Eine Rückkehr (31)

Der Winter in Dun war weder besonders lang noch besonders kalt, doch er rückte näher. Und das halb zerfallene Haus, in dem Katalia noch immer die meisten Nächte verbrachte, war mit seinen steinernen Wänden und mit Holz vernagelten Fensternischen nicht dafür gemacht kaltem Wetter standzuhalten.

Deswegen machte sich Katalia eines Tages, ein paar Wochen nach ihrem Treffen mit Martinus, auf dem Weg dorthin, um ihre Sachen zu holen. Sie würde in Eiwies Haus, in der Kammer neben der Küche, bei den anderen Sklaven schlafen bis es wieder wärmer wurde. Das es ihr überhaupt erlaubt war außerhalb des Hauses zu schlafen empfanden diese als höchst befremdlich. "Deine Herrin hat ein weiches Herz." Pflegten sie zu sagen. "All diese Freiheiten die sie dir gebiert! Sie ist nicht nur schön sondern auch gütig."

Eiwie hatte es gefallen davon zu hören. "Es ist immer gut Leute auf seiner Seite zu wissen. Wenngleich es nur Sklaven sind." Sagte sie. "Achte stets darauf wie die Leute im Haus dich behandeln. Wie sie das Mädchen behandeln, von dem sie glauben das es meine Leibssklavin ist, wird zeigen wie sie von mir denken."

Katalia bog in die Gasse ein in der sich ihr Zuhause befand. Je mehr Zeit sie inmitten von Marmorpalästen mit Mosaikgeschmückten Wänden und beheizten Fußböden verbrachte, desto schäbiger kamen ihr die Orte vor in denen sie aufgewachsen war. Nichtsdestotrotz fühlte es sich gut an durch die schmale, verdreckte Gasse zu schlendern. Es war ein Stück Vertrautheit. Ein Stück Kindheit. Ein Stück von ihrem alten Leben.

Manchmal, wenn sie die Tür vom Haus öffnete, an der sie inzwischen ein Schloss angebracht hatte, kam es ihr so vor als müsste ihre Mutter dort drin sein und auf sie warten. Sie wusste das es nicht so war, aber jedes Mal hoffte sie es trotzdem.

In den letzten eineinhalb Jahren hatte sich das Innere des Hauses praktisch nicht verändert. Der einzig neue Gegenstand war eine dreifach mit Stoff umwickelte, sorgfältig versteckte Büchse aus Stahl, in der Katalia ihre Ersparnisse aufbewahrte.

Von ein paar alten Sachen hatte sie sich getrennt. Das getöpferte Geschirr zum Beispiel hatte sie Martinus' Familie überlassen. Sie wusste, dass Nilia sich danach sehnte etwas von Katalias Mutter zu besitzen. Es wäre nicht von Bedeutung was. Einfach etwas das ihre Finger einst berührt hatten.

Katalia seufzte als sie an Nilia dachte. Diese Frau hatte sie wahnsinnig gemacht, in den ersten Monaten nach Arinas Tod. Immerzu hatte sie Katalia mit Fragen und Mitleid überschüttet. Wie es ihr ginge, ob sie nicht reden wolle, dass sie bei ihnen wohnen könne. Einmal war Nilia sogar direkt vor Eiwies Haus aufgetaucht, um Katalia abzufangen. In ihr ärmliches Tuch gehüllt, die schwarzen Augen in dunkle Schatten gebettet hatte Nilia Katalia erzählt, dass sie sich entgültig von ihrem Ehemann getrennt hatte. "Ganz so wie deine Mutter es wollte!"

,,Werden all deine Freundinnen sterben müssen, für dich, damit du auf ihren Rat hörst?" Hatte Katalia gefragt. Nilia war in Tränen ausgebrochen und hatte sich abgewendet. Seitdem hatte Katalia sie nicht wieder gesehen.

Als allererstes räumte Katalia nun mit zielsicheren Bewegungen die verschieden großen Steine in der Ecke des Zimmers beiseite. Ein Kochtopf kam zum Vorschein, von dem sie den Deckel entfernte. Unter einer dünnen Schicht von Nussschalen und anderen Küchenabfällen befand sich ein zusammengeknülltes Hemd und darunter lag die Büchse. Katalia hob sie hoch und merkte befriedigt wie schwer sie war. Schwer und verheißend scheppernd.

Was noch sollte sie mitnehmen? Katalia sah sich suchend im Raum um. Den großen Kessel villeicht, der immerhin aus Eisen war? Aber was sollte sie damit, er würde nur Platz wegnehmen. Katalia kaute an ihrer Unterlippe. Sie könnte ihn Martinus überlassen oder auf dem Marktplatz verscherbeln.

Soweit sie wusste war Nilias Bedarf an Kesseln gedeckt, aber der den sie benutzte war doch bereits reichlich verbeult, wenn sie sich recht entsinnte?! Doch wenn sie Nilia Zuhause antreffen würde wenn sie den Kessel vorbeibrachte, dann würde sie gezwungen sein mit ihr zu reden. Katalia beschloss den Kessel mitzunehmen und ihn auf dem Rückweg irgendwo zu verkaufen. Es war zwar schon später Abend, aber nie zu spät um Geschäfte zu machen.

Ein Geräusch aus Richtung der Tür riss sie abrupt aus ihren Gedanken. Es war ein Klopfen. Mit einem Satz war Katalia aufgesprungen und hielt das kleine Messer in der Hand das sie sich zugelegt hatte.

Sie wagte nicht zu atmen. ,,Wer ist da?" Rief sie scharf.

Es klopfte erneut. Ein Schaben ertönte, als würde die Person draußen versuchen die Tür aufzustemmen. Katalia gratulierte sich im Stillen für ihre Entscheidung ein Schloss zu kaufen. Es fiel ihr nicht leicht Geld auszugeben und sie hatte lange Zeit damit gehadert ob es sich überhaupt lohnte. Spätestens jetzt hatte sie ihre Antwort.

,,Martinus bist du's?" Fragte sie. Darauf bedacht ihre Stimme nicht zittern zu lassen.

Martinus arbeitete um diese Zeit meist noch auf dem Eselgestüt oder war bereits Zuhause und schlief. Er hatte eigentlich keinen Grund sie hier und jetzt aufzusuchen. Es sei denn es wäre etwas passiert...

,,Mach auf!" Rief es von draußen. ,,Ich bin es!"

Etwas an der tiefen Stimme kam Katalia bekannt vor. Aber es konnte nicht sein... Es konnte einfach nicht sein...

Das Messer gezückt schlich sie sich zur Tür. Mit zittrigen Händen kramte sie den Schlüssel von ihrem Gürtel und steckte ihn ins Schloss. Möglichst geräuschlos drehte sie ihn um, um dann die Tür mit aller Wucht aufzureißen.

Keuchend starrte sie dem ungeladenen Besucher ins Gesicht.

Er war gewachsen, das war das erste was ihr auffiel. Sie musste den Kopf in den Nacken legen um ihn anzusehen. Fast alles an ihm war anders. Als er gegangen war, war er so dürr gewesen, dass seine Freunde ihn "Zweig" genannt hatten. Wenn er damals ein Zweig gewesen ist, so ist er jetzt ein Baum, dachte Katalia fassungslos.

Ihr Bruder war muskelbepackt und breit wie ein Felsen. Seine einst blasse Haut war nun sonnenverbrannt und von bräunlicher Farbe. Er trug eine Rüstung und sein Kopf war auf Soldatenart kahl geschoren worden.

Einzig seine Augen hatten sich nicht verändert. Es waren schwarze, glänzend kluge Augen. Die Augen ihres Vaters. Sie waren typisch für Leute aus nördlich von Dun gelegenen Dörfern und für fahrende Händler. Von Außenstehenden wurden sie manchmal "Krähenaugen" genannt.


Ihr Bruder war der Erste der das Schweigen brach. In einem beiläufig gut gelaunten Plauderton fragte er: ,,Hallo, Katalia! Wo ist Mutter?"

Sie antwortete indem sie das Messer nach ihm warf.

Seine Schulter grade noch rechtzeitig nach innen drehend lachte er auf. ,,Oh Katalia, Katalia. Du hast immer noch das Temperament eines jungen Pferdes, wie ich sehe."

,,Und du hast die Intelligenz eines Esels!" Spieh sie zurück. ,,Wo warst du? Wir alle dachten du wärst tot!"

,,Ein paar Mal war ich dem Tod auch recht nah." Er zuckte mit den Schultern. ,,Aber noch ist meine Zeit zu sterben nicht gekommen, nehm' ich an."

Er lächelte und entblößte eine Zahnreihe in der einige Lücken klafften. Mit dem Zeigefinger deutete er auf irgendein Abzeichen an seiner Brust mit dem Katalia nichts anfangen konnte. ,,Ich hab's vom gemeinen Mann bis zum Offizier gebracht! Jetzt bin ich auf vier Wochen beurlaubt bis ich in den Süden versetzt werde und ihr alle könnt mit mir kommen! Kannst du das glauben?! Dein Bruder, ein Offizier?!"

,,Mein Bruder, ein Feigling und Verräter!" Erwiderte sie harsch und verschränkte die Arme.
,,Wenn du denkst du könntest einfach so zurückkommen, nach all den Jahren, in denen du mich und Mutter und Vater im Stich gelassen hast, dann liegst du falsch!"

Er seufzte. ,,Es tut mir Leid. Aber bitte, können wir nachher darüber reden? Wo sind Mutter und Vater? Sind sie noch bei der Arbeit?"

Katalia wandte sich ab. ,,Sie sind tot, alle Beide!"

,,Was?" Flüsterte er. Ein geschockter Ausdruck breitete sich langsam über sein Gesicht aus. ,,Seit wann? Durch was?"

,,Mutter an einer Krankheit nach einer Fehlgeburt, Vater schon Monate vorher im Steinbruch!" Zählte sie auf. ,,Und sie wären vielleicht noch am Leben wenn du nicht gegangen wärst!" Spieh sie gehässig.

,,Ach, ich hätte also bei euch bleiben sollen?" Seine Stimme klang jetzt ebenfalls wütend.
,,Es gäbe keine, absolut keine, Perspektive für mich wenn ich hier geblieben wäre!"

Er atmete tief durch. Sein Blick suchte ihren.

,,Sieh es doch ein, Katalia. Wir waren eine bitterarme Familie die vom Land in die Stadt zog, mit der naiven Hoffnung, dass hier alles besser werden würde. Es war hoffnungslos. Wir schafften es jeden Tag kaum, den nächsten zu überleben. Wenn ich hier geblieben wäre, wäre ich vermutlich genau wie Vater im Steinbruch verendet! Aber ich habe mich anders entschieden und bin zur Armee gegangen."

,,Obwohl du wusstest was Vater davon hielt!" Schrie Katalia und ballte die Fäuste.

Sie wollte seine Entschuldigungen nicht hören. Am liebsten würde sie die Tür wieder zuschmeißen, aber er stand bereits mitten im Raum.

,,Die Armee war meine Chance! Meine einzige Hoffnung! Es war hart, aber am Ende hat sich meine Mühe ausgezahlt. Und jetzt bin ich hier, um dich zu mir zu holen und kann dir tatsächlich ein Leben bieten. Ich werde ein Haus zur Verfügung gestellt bekommen und ein paar Pferde und Sklaven. Ist das ein Grund mich anzuschreihen? Uns wird es gut gehen!"

,,Ach, und Mutter und Vater?!" Schluchzte Katalia. ,,Wenn du ein wenig früher zurückgekehrt wärst, hätte es ihnen auch gut gehen können! Ich werde nirgendwo hin mit dir gehen, da kannst du gewiss sein!"

Er seufzte. ,,Das mit Mutter und Vater ist furchtbar, Katalia! Und ich weiß, dass die letzten Jahre für dich sehr hart gewesen sein müssen. Aber ich verspreche dir, dass das jetzt ein Ende finden wird. Ich bitte dich, sei doch vernünftig und komm mit mir mit."

,,Du verfluchter, unverschämter, herzloser, wiederwärtiger, kleiner-"
Sie war noch nicht fertig. Sie wollte brüllen und ihn mit Füßen treten, dafür, dass er nicht dagewesen war, als es zählte. Aber stattdessen merkte sie wie ihr die Tränen kamen.

,,Was denkst du wer du bist, dass du einfach so zurückkommen kannst..." stieß sie hervor, während sie sich mit beiden Handrücken die Tränen aus den Augen wischte, die in viel zu rascher Folge fielen.

,,Du Schwein! Du Hund! Du Ratte! Kommst einfach so zurück... Nach all den Jahren kommst du einfach so zurück..."

Sie schüttelte den Kopf und wischte sich die Augen, nicht in der Lage ihre Gefühle und Gedanken in Worte zu fassen.

Ihr Bruder stand immer noch an der Wand und sah sie an. Traute er sich nicht näher zu kommen? Der Gedanke fühlte sich gut an. Er sollte sich auch nicht trauen! Entschlossen machte Katalia ein paar Schritte auf ihn zu.

,,Was denkst du was passieren würde? Das ich dich begrüße und willkommen heiße und dir um den Hals falle?" Verlangte sie zu wissen.

,,N-Nein." Stammelte er. Zum ersten Mal sah Katalia Unsicherheit in seinen Augen aufblitzen. ,,Ich weiß, dass ich lange Zeit nicht da wahr.... und es tut mir Leid, dass du Alles alleine bewerkstelligen musstest... Das mit unseren Eltern und überhaupt-"

,,Ganz recht!" Zischte sie eisig. ,,Das mit unseren Eltern und Überhaupt! Wer hat Mutter getröstet, nach Vaters Tod? Wer hat sie umarmt und ihre Tränen getrocknet und ihr gesagt, dass Alles schon wieder gut werden würde? Wer hat sie gewaschen und gefüttert und gepflegt, als sie krank war? Wer hat auf Marktplätzen gestohlen, um uns beide durchzufüttern? Ich! Weil du nicht da warst!"

Ihre Stimme wurde leiser. Sie weinte immer noch. ,,Ich war ein Kind! Ich... Kinder sollten nicht zusehen müssen wie ihre Eltern unter ihren Händen wegsterben!"

,,Es tut mir Leid."

Sie wandte sich ab. ,,Weißt du, was Mutter gedacht hat als sie starb?! Sie hat gedacht du wärst tot! Du hast sie in dem Glauben sterben lassen du wärst tot! Hättest du uns nichtmal eine Botschaft zukommen lassen können, wenn du nicht grade mit marschieren und Dörfer niederbrennen beschäftigt warst? Irgendein Lebenszeichen? So dass Mutter immerhin nicht annehmen musste, dass ihr ach so großartiger Sohn längst im Reich der Toten ruht?! Nicht das ich mich geschert hätte!"

,,Lass es mich wieder gutmachen, Katalia!" Sagte er flehend. ,,Ich-"

Sie hob die Hand und schnitt ihm das Wort ab. ,,Nichts da! Ich brauche dich nicht. Nicht als Bruder, nicht als Familie, nicht als Soldat und nicht als Offizier! Was ich auch nicht brauche ist dein Haus im Süden oder dein in Kriegen erplündertes Geld! Ich habe ein Dach über dem Kopf, eine bezahlte Stelle und genug zu Essen. Leb wohl, Wir werden uns nicht wiedersehen!"

Die Büchse mit ihrem Ersparten unter den Arm klemmend marschierte Katalia an ihrem Bruder vorbei nach draußen.

Kaum hatte sie ihr Messer aufgelesen rannte sie, wie sie seit Jahren nicht gerannt war.

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