gegessen und mit dem Gedanken gespielt, den Laden zu verwüsten, als ein Licht hinter ihren Ladenfenstern aufleuchtete. Sie konnte die Auslage an der hinteren Wand plötzlich erkennen, die es bestrahlte, und rappelte sich vom Boden hoch. Das Licht bewegte sich und schien sich von ihrem Laden zu entfernen. Mit dem halb geöffneten Adventskalender in den Händen trat sie zurück in den Verkaufsraum und spähte hinaus auf die leere Etage. Meist waren um diese Uhrzeit nur noch die Putzkräfte unterwegs, bevor das Gebäude in einer halben Stunde schließen würde. Und weil man auf ihrer Etage fertig war, hatte John, der Sicherheitschef, die Beleuchtung bereits weitestgehend heruntergefahren.

Umso besser konnte man das Leuchten von gegenüber aus dem Schuhgeschäft erkennen. Chrissy vermutete, dass dort jemand mit einer Taschenlampe unterwegs war, bezweifelte aber, dass es jemand Böses war. Erstens brauchte man einen Schlüssel für die Ladentür, die nur von innen zu öffnen war, und zweitens glaubte sie nicht, dass jemand seine Freiheit aufs Spiel setzen würde, nur um abends Kaufhaus Schuhe zu stehlen.

Sie griff sich noch eine Praline aus dem Adventskalender und schlenderte dann langsam auf die andere Seite der Ladenreihe, ohne das sich bewegende Licht aus den Augen zu lassen. Während sie nach dem Handy in ihrer hinteren Hosentasche tastete, um es zur Sicherheit herauszuziehen und John anzurufen, schlich sie zwischen den Schuhregalen hindurch. Und dann entdeckte sie endlich eine Person, die auf einer der Sitzgelegenheiten saß und sich Riemchensandalen an die Füße steckte.

»Hallo?«, machte Chrissy irritiert und trat hervor. »Was machen Sie hier?«

»Hallo, Christmas«, entgegnete die junge Frau vor ihr. Sie wandte ihre Augen dabei nicht von den glitzernden Sandalen ab und stand auf. Sie war groß, hatte lange Beine und wunderschöne, blonde Locken.

Chrissy war so überwältigt von ihrem Anblick, dass sie fast nicht bemerkt hätte, dass ihr Name gefallen wäre. »Woher wissen Sie, wie ich heiße?«

Nun blickte die Frau auf und Chrissy fielen die dunklen Augen auf, die im starken Kontrast zu den blonden Löckchen standen, die ihr Gesicht einrahmten und über ihre Schultern fielen. Es wirkte fast, als besäße sie keine weiße Augenhaut. »Weil ich weiß, wie jeder Mensch heißt.«

»Und wie kommen Sie hier herein?«

Die Frau stellte sich vor den Spiegel und drehte sich nach links und rechts, um die Schuhe zu betrachten. Das Spiegelglas reflektierte das Licht ihrer Taschenlampe und blendete Chrissy für einen Augenblick. »Die Tür war offen. So wie jede Tür, durch die ich gehen will.«

»Okay ...« Chrissy zog gerade ihr Handy aus ihrer Hosentasche, als sie wieder in den Fokus der Einbrecherin geriet und mit einem zauberhaften Lächeln überrascht wurde.

»Ich freue mich sehr, dich zu sehen. Ich bin übrigens Niani. Ich habe den Auftrag bekommen, dir drei Wünsche zu erfüllen.« Sie packte den leeren Karton zusammen und stellte ihn zurück ins Regal, ehe sie zweimal dagegen schnippte und dann noch mal mit einem zufriedenen Nicken den Deckel hob. Chrissy meinte, im Inneren des Kartons das Glitzern weiterer Sandalen zu entdecken, konnte sich aber nicht lange genug konzentrieren, weil Niani sich dann wieder zu ihrer vollen Größe aufrichtete.

»Was meinst du damit?«

»Damit meine ich, dass ich«, die junge Frau deutete an sich auf und ab, als trüge das zum Verständnis bei, »wegen dir hier bin. Wegen Weihnachten und so. Drei Wünsche. Du verstehst?«

»Hä?«, machte Chrissy. Kannte sie diese Niani etwa? War sie vielleicht berühmt und empfand es jetzt als Beleidigung, dass Chrissy nichts mit ihr anfangen konnte? Sie hatte es einfach nicht so mit Promis, ganz im Gegensatz zu Jenna, die immer aufgeregt durch den Laden sprang, wenn jemand aus dem Reality-Fernsehen die Mall betrat.

»Hm. Ich merke schon.« Niani kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Hast in deiner Kindheit wohl nicht viel Fernsehen geschaut, hm? Weihnachtselfen sind Helferchen des Weihnachtsmanns und sorgen dafür, dass –«

»Danke, ich weiß, was Weihnachtselfen sind«, unterbrach Chrissy die Frau und beobachtete verblüfft, wie diese nun ein paar Schritte auf den Sandaletten nach hinten machte und sich prüfend umsah, als könnte sie heimlich jemand beobachten. Dabei fiel ihr auf, dass das Leuchten im Spiegel neben Chrissy ebenfalls bewegte, obwohl sie Nianis Taschenlampe nirgendwo sehen konnte.

»Eine Weihnachtselfe also, ja?«, sagte Chrissy indes und lachte leise. »Dann fehlt dir wohl dein Kostüm. Und die lächerlich spitzen Ohren. Außerdem ist die Mall seit anderthalb Stunden geschlossen, der Weihnachtsmann und seine Elfen sind längst verschwunden.«

Niani sah sie verdutzt an und schüttelte dann den Kopf. »Doch nicht so eine Elfe. Was denkst du, wie ich in weiß-rot-gestreiften Strumpfhosen aussehen würde? Mit so einem gruseligen grünen Hut? Aber ich will nie wieder hören, dass du dich über meine Ohren lustig machst.« Sie strich sich ihre Korkenzieherlocken hinter das rechte Ohr und obwohl sie nicht lange an ihrem Platz blieben, konnte Chrissy doch deutlich sehen, dass das kein Scherz war. Die Frau hatte nach oben hin spitz zulaufende Ohren.

Sie kam nun zurück und zog Chrissy hinunter auf die Bank zwischen den Regalen, ihre Berührung war wie die Wärme eines Kaminfeuers. »Mit eurem Möchtegern-Weihnachtsmann habe ich nichts zu tun, der schnallt sich morgens seinen Bart um und ist da, um den Kindern in dieser Stadt eine Freude zu machen. Ich hingegen«, sie lächelte wieder ihr strahlendes Lächeln und deutete an sich herab, »arbeite für den echten Weihnachtsmann und bin hier, um dir eine Freude zu machen.«

Chrissy nahm den Kopf zurück und unterdrückte ein Prusten. Wieso kam ihr das wie ein schlüpfriges Angebot vor? Eine gutaussehende Frau in einem kurzen, schwarzen Rock und einer weißen Bluse mit tiefem Ausschnitt, die ›ihr eine Freude machen wollte‹? Davon träumte Chrissy nachts nur, wenn sie getrunken hatte.

»Hör zu, ich bin wirklich geschmeichelt, aber ich fürchte, ich muss jetzt leider John anrufen ... du weißt schon.« Chrissy deutete auf die Schuhe und dann durch den Laden. »Wegen deines Einbruchs.«

»Du willst wohl keine Wünsche erfüllt bekommen, hm?« Niani stand auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich hatte schon deutlich dankbarere Menschen, die gar nicht wussten wohin mit all ihren Ideen und Hoffnungen. Und außerdem«, sie schnalzte die Zunge und hob noch mal den Deckel des Kartons, den sie vorhin zurück ins Regal gestellt hatte, »habe ich weder gestohlen noch bin ich hier eingebrochen. Die Tür war offen. So wie alle Türen. Und ich würde niemals stehlen. Ich fand die Schuhe einfach nur hübsch.«

Jetzt war Chrissy erst recht verwirrt. In dem Karton lagen tatsächlich dieselben Sandaletten, die Niani auch an den Füßen trug. Wie war das möglich? Wo war der leere Karton, aus dem sie die Sandaletten genommen hatte?

»Christmas Eve Keller.« Niani griff sich ans Dekolleté und zog ein Zettelchen aus ihrem BH hervor. »Das bist du doch, oder?«

»Ja, bin ich.« Chrissy stand ebenfalls auf und sah auf den Zettel, den Niani auseinandergefaltet hatte. Dort stand in wunderschöner Schreibschrift ihr Name.

»Gut. Ich muss in diesem Jahr meine kranke Schwester vertreten, deshalb habe ich noch einen zweiten Namen«, sagte Niani und klopfte sich auf die andere Brustseite. »Wenn wir das also beschleunigen könnten, dann könnte ich das mit Noelle heute auch noch erledigen.«

»Noelle?«, echote Chrissy verwundert. Wer war denn jetzt Noelle?

»Ja, Noelle. Ich habe das Gefühl, sie weiß, was sie will. Im Gegensatz zu dir.«

In der Ferne ertönte ein Krachen, es klang wie eine der Brandschutztüren, die zugefallen waren. So hörte es sich meistens an, wenn John unterwegs war, um die Stockwerke zu kontrollieren, bevor er sich für seine Schicht in den Kontrollraum setzte.

Niani bestätigte ihre Vermutung, als sie um die Ecke des Regals sah. »In zwei Minuten wird der Wachmann hier sein. Also, Christmas, was begehrst du von ganzem Herzen?«

»Was?« Chrissys Herz schlug nun schneller, weil es sicher nicht gut aussehen würde, wenn John sie hier mit einer Einbrecherin erwischte, die sie nicht gemeldet hatte.

»Vielleicht solltest du dir einen höheren IQ wünschen«, murrte Niani, ganz leise nur, ehe sie wieder ihr Lächeln aufsetzte und tief Luft holte. »Ich: Weihnachtselfe. Du: drei Wünsche davon entfernt, das perfekte Leben zu haben. Der Wachmann: in anderthalb Minuten hier. Kapiert?«

»Aber so etwas gibt es nicht«, setzte Chrissy nun an. Sie wusste nicht, ob die Frau vor ihr vielleicht eine psychische Krankheit hatte und wollte weiß Gott nicht unsensibel mit ihr umgehen, aber sie sollten beide dringend aus dem Schuhgeschäft verschwinden. John wäre sicherlich weniger wütend, wenn er sie vor der Ladenreihe entdecken würde. Chrissy würde einfach behaupten, Niani sei eine Freundin und sie hätten die Zeit vergessen.

»Meine liebe Evi«, flüsterte Niani nun und klang dabei verärgert, »wir haben keine Zeit für eine Grundsatzdiskussion, die du verlieren wirst.«

Chrissy zuckte zusammen, als die Frau den Spitznamen aussprach, den ihr ihre Mutter gegeben hatte. Die Erwähnung machte sie wütend, ebenso wie die überhebliche Art dieser Verrückten, sodass sie mit unterdrückter Stimme entgegnete: »Schön, ich spiel dein Spiel mit. Ich wünsche mir, dass ich reich bin. Und jetzt raus hier.«

»Hmmm«, Chrissy verzog das Gesicht und hob den Finger, »weil es dein erster Wunsch ist, habe ich die Erlaubnis, dir einen Rat zu geben. Du musst es präzisieren, dieses ›reich‹. Reich an was? Liebe?«

»Reich an Geld natürlich«, zischte Chrissy, »was denn sonst?«

»Hm«, machte Niani wieder nur, diesmal allerdings wesentlich kürzer, während Chrissy begann, sie durch den Laden zu schieben. »Ich hätte nicht gedacht, dass du eine von dieser Sorte bist. Aber gut, dein Wunsch sei mir Befehl. Reich an Geld sollst du sein.« Und dann schnippte sie Chrissy mit ihren langen, hellblau lackierten Fingernägeln zweimal gegen die Stirn.

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