Kapitel 1
Chrissys Meinung nach gab es nur wenig gute Dinge an Weihnachten.
Eines davon war, dass Schokolade im Überfluss existierte. Selbst wenn die meisten sie nicht so zu schätzen wussten wie das restliche Jahr über – billig produzierter Weihnachtsmänner sei Dank –, so erzielte sie dennoch riesigen Umsatz und konnte mehr Menschen beraten. Es kamen verzweifelte Seelen in ihre Confiserie, die noch Mitbringsel für ihre Schwiegereltern brauchten, andere, die ihren Kolleg:innen oder Vorgesetzten eine Kleinigkeit als Dank überreichen wollten. Chrissy war wegen ihres Verkaufstalents in der Lage, die Einkaufstüten dieser Kund:innen binnen weniger Minuten zu füllen – ohne, dass auch nur eine Schachtel davon das gesuchte Geschenk war.
Chrissy liebte es, wenn sie es schaffte, den richtigen Geschmack all dieser verschiedenen Menschen zu treffen. »Schokolade mit Rosmarin? Wer ist denn auf so eine hirnrissige Idee gekommen?« Diesen Satz hörte sie oft, aber nicht weniger oft schlossen sie genießend die Augen, wenn das herbe Zartbitter auf der Zunge zerging, und öffneten sie überrascht, wenn die würzigen Rosmarinblätter ihre Wirkung entfalteten.
»Du weißt, dass wir mega Ärger kriegen werden, oder?« Jenna lehnte neben ihr an der Ladentheke und sah hinaus, wo ein junger Mann aus dem Headquarter ihrer Confiserie-Kette stand und telefonierte. Er war seit einer halben Stunde da und hatte es noch nicht in den Laden geschafft, weil er permanent am Telefon hing. Manchmal redete er energisch auf die Person am anderen Ende der Leitung ein. Andere Male hielt er sich die freie Hand auf das linke Ohr und strafte Vorbeikommende im Einkaufszentrum mit bösen Blicken, als hätten sie alle wegen ihm leise zu sein.
»Ich kriege den Ärger. Das passt schon.«
»Und was, wenn du deinen Job verlierst?«, flüsterte Jenna, damit eine ältere Kundin sie nicht hörte, die sich gerade von ihrer Schüleraushilfe Kevin eine Pralinenschachtel schick verpacken ließ.
»Deshalb soll ich meinen Job verlieren?« Chrissy sah ihre Angestellte irritiert von der Seite an. »Wir haben fantastische Umsatzzahlen, seitdem sie mich letztes Jahr zur Filialleiterin gemacht haben. Ich glaube nicht, dass der Haken so groß ist. Außerdem ist schon Mitte Dezember, jetzt lohnt sich der Stress praktisch nicht mehr.«
»Abwarten ...«, murmelte Jenna und richtete sich mit einem charmanten Lächeln auf, als Mister Hochwichtig endlich den Laden betrat.
Es kam ähnlich, wie sie erwartet hatten. Er war nur zwei Schritte gegangen, dann sah er sich ungläubig um. Seine Stirn lief rot an, als er ihnen schließlich den Blick zuwandte. »Wo ist die Dekoration?«, fragte er langsam mit drohendem Unterton.
»Welche Dekoration?« Chrissy stellte sich dumm, obwohl sie wusste, dass es nichts nützte.
»Die ...« Er holte tief Luft und blies sich dabei auf wie ein Kugelfisch. »Die Weihnachtsdekoration!«
»Die ganze Mall hängt voll davon«, entgegnete Chrissy nun. »Ich glaube, es tut allen Augen gut, wenn man hier nicht von hässlichen Plastikkugeln geblendet oder von kitschigen Figuren bedrängt wird.«
»Hässlich ... und kitschig?« Er verzog die Oberlippe, sodass man seine makellosen Zähne sehen konnte. Der Mann im Anzug, dessen Name sie schon kurz nach der Ankündigung aus dem Headquarter wieder vergessen hatte, strahlte alles aus, was Chrissy von solchen Männern erwartete. Fast fand sie das schade, denn es war doch irgendwie langweilig. Wäre ein flippiger Vierziger mit bunten Haaren und ausgelatschten Schuhen gekommen – oder eine Frau – hätte sie sich vielleicht zu etwas überreden lassen.
Nun aber betrachtete sie mit resignierter Miene, wie er schockiert seinen schwarzen, ledernen Aktenkoffer neben der Ladentheke abstellte und mit hektischem Blick durch den Laden schritt. »Die Adventskalender? Und die Geschenkboxen? Wo sind die?« Er drehte sich um und zeigte auf den großen Tisch in der Mitte. »Und was soll das? Das ist nicht die richtige Auslage! Sie sollten mehrere Fotos zu diesem Thema erhalten haben.«
»Oh, die habe ich bekommen. Aber ich fand sie bescheuert.«
»Bescheuert?«, keuchte der HQ-Beauftragte nun und fasste sich an die Brust, als hätte sie ihn persönlich beleidigt. »Das sind interne Vorgaben, da brauchen Sie keine eigene Meinung zu haben!«
Aber Chrissy hatte eine Meinung dazu und als man ihr vor einem Dreivierteljahr zugesichert hatte, dass sie die Filiale nach ihren Vorstellungen leiten könnte, hatte sie das durchaus ernstgenommen. Ihre Vorstellungen beinhalteten die absolute Vermeidung von weihnachtlicher Deko und gefördertem Kapitalismus. Sie hatten genug Pralinenschachteln und Geschenkboxen, warum mussten noch mehr dazukommen, deren einziger Unterschied eine grün-rote Schleife und ein bisschen Glitzer waren? Vom höheren Preis mal abgesehen.
Weil Chrissy nicht antwortete, schweiften die Augen des Anzugtypen weiter durch den Laden und blieben schließlich an dem Pappaufsteller hängen, der neben der Kasse stand. Sein Kiefer klappte herunter. »Das ist nicht Ihr Ernst.« Mit hochgezogenen Augenbrauen las er vor:
»SCHENKEN SIE DENEN, DIE NICHTS HABEN
Kaufen Sie eine exklusive Schachtel Pralinen zum Aktionspreis
und wir geben sie weiter an die Food Bank«
»Toll, oder?«, sagte Chrissy sofort, bevor er seinen Senf dazugeben konnte. »Wir waren vor zwei Tagen schon einmal dort, weil wir so viele Boxen hatten. Und nur zu Ihrer Info: Wir haben im November einhundertfünfzig der Adventskalender an Kinderhospize gespendet.«
Das war die andere gute Sache an Weihnachten; dass die Leute ihren Reichtum plötzlich teilen wollten. Spendensummen waren nie so groß wie in den Wochen vor Heiligabend, wenn sich die Privilegierten bewusst wurden, dass nicht jeder seinen Kindern einen Haufen Geschenke machen konnte. Dass manche nicht mal ein Dach über dem Kopf hatten, geschweige denn eine Familie oder Freund:innen, mit denen sie das Fest feiern konnten. Und Chrissys Aktion mit den Geschenkboxen war gut angenommen worden, die Bedürftigen an der Tafel hatten sich riesig über die hochwertigen Pralinenschachteln gefreut.
»Sie haben Adventskalender verschenkt?« Nun schnappte er wie ein Fisch an Land nach Luft. »Hatten Sie dafür die Genehmigung der Geschäftsleitung?«
»Es ist alles sauber abgerechnet worden, keine Sorge«, gab Chrissy mit einem spitzen Lächeln zurück. »Jeder Adventskalender wurde bezahlt.« Und zwar von ihr. Sie hatte ein ganzes Monatsgehalt dafür aufgewendet – und das erst, nachdem sie die Erlaubnis bekommen hatte, die Adventskalender am letzten Novembertag mit Rabatten zu versehen. Aber das war es absolut wert gewesen; Jenna schwärmte noch heute von den glücklichen Kindern, die die Kalender in den Hospizen ausgepackt hatten.
»Und trotzdem«, er stemmte die Hände in die Hüften und sah sich ein weiteres Mal in der weihnachtsfreien Zone um, »verstoßen Sie gegen Firmenrichtlinien. Sie können nicht einfach entscheiden, keine der saisonalen Waren offiziell zu verkaufen.«
Ich habe es trotzdem getan, hätte Chrissy am liebsten geantwortet, aber sie schwieg stattdessen. Sie konnte dem Typen ansehen, dass er noch etwas anderes zu sagen hatte, und jetzt, wo sich langsam ein Lächeln an seinen Mundwinkeln entwickelte, schwante ihr Böses.
Zurecht.
»Wenn es nicht sowieso vollkommen egal wäre, hätte ich Sie feuern lassen.« Er griff mit einem zufriedenen Schnalzen seiner Zunge nach seiner hässlichen Aktentasche und drehte sich dann auf seinen fein polierten Anzugschuhen ein letztes Mal zu Chrissy. Mit einem genüsslichen Grinsen sagte er: »Wir müssen leider ein paar Filialen im Umkreis schließen, vor allem die, wo die Ladenmieten zu horrend sind. Die Entscheidung ist soeben auf Ihre Filiale gefallen, Miss Keller. Schönen Tag noch.«
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