III
Der Dschungel
Die letzten Kindergartentage schmolzen dahin. Die Neue dachte scheinbar wirklich sie sei eine Prinzessin. Ständig störte sie mich beim Spielen und quatschte mich voll. Ich verstand ihre Worte nicht, denn Schneewittchen sprach kroatisch, wie ich später erfuhr. Sie und ihre Familie waren vor dem Krieg geflohen, was auch immer das bedeuten mochte. Es interessierte mich nicht. Ich wollte ja in erster Linie meine Ruhe.
Die Sommerferien waren da und ich freute mich auf die Schule. Ich sah das Gesicht der Lehrerin schon vor mir und hörte sie sagen: »Ohh, du kannst ja schon lesen und schreiben, du bist aber ein schlaues Mädchen!« Ich spürte wieder meine Krabbeltiere im Körper.
Doch zuerst stand Freiheit auf dem Plan. Es gab einige Lieblingsplätze, wo ich mich häufig rumtrieb. Mein allerliebster Platz war nicht weit von unserem Haus entfernt. Der Kastanienbaum. Genau genommen, waren es mehrere Kastanien, die beisammenstanden und unter dem Hügel war eine Fledermaushöhle. Die war ziemlich gruselig, vor allem das dicke Eisentor davor. Es sah aus wie ein Gefängnis.
Oben auf dem Hügel war ein Kastanien-Dschungel. Die Blätterkronen glichen einem Zeltdach. Die überirdischen Wurzelgebilde ragten aus der Erde heraus wie hunderte Schlangen, die sich verschlingelten und umherkrochen. Die Zweige reichten tief und formten geheimnisvolle Höhlen.
Es war ein gigantisches Versteck. Ein Paradies für Abenteurer und das Tor zu einer anderen Welt. Hier trafen sich die Kinder der Siedlung − natürlich nur die Wilden, nicht die Langweiler. Die blieben schön brav in ihren eingezäunten Gärten sitzen. Ließen sich ihr Säftchen und ihre Kekse von Mamilein servieren und mussten zum Mittagsschläfchen wieder ins Haus. Oje, arme kleine Babys.
Wir dagegen kämpften mit Schlangen, Tigern und Monstern. Wir beobachteten zwielichtige Gestalten und bombardierten sie mit Kastanien. Die wilden Tiger gab es wirklich. Sie versteckten sich in den Bäumen und lauerten uns auf. Dann stürzten sie wie aus dem Nichts heraus und schlugen uns ihre Krallen ins Fleisch.
Doch meistens lagen sie nur schnurrend auf meinem Schoß und ließen sich kraulen − wie jetzt gerade. Ich hatte Mizielein eine Wurst gegeben und nun schlief sie zufrieden.
Gedankenverloren streichelte ich das warme Fell der Katze. Es leuchtete braun, wie die Kastanien, und die Schatten der Blätter tanzten auf ihrem Bauch. Die Hitze mischte sich unter die staubige Erde und die Sonnenstrahlen kitzelte meine Nase.
Ich hatte mir eine gute Höhle ausgesucht. Weit oben, am Rand des Dschungels. Hinter mir führte der Weg nach oben zu Markos Haus und vor mir ging es etwa drei Meter weit runter.
Ich schloss meine schweren Lider und mein Körper wurde zur Wurzel, als plötzlich ein Geräusch in mein Ohr drang. Ich hörte ein Knacksen, riss sogleich meine Augen auf und spähte durch ein Fenster im Blätterdickicht.
»Schscht!«, machte es. "Hey, Hanna, wo bist du?" Es raschelte nicht weit entfernt von mir. Ich konnte Umrisse erkennen. Rot hinter grünen Blättern.
Die Katze sprang von meinem Schoß und verschwand auf die Straße hinter mir. Ich rappelte mich auf und hielt die Luft an. Wer störte mich jetzt hier? Verdammt, nirgendwo konnte man mal in Ruhe vor sich hinträumen.
Das rote Ding kam raschelnd näher. Dann erschien ein Mondgesicht mit roten Bäckchen und schiefem Grinsen zwischen den Ästen. Oh nein! Susi schon wieder.
"Hey, da bist du ja!", quakte sie und entblößte ihre Zahnlücken. Ihre Augen waren nur mehr Schlitze. Dann schob sie ihren kleinen runden Körper in meine Höhle hinein und baute sich vor mir auf.
Ich musste immer noch an fliegende Steine denken, wenn ich Susi sah. Sie ließ sich neben mich plumpsen und griff nach meinem Rucksack. »Was hast 'n da drin?«, fragte sie und lugte hinein.
»Heyy«, protestierte ich. Mann, war die verfressen. Schlimmer als der Tiger hier.
Beleidigt ließ sie von dem Rucksack ab und verschränkte ihre Arme vor der Brust.
Susi sah schrecklich aus. Dieses Kleid − wir hatten doch keinen Fasching. Sie wollte immer wie eine Dame aussehen. Oft schminkte sie sogar ihre Lippen und Nägel und stöckelte mit den Schuhen ihrer Mutter herum. Na gut, ich geb's zu, manchmal machte ich mit.
»Stell dir vor, wer da unten rumstrawanzt«, flüsterte sie.
»Was? Wer?«, fragte ich. Susis Worte waren wie ein Eimer kaltes Wasser über meinem Kopf.
»Die Ausländerin«, antwortete sie. »Da unten, bei der Fledermaushöhle.«
»Was macht sie da?«
»Keine Ahnung! Hat nichts gesagt.« Susi zupfte an ihrem Kleid herum und wackelte mit ihren rot lackierten Zehen.
»Mhh! Die ist voll komisch«, murmelte ich und erhob mich. Vorsichtig schaute ich in Richtung der Höhle, aber ich sah sie nicht.
»Ausländer sind immer komisch«, sagte Susi und stand auch auf. »Komm! Wir ärgern sie ein bisschen«, flüsterte sie und kicherte.
Die Tiere in meinem Bauch explodierten. Ich knabberte an meinen Nägeln. »Wie denn?«, fragte ich. »Ist sie noch da?«
»Schaun wir mal, komm!«, schlug Susi vor und zog mich durch die Blätter hindurch, raus aus der Höhle. Wir bahnten uns den Weg nach unten.
Tatsächlich. Jetzt sah ich Doroteja. Sie spielte mit einem Stock, zeichnete Kreise in den staubigen Boden. Als wir näherkamen, hörte ich sie leise summen. Jetzt krabbelte es in meinen Armen und ich schüttelte sie. Was hatte Susi nun vor? Ich schielte rüber. Sie grinste, wie immer. Am liebsten würde ich abhauen, etwas lag in der Luft, was mir nicht gefiel.
Es war wie bei einem Unfall. Man will wegschauen, kann aber nicht. Es war wie ein Magnet, der an mir zog. Ich wollte weg, weg von Susi und weg von Doroteja, aber der Magnet im Boden presste mich an sich. Ich konnte mich nicht bewegen.
Was sich dann abspielte, sollte mein Gewissen noch lange Zeit belasten.
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