Der Rest der Nacht (39)
Der Rest der Nacht kam Katalia vor wie ein einziger nicht enden wollender Alptraum.
"Halt ihn fest." Hatte Eiwie gesagt und Katalia war auf das Bett geklettert, hatte die dünnen, zweigartigen Arme gegriffen, die sie nicht hatte anfassen wollen, und ihn festgehalten. Sie schauderte bei dem Gedanken daran.
Es hatte gedauert. Nicht lange, aber sicherlich ein paar Minuten. Dimit war aufgewacht. Er hatte um sich getreten, gestrampelt, hörbar versucht nach Luft zu ringen. Er hatte sich in seinem Todeskampf gewunden wie ein Fisch auf dem Trockenen. Und Katalia hatte ihn festgehalten. So lange bis die beiden Arme schlaff neben ihm aufs Bett gesunken waren. Bis auch der letzte Rest Anspannung aus seinem Körper gewichen war.
Eiwie hatte sein Handgelenk gegriffen und es konzentriert befühlt. Dann hatte sie genickt. ,,Wir können aufbrechen." Hatte sie geflüstert. Nicht "Er ist tot. Wir haben ihn getötet." Sondern nur Wir können aufbrechen.
Sie hatte das Kissen von Dimits Kopf genommen und Katalia hatte es nicht geschafft sich rechtzeitig abzuwenden. Im Kerzenschein war sein Gesicht undeutlich gewesen. Er hatte friedlich ausgesehen. Unverändert. Als würde er schlafen.
Katalia war schlecht. Sie lief so schnell sie konnte ohne Eiwie zu überholen, die tastend den Weg zurück zum Fenster suchte.
,,Wir müssen nach links, Eiwie!" Zischte sie ungeduldig.
Es ging ihr alles zu langsam. Sie wollte nur hier raus. Sie wollte nur rennen. Jeder Muskel in ihrem Körper war angespannt. Sie hatte jemanden umgebracht. Sie hatte einen Menschen ermordet.
Nun, genau genommen war es Eiwie gewesen, doch Katalia hatte es ebenso so sehr getan, oder nicht?!
Ein saurer Geschmack machte sich in ihrem Mund breit. Die Panik in ihrem Bauch verwandelte sich in kaum auszuhaltende Übelkeit, als sie sich an Dimits letzte Momente erinnerte. Sie würgte, doch ihr Magen war leer. Das Abendessen lag jetzt schon eine ganze Weile zurück und sie hatte vor Aufregung sowieso nicht viel essen können.
Katalia hatte gedacht sie wüsste mehr als die meisten über Tod. Monatelang hatte sie ihrer Mutter zugesehen, wie sie in ihren Fieberträumen hin und her driftete zwischen Realität und Traumwelten. Leben und Tod. Doch heute hatte sie gelernt, dass die Linie zwischen den beiden Welten sehr viel durchlässiger war, der Zeitraum der Reise sehr viel kürzer, als sie gedacht hatte. Ihre Mutter hatte viele Monate, eine Fehlgeburt, eine Krankheit und ein Gift für den Übergang gebraucht, Dimit nur ein Kissen und etwa drei Minuten Zeit.
Es kam dem Mädchen unwirklich vor. Wie erfunden. Wie konnte es sein, dass so wenig ausreichte um einen Menschen aus dem Leben scheiden zu lassen? Wo vor kurzem noch ein vollständiger Mensch gelegen hatte, mit Gedanken und Gefühlen und Fähigkeiten, lag jetzt nur noch eine leere Hülle. Und sie hatte das verursacht. Sie und Eiwie.
"Wie fühlt es sich an eine Mörderin zu sein?" Fragte eine Stimme in Katalias Kopf. "Sei leise!" Entgegnete Katalia in Gedanken und dann: "schlecht."
Sie fühlte sich schlecht. Wirklich. Doch weniger wegen dem was sie getan hatte als wegen der Tatsache, dass sie sich nicht noch viel schlechter fühlte. Viel schuldiger. Stattdessen befand sie sich in Aufruhr. Ihre Gedanken hüpften von einem Thema zum anderen, wie junge Vögel.
Schon dachte sie wieder an die Arbeit, die sie morgen erwartete, an banale alltägliche Dinge, die ihr nun vorkamen wie die unwirklichsten Sachen der Welt. Sollte man ans Wäsche waschen denken, wenn man gerade einen Mann ermordet hatte?! Vermutlich nicht.
Katalia entschuldigte sich in Gedanken bei Dimit. Er müsse verstehen, sie waren erpresst worden, sie hatten keine Wahl gehabt. Wenn er es genau wissen wollte war es seine eigene Frau gewesen, die ihn umgebracht hatte und nicht Eiwie. Katalia und Eiwie hatten lediglich Beihilfe geleistet. Sein Tod war ein unschöner gewesen, sicher, aber ein notwendiger. Was hätten sie denn sonst tun sollen? Sie hatten nach anderen Wegen gesucht, wirklich, doch am Ende kam es nun mal wie es kommen musste.
Warum musste dieser Narr denn auch ein Mädchen heiraten was mehrere Jahrzehnte jünger war als er? Das hatte er nun davon!
Dimit hatte sein Todesurteil an dem Tag unterschrieben an dem er Lela Perziwus zu seiner Frau genommen hatte. Er hatte sein Grab praktisch selber geschaufelt. Hätten Eiwie und Katalia es nicht getan hätte Lela sicher einen anderen Weg gefunden ihn aus dem Weg zu räumen. Er war ja auch schon alt gewesen. Lange hätte er so oder so nicht mehr mitgemacht.
Derlei Gedanken dachte Katalia vor sich hin, denn anders ließ es sich einfach nicht aushalten.
Sie kamen an der Küche vorbei und Eiwie legte den Finger an die Lippen. Aus dem Spalt der angelehnten Tür drangen Licht und Gesprächsfetzen. Es duftete nach Suppe.
,,Wann ist es fertig, Fionola?" Hörte Katalia Lela fragen.
Dieses Mädchen. Oben lag ihr Ehemann tot in seinem Bett und sie plauderte mit ihrer Sklavin als wäre nichts geschehen.
,,Bald, Herrin."
Eiwie gab Katalia ein Zeichen und sie huschten so lautlos wie möglich vorbei, als Lela grade zu einer Antwort ansetzte.
Sie irrten eine gefühlte Ewigkeit im dunklen Haus umher, die in Wirklichkeit nur ein paar Minuten lang war, bevor sie das zerstörte Fenster wiederfanden. Bunte Glassplitter bedeckten den Boden wie Kieselsteine ein Flussufer.
Auf Zehenspitzen lief Katalia zu dem was von dem einst so prächtigen Fenster noch übrig war. Sie versuchte in die Lücken zwischen den Scherben zu treten. Nicht ihrer Füße wegen, die steckten in festen Schuhen, sondern um keine Spuren zu hinterlassen. Lela würde wissen wer die Mörderinnen ihres Mannes waren, doch Lela war nicht diejenige die morgen die Scherben würde auffegen müssen. Das würde einer der Sklaven tun. Katalia wusste aus Erfahrung, dass Drama und Gerüchte zwischen den Bediensteten eines Haushalts so gut gediehen wie ein Haufen Maden in faulem Fleisch. Die Geschichte eines nächtlichen Fenstermörders konnte nicht nur für monatelange Unterhaltung sorgen sondern auch Katalia und Eiwie in ernsthafte Schwierigkeiten bringen.
Seufzend dachte das Mädchen, dass trotz fehlender Fußspuren in den Scherben, wohl kaum jemand naiv genug sein konnte, um ein zerstörtes Fenster im Erdgeschoss und einen ermordeten Hausherrn im Schlafgemach in ein und derselben Nacht als Zufall anzusehen. Sie konnte nur hoffen, dass keine einzige Spur zu ihr und Eiwie führen würde.
Katalia griff durch das Loch im Fenster und stützte sich auf dem Erdboden auf. Sie winkelte ein Bein an, ließ sich von Eiwie Schwung geben und hievte ihren Körper nach draußen. Die Hände ihrer Komplizin ergreifend zog sie die junge Frau ebenfalls durch das kaputte Fenster und dann rannten sie.
Sie rannten den ganzen Weg so schnell wie sie konnten. Über den Zaun kletternd, die Straße entlang, blind durch die Dunkelheit. Wolken hatten sich vor den Mond geschoben. Er leuchtete ihnen nicht mehr als hätte ihr Handeln ihn enttäuscht.
Der Wind peitschte in Katalias Ohren und das Herz wummerte in ihrer Brust. Ihre Beine schmerzten, ihre Füße auch, sie rang rasselnd nach Luft. So sicher wie sie wusste das Dimit tot war so sicher spürte sie auch das sie lebte.
Der vertraute Anblick von Eiwies Haus, im Dunkeln kaum erkennbar, war beruhigend. Doch noch waren sie nicht drinnen. Fieberhaft überlegte Katalia was sie sagen könnten, sollte sie jemand um diese Zeit hier draußen erwischen. Ein Nachtspaziergang? Schlafwandlerei? Spätestens wenn morgen die Neuigkeit von Dimits plötzlichem Tode die Runde machen würde, würde das verdächtig wirken.
Sie schlugen den Weg zu den Stallungen ein. Tasteten den Zaun ab und stöhnten vor Erleichtertung als sie das kleine Törchen wiederfanden. Katalia wünschte Gofro in Gedanken ein paar ganz besonders schöne Ausritte.
Doch ihr Glück hielt nicht lange an. Als sie grade um den Stall herumpirschten hörte Katalia auf einmal ein verschlafenes ,,Halt! Wer da?"
Sie erkannte die Stimme. Es war der Pferdebursche. Natürlich, der Pferdebursche! Zonia hatte ihr doch davon erzählt das eine der Stuten krank war und er neben ihr im Stall schlafen wolle, bis es ihr wieder besser ging. Ob sein Pflichtbewusstsein nicht bewundernswert wäre? hatte sie gefragt und ganz bedeutungsvoll geklungen. Wieso, hatte Katalia geantwortet, wir schlafen doch auch neben der Küche.
Sie war Zonias Bemühungen ihr den Pferdeburschen schmackhaft zu machen mit großer Genervtheit begegnet. Er war ihr zu jung, mit seinen knapp sechzehn Jahren. Zu rüpelhaft, zu kindisch, zu ungepflegt. Außerdem war er versklavt und sie war frei, aber das sagte sie natürlich nicht.
Jetzt trat eben jener Pferdebursche mit einer Laterne in der Hand um die Ecke. Er war barfuß, trug ein weites Schlafhemd, in seinen Haaren klebte Stroh.
,,Wer ist es?"
Geistesgegenwärtig schubste Eiwie Katalia um die Ecke. Sie fiel hinter der Stahlwand auf den Boden.
,,He, Was-"
Was hast du vor? wollte sie Eiwie fragen, die sich anschickte auf den Jungen zuzugehen. Doch vorher ließ sie ihr dunkles Tuch von Kopf und Schultern gleiten und warf es über Katalia. Eine Tarnung in der schwarzen Nacht.
,,Sei leise! Vertrau mir!"
Das hatte Katalia schon einmal getan und es war nicht gut ausgegangen. Leider hatte sie diesmal keine Wahl. Die Zähne zusammenbeißend lauschte sie Eiwies Schritten.
,,Oh!" Hörte Katalia den Pferdeburschen überrascht ausrufen. ,,Herrin, ihr seid es!"
,,Ja. Ich... Ich fand die ganze Nacht keinen Schlaf, so unternahm ich einen Spaziergang über das Grundstück, um mich zu ermüden. Ich hoffe ich habe euch nicht geweckt?"
,,Nicht doch, nicht doch!" Erwiderte der Bursche freundlich. ,,Ich wachte bei Sterni, einer kranken Stute, als ich plötzlich das Geräusch von Fußschritten vernahm. Ich dachte ich sehe nach."
Katalia fluchte lautlos. Sie waren zu nah am Stall vorbeigelaufen, einen Fehler den sie auf dem Hinweg nicht gemacht hatten. Hätten sie ein wenig Abstand gehalten, hätten sie sich den Ärger mit dem Pferdeburschen sparen können. Jetzt konnte sie nur still hier liegen und hoffen das Eiwie wusste was sie tat.
,,Selbst in tiefer Nacht habt ihr nicht gezögert eure Pflicht zu tun! Das ist lobenswert." Schmeichelte sie ihm. ,,Nun, ich will euch nicht länger stören. Der Spaziergang hat mich hoffentlich genug erschöpft um Schlaf zu finden."
Das hätte das Ende der Unterhaltung sein sollen, doch der Pferdebursche schien noch nicht bereit dazu Eiwie gehen zu lassen.
,,Bitte redet doch mit mir, Herrin! Was bekümmert euch so sehr, dass ihr nicht schlafen könnt?"
Katalia verdrehte die Augen. Hatte dieser Junge denn keine Manieren? So etwas fragte man enge Freunde, aber doch nicht seine Herrin!
Eiwie seufzte geziert. ,,Ich möchte einen beschäftigen Burschen wie euch nicht mit den niederen, abstrusen Emotionen einer jungen Ehefrau behelligen, doch wenn ihr es wissen müsst... Die Gesellschaft meines Mannes im Ehebette fehlt mir... sie fehlt mir sehr."
Katalia verzog angewidert den Mund. So etwas wollte sie nicht hören!
,,Oh." Machte der Pferdebursche. ,,Ich äh... Mein Beileid?"
Eiwie seufzte erneut. Ihre Stimme verwandelte sich in ein tiefes Hauchen. ,,Es fällt mir nicht leicht dies zuzugeben, doch wir haben doch alle unsere Triebe und einen Wunsch nach Nähe. Jetzt grade vermisse ich meinen Mann sehr... so sehr das ich nicht schlafen kann. Du solltest mich nur sehen, nachts alleine im Ehebett. Wie ich mich unruhig drehe und wende und dennoch keinen Schlaf finde, da mir die Berührung eines Mannes so sehr fehlt. Kannst du dir das vorstellen? Ich, einsam und hungrig nach Nähe im Bett liegend... nur ein dünnes Hemd am Körper... die Haare gelöst..."
Eiwies Stimme war zu Ende hin immer leiser geworden. Katalia stellte sich vor, dass sie dem Jungen immer näher getreten war, ihre Lippen an sein Ohr geneigt hatte.
,,Oh.. äh-" stammelte der Junge. Katalia konnte ihm seine Nervosität deutlich anhören. ,,Ich-"
,,Ihr könnt mir behilflich sein..." hauchte Eiwie. ,,Werdet ihr das?"
,,Ja! Natürlich." Der Pferdebursche klang immer noch nervös, aber so als könnte er sein Glück nicht fassen. ,,Es wäre mein Traum! Offengesprochen, schon als ich zum ersten Mal sah... Ich werde alles tun was ihr von mir verlangt, Herrin."
,,Gut." Eiwie hatte zu einem neutralen Ton zurückgefunden. ,,Dann bitte ich euch mich zum Haus zurückzubegleiten und dieses Gespräch nie wieder einer Menschenseele gegenüber zu erwähnen."
Der Pferdebursche zögerte bevor er leise fragte: ,,Das ist alles?"
,,Was sollte denn noch sein?"
,,Nun, ich könnte euch helfen bei euren... Schlafproblemen."
Eiwie seufzte theatralisch. ,,So verlockend dieses Angebot auch ist, ich kann es nicht annehmen. Niemals würde ich meinen Mann hintergehen! Das müsst ihr verstehen: Niemals!"
,,Ist ja gut." Murmelte der Pferdebursche, offensichtlich zutiefst enttäuscht. ,,Dann werde ich euch nun zum Haus zurückbegleiten, Herrin."
Er setzte sich in Bewegung. ,,Es ist nicht sicher für eine schöne Dame allein in der Dunkelheit. Nächstes Mal wenn ihr nachts rausgeht, Herrin, nehmt zur Sicherheit eure Sklavin mit."
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