Kein Abschied (20)

Katalia hatte schon nach dem Tod ihres Vaters die Erfahrung gemacht, dass seelischer Schmerz physisch spürbar war. Alles tat weh. Ihr Bauch, ihre Kehle, ihr Brustkorb, ihre Augen, ihr Herz.

Erst Vater, jetzt auch noch Mutter. Was hatte sie bloß getan, um das zu verdienen?

Eine Weile lang hatte sie einfach nur auf dem Boden gelegen und geweint. Geweint, als wäre ihre Mutter schon tot.

Irgendwann hatte sie keine Tränen mehr, blieb aber trotzdem zusammengerollt an der Wand liegen.

Erst als Mutter leise ihren Namen rief, hob sie endlich den Kopf.

,,Katalia, mein Liebling."

Nachdem die Doktorin gegangen war hatte Mutter sich wieder hingelegt. Sie lag auf dem Rücken, doch ihr Kopf ruhte auf der Seite, Katalia zugewandt.

,,Komm her."

Mit einer Kraft von der Katalia nicht geglaubt hatte sie noch zu haben, krabbelte sie über den Boden zu ihrer Mutter. Sie legte sich neben sie und ergriff ihre Hand.

,,Mutter..." murmelte sie. ,,Es tut mir so Leid... Bitte verzeih mir..."

,,Wie bitte?" Mutters Stimme war sanft wie die Nüstern eines Pferdes. ,,Was redest du da? Was soll ich dir verzeihen?"

,,Das ich es nicht vermocht habe dich gesund zu machen." Katalia vergrub ihr Gesicht an der Schulter ihrer Mutter und sog den vertrauten Geruch ein. Sie konnte einfach nicht aufhören zu weinen.

,,Aber nicht doch!" Mutter strich ihr übers Haar. ,,Es ist nicht deine Schuld, du hast dein Bestes gegeben! Du hast mich sechs Monate lang gepflegt, gefüttert und gewaschen und Geld aufgetrieben... Das alles war mehr als hart für dich und das ist mir bewusst! Kein Mädchen in deinem Alter sollte so etwas tun müssen."

,,Kein Mädchen in meinem Alter sollte beide Eltern innerhalb desselben Jahres verlieren." Konterte Katalia kläglich.

Sie fühlte wie die Hand ihrer Mutter ihre drückte. Ganz leicht nur.

,,Aber mein Kind, wir alle müssen sterben."

,,Ja, aber warum du?! Warum so?!" Auf einmal war Katalia wütend. Sie setzte sich auf. ,,Du hättest ein besseres Leben verdient!"

,,Ich hatte ein gutes Leben." Entgegnete Mutter ruhig.

Katalia schnaubte. ,,Oh Bitte! Du hast deinen Ehemann und dein ungeborenes Kind verloren. Deine Familie hat dich verstoßen, du hast den Großteil deines Lebens in Armut verbracht und der Himmel weiß ob dein Sohn überhaupt noch lebt!"

Mutters Unterlippe zitterte.

Sofort schämte Katalia sich, sie hätte nicht laut werden dürfen. Außerdem bestand das, was sie in dieser Situation vermutlich tun sollte, darin, ihre Mutter zu trösten und ihr die Angst vor dem Tod zu nehmen, doch dazu konnte Katalia sich beim besten Willen nicht durchringen. Sie hatte immerzu, seid sie denken konnte, ihr Bestes gegeben stark zu sein. Jetzt konnte sie einfach nicht mehr.

,,Nun, immerhin habe ich etwas erlebt. Ich kann nicht behaupten, dass ich jemals gelangweilt war." Sagte Mutter nach einem Moment Bedenkzeit.

Sie sah ihre Tochter an und schmunzelte.

Katalia blieb ernst. ,,Aber Mutter, wenn du in der Zeit reisen könntest... Würdest du trotzdem mit Vater gehen? Nachdem du nun gelernt hast wie das enden würde?"

Nervös blinzelte sie ihre Mutter an. Sie wusste nicht wieso sie das fragte, oder welche Antwort sie erwartete.

Mutter ließ sich Zeit mit der Antwort.

,,Beginne nie eine Frage mit dem Wort "Wenn", mein Kind." Sagte sie schließlich. ,,Dieses Wort zeigt, dass etwas bereits passiert es und du es nicht mehr ändern kannst. Über Abzweigungen nachzusinnen, an denen du längst vorbei gelaufen bist hat noch keinem Reisenden geholfen."

,,Ja, aber ich frage doch lediglich." Katalia umklammerte ihre Knöchel und wippte mit dem Oberkörper vor und zurück. ,,Welches Unglück kann denn von einer Frage kommen?! Glaubst du nicht du wärst lieber bei deiner Familie geblieben und hättest Vater gehen lassen?"

,,Nein." Seufzte ihre Mutter. ,,Das hätte ich nicht."

,,Warum nicht?"

Sie zuckte mit den Schultern. ,,Was wäre wohl passiert, wenn ich nicht schwanger geworden wäre? Wenn ich nicht mit deinem Vater gegangen wäre? Meine Mutter hätte mir einen Ehemann ausgewählt, den ich nicht hätte lieben können, weil mein Herz bereits deinem Vater gehörte. Ich hätte den Rest meines Lebens in Reichtum, doch in Unzufriedenheit verbracht, jede Minute lang von der Frage gequält, was wohl passiert wäre, wäre ich damals mit meinem Geliebten gegangen."

,,Davon abgesehen..." Mutter griff nach Katalias Hand. ,,Hätte ich dich nicht gehabt."

Katalia sah verlegen auf ihre Finger. ,,Und das wäre so ein Verlust gewesen?"

,,Aber Natürlich! Du bist mein ganzer Stolz, das weißt du doch." Mutter drückte ihre Hand.

Katalia sagte nichts. Sie fühlte sich nicht wie jemandes ganzer Stolz. Sie fühlte sich wie eine Diebin, beziehungsweise momentan wie ein Häufchen Elend.

Mutter redete weiter. ,,Katalia, Wir entscheiden uns nicht grundlos für Dinge. Auch wenn wir eine Entscheidung bereuen sollten, wenn wir auf sie zurückblicken, in dem Moment wo wir sie gefällt haben, hatten wir unsere Gründe. Vergiss das nicht."

,,Ist gut." Murmelte Katalia.

Eine Weile lang herrschte Stille.

,,Wirst du das Gift nehmen, Mutter?" Fragte Katalia schließlich leise. ,,Denn, wenn du es tust, dann werde ich es auch nehmen. Ich werd dich nicht allein lassen!"

Entsetzt starrte ihre Mutter sie an. ,,Was redest du da? Das vergisst du besser sofort!"

Katalia presste die Lippen zusammen und wiederholte stur ihre Frage. ,,Wirst du das Gift einnehmen?"

Mutter seufzte und blickte zu Boden. ,,Ja, ich werde von dem Gift Gebrauch machen. Noch nicht sofort, nicht morgen, nicht am Tag danach, aber schlussendlich."

Sie hob den Blick und begegnete dem ihrer Tochter. Ihre großen Augen waren zutiefst traurig, aber entschlossen.

,,Um ehrlich mit dir zu sein, mein Liebling, hat mich das Urteil der Doktorin erleichtert. Geschockt zwar, aber auch erleichtert. Ich bin ihr dankbar, dass sie mir das Gift überlassen hat."

,,Was?" Fragte Katalia geschockt. ,,Warum? Ich dachte du wolltest wieder gesund werden!"

Mutter schloss die Augen. ,,Ich bin müde, Katalia."

,,Dann schlaf!"

Katalia wusste, dass ihre Mutter nicht diese Art von Müdigkeit gemeint hatte, aber sie wollte es nicht wahrhaben. Am Liebsten hätte sie geschrien und mit dem Fuß aufgestampft wie ein Kind. Wie konnte Mutter sterben und sie allein lassen wollen?

,,Ich bin des Lebens müde, mein Kind. Die letzten sechs Monate konnte ich wegen der Krankheit kaum stehen und ohne meinen Mann an meiner Seite ist jeder meiner Atemzüge leer. Der einzige Faden mit dem ich noch an meinem Leben hänge bist du."

Katalia hob das Kinn. ,,Dann werde ich mir dir gehen. Lass uns das Gift gemeinsam nehmen!"

,,Das wird nicht passieren! Schlag dir das aus dem Kopf!" Mutters Stimme war überraschend scharf. ,,Hör mir zu Katalia! Du wirst die Worte deines Vaters nicht vergessen. Du bist sehr jung, grade einmal 15 Jahre alt, dein Leben liegt noch vor dir und ich werde nicht zulassen, dass du es wegwirst!"

,,Dasselbe könnte ich dir auch sagen." Erwiderte Katalia bockig. ,,Du bist auch noch jung, noch keine vierzig. Vater würde genauso wenig wollen, dass du dein Leben wegwirst."

Eine Prise von Ungeduld schlich sich in Mutters Stimme. ,,Ich würde auch ohne das Gift nicht mehr lange leben, versteh das doch endlich!"

Katalia senkte den Kopf und begann erneut zu weinen. Die Tränen rollten ihre Wangen hinab und tropften ihr in den Schoß.

Mutter seufzte. Sie schlug die Decke zurück und setzte sich mühsam auf. ,,Komm her."

Katalia kuschelte sich in ihre Arme und kam langsam zur Ruhe. Ihr Schluchzen ließ nach und müde schloss sie die Augen. Die Dunkelheit hinter ihren Lidern war ihr nur allzu willkommen. Eine heiß ersehnte Flucht von der Realität.

Mutter strich ihr übers Haar. ,,Wirst du mir morgen einen Gefallen tun?"

,,Welchen?"

,,Könntest du Nilia und Martinus aufsuchen und ihnen die Neuigkeiten überbringen?"

Katalias Herz setzte einen Schlag aus. Ihr wurde kalt. Wie sollte sie die Nachricht von Mutters baldigem Tod über die Lippen bringen ohne zusammenzubrechen? Sie würde vor Nilia und Martinus auf den Boden sinken und anfangen zu weinen, sie sah es vor sich.

Katalia setzte ein Lächeln auf und öffnete die Augen. ,,Sicher kann ich das."

,,Ich danke dir. Lade Nilia ein vorbeizukommen sobald es ihr möglich ist."

,,Wieso denn das?''

Mutter lächelte sanft.
,,Wie könnte ich diese Welt mit gutem Gewissen verlassen wenn meine beste Freundin mit mir zürnt? Ich werde mich mit Nilia vertragen und Lebewohl sagen."

Katalia nickte. Ihr war speiübel, aber sie zwang sich zur Ruhe. ,,Ich werde sie gleich morgen früh aufzusuchen."

Morgen. Sie klammerte sich an dieses Wort. Es würde ein Morgen geben. Das hier war kein Abschied. Es würde ein Morgen geben und Katalias Mutter würde morgen noch da sein.

Katalia würde Morgen zu Nilia gehen und ihr die Nachricht beherrscht und ruhig übermitteln. Sie konnte das. Sie musste es können. Für ihre Mutter.

Mit diesem Gedanken schloss das Mädchen erneut die Augen.

Hey, ich wollte mich mal wieder melden um 2 Sachen zu sagen.

1. Yayy Zwanzigstes Kapitel, ein weiterer Meilenstein!

2. Ich hatte mir lange Gedanken darüber gemacht, wie ich Katalias Gefühle angesicht des Verlustes am Besten beschreiben soll. Leider ist es mir im Endeffekt sehr leicht gefallen, weil ich einfach auf meine eigene Trauer zurückgegriffen habe. Vor einigen Wochen hat mein bester Freund Suizid begangen, etwas womit ich nie im Leben gerechnet hätte.

Deswegen möchte ich euch an dieser Stelle bitten, auf jeden Fall Hilfe zu suchen und mit jemandem zu reden, falls ihr Suizidgedanken haben solltet. Und kümmert euch um eure Freunde, manchmal bemerkt man nicht wie sehr jemand leidet.

Danke für's Lesen! Kommentieren und voten wär super!

Tschüss:)

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