Kapitel 1 - Bekannte am Feuer

(TW: Drogen)

Fünf Jahre zuvor

Das Feuer knisterte und Rauch tanzte über den Flammen wie Tänzer auf einer Bühne. Die Gespräche der Diebe erfüllten nur gedämpft die angespannte Luft, denn jeder von ihnen wusste was bald kommen würde. Jeder von ihnen...
Dina griff nach Elpis' Hand und riss ihre Freundin für einen kurzen Moment aus ihrer Gedankenwelt...
Bei jedem Überfall war es gleich. Das gleiche Vorgehen, das gleiche Ziel, der gleiche Ausgang. Aber dieses mal war etwas anders. Elpis konnte es spüren. Daran, wie ihr Anführer Norman stillschweigend gegenüber von ihnen saß. Dieses eine mal machte er keine abfälligen Bemerkungen über seine Kameraden oder ihre Sorgen. Er war schon immer ein abgehobenes Arschloch gewesen und, dass er jetzt schwieg, das... das konnte nichts Gutes bedeuten.

„Alles wird gut", flüsterte Elpis trotzdem leise und legte einen Arm um Dina, „Das wird unser letzter Überfall."
„Dann ist es endlich vorbei", murmelte die Diebin und lehnte sich an Elpis Schulter, „Und wir können nach Ningjun. Dann zeige ich dir alles, womit ich aufgewachsen bin."
Elpis lächelte in Dinas lange, blonde Haare hinein.
„Dann kannst du mir endlich die Freiheit zeigen", flüsterte sie leise, „Die Freiheit, die wir uns verdient haben."

Wir könnten zusammen jagen gehen. An den großen Fällen", schlug Dina vor, während sie verträumt auf das Lagerfeuer blickte. Die großen Fälle waren die berühmtesten Wasserfälle des Kontinents. Fünfzig Meter weit fiel das Wasser dort nach unten und hinter den Wassermengen gab es einige Höhlen, die von leuchtenden Pflanzen und Tierarten erhellt wurden. Manche Ningjuni Gruppen, das wandernde Volk aus Ningjun, schlugen in den Höhlen hinter den Wasserfällen für wenige Tage ihr Lager auf, ehe sie weiterzogen. Einmal im Jahr trafen sich dort hunderte Gruppen dieser Wanderer. Sie tauschten Geschichten, Erlebnisse und Waren aus. Einzelne Ningjuni Wanderer, die ihre Gruppe verloren hatten, bekamen dort die besten Chancen um diese bei den großen Fällen wiederzufinden.
„Oder wir wandern zu den tausend Schädeln", Dina drehte ihre Kopf, sodass sie Elpis in die Augen sehen konnte.
„Warum nicht an beide Orte?", meinte Elpis daraufhin, „Wir sind zu zweit und bis wir eine Ningjuni Gruppe finden..."
„...haben wir zumindest etwas Zeit", vollendete Dina den Satz, „Wir können es ja versuchen. Ich sag dir aber gleich, dass der Platz der tausend Schädel verdammt groß ist. Wir werden Monate brauchen um auch nur den ersten zu Gesicht zu bekommen. Und dann nochmal Wochen um den ganzen Platz hinter uns zu lassen."
„Klingt nach einem guten Plan", Elpis zuckte mit den Schultern, und beobachtete, wie die Lichter der Flammen Schatten über Dinas vernarbtes Gesicht warfen, „Ich glaube ich möchte die tausend Schädel zuerst sehen."
„Dann zuerst zu den tausend Schädeln", bestätigte Dina und wandte sich wieder dem Feuer in der Mitte des Diebeslagers zu. „Und wenn wir in Ningjun alles gesehen haben", murmelte Dina nach ein paar Minuten des Schweigens, „Dann könnten wir nach Kois gehen. In deine Heimat."
Elpis runzelte die Stirn, versteifte sich. „Ich weiß nicht, ob Kois so sehenswert ist", brummte sie, „Und meine Familie muss ich auch nicht wiedersehen. Sie kennen mich wahrscheinlich eh nicht mehr."
„Das ist doch Quatsch", protestierte Dina etwas zu laut. Die anderen Diebe sahen kurz zu ihnen auf, weshalb Dina sich erneut sammelte und leiser weiter sprach, „Eltern erkennen ihre Kinder immer. Genauso wie Waldgeister jeden Baum, den sie lieben, unter tausenden gleichen wieder erkennen."

Elpis und Dina saßen stundenlang an dem Feuer und unterhielten sich aneinander gelehnt im Flüsterton darüber, wo ihre Reise sie noch hinführen würde. Erst eine Stunde vor Mitternacht kehrte der letzte Dieb ins Lager zurück. Aurelis huschte leise ans Feuer und setzte sich fast unbemerkt neben Dina.

„Hi", der Kriminelle, der von den meisten nur ›Habicht‹ genannt wurde, lächelte von einem Ohr bis zum anderen. Wahrscheinlich hatte er wieder etwas von seinen eigenen Drogen geraucht. Gelassen reichte er ihnen je ein in dünnes Pergament gehülltes Sparra-Röhrchen. Doch wie immer lehnten sich ab. Aurelis zuckte daraufhin nur mit den Schultern und stieß ein Geräusch aus, das wie ein Grunzen klang, ehe er zum Lagerfeuer ging und sein eigenes Röhrchen vorsichtig in die Flammen hielt, damit die Spitze anbrannte. Als er zu ihnen zurück torkelte erfüllte der süße Duft des Rauschmittels die Luft. Elpis selbst hatte einmal Sparra ausprobiert. Es schmeckte nach einer Mischung aus Zimt, Orangen und Schokolade. Eine süße, sehr geschmackvolle Droge, die eine schnellere und intensivere Wirkungen entfaltete als viele andere Rauschmittel. Schnell verlor man den Sinn für richtiges Gleichgewicht, man fühlte sich leicht, als würde man über den Boden schweben und bei zu schnellen Zügen kam es zu heftigen Halluzinationen, die sich fast real anfühlten. Magisre hingegen waren absolut anfällig auf Sparra. Ein Zug genügte und sie verloren die Kontrolle über ihre eigenen Kräfte, das sagten zumindest Aurelis jedesmal, wenn er einem befreiten Magisregefangenen eine seiner Drogen anbot. Alle Magisre, die ihre Gruppe je befreit hatte, waren bisher zumindest so schlau gewesen abzulehnen und sich nach wenigen Wochen von den Dieben zu verabschieden. Wenn Elpis und Dina das Geld nicht bräuchten, dass sie nach jedem Überfall als Dank bekamen, wären sie auch schon längst abgehauen.

„Du solltest nicht so viel rauchen", riet Dina dem schlaksigen Mann neben ihr, der daraufhin nur noch breiter grinste und eine kleine Rauchwolke ausstieß. Die Worte drangen wahrscheinlich nicht einmal in sein Gehirn ein, während er den nächsten Zug nahm und sich so weit zurücklehnte, dass er von dem Baumstamm flog und Dina fast mit sich riss. Verwirrt richtete sich Aurelis wieder auf und rieb sich am Hinterkopf.

„Schubs mich doch nicht", beschwerte er sich und stand schwankend wieder auf. Er brauchte einige Minuten um überhaupt wieder stehen zu können. Die anderen Diebe, die um das Feuer herum saßen kicherten und Elpis bildete sich ein, dass Norman zumindest lächelte. Doch als sie ihn zu lange ansah verzog das abgehobene Arschloch sein Gesicht wieder zu einer grimmigen Maske. Gerade als sich Aurelis wieder gesetzt hatte, stand Norman auf und stemmte dabei die geballten Fäuste in die Hüften.

„Also dann, wo jetzt alle sitzen", erklärte er streng, „wir haben morgen einiges zu tun. Aber uns können nicht alle auf dem Überfall begleiten."
„Ich leite den Überfall", schrie Aurelis und erhob sich schwankend von dem Baumstamm, während er beide Hände jubelnd in die Luft hob, „Ich bin euer großer..."
Dina zerrte ihn energisch zurück neben sich, wo Aurelis nur verlegen eine Entschuldigung brummte.
Ich führe den Überfall an", verbesserte das abgehobene Arschloch den Dealer, „Und ich werde fünf von euch mitnehmen."

Elpis sah sich unter den versammelten zwanzig Dieben um. Fünf von ihnen bei einem Überfall war eine erschreckend kleine Anzahl und Elpis konnte sich kaum vorstellen, dass sie so Erfolg haben würden. Natürlich war Norman auch schon die letzten zwei Male riskanter vorgegangen, als eigentlich nötig gewesen wäre, aber nur sechs Diebe gegen eine Sklavenkarawane die von mindestens fünf Söldnern beschützt wurde? Das konnte er doch nicht ernst meinen!
Als Elpis ihn musterte, stellte sie fest, dass er trotz allem ganz und gar nicht für Scherze in Stimmung war. Dina umklammerte Elpis' Hand fester. Sie beide wussten, dass sie diesen Überfall brauchten - für alles was sie sich ausgemalt hatten. Aber das war einfach zu riskant, fast schon dumm. Aber welche andere Wahl hatten sie? Sie brauchten Geld und sie brauchten Vorräte und Waffen, um die Reise bis nach Ningjun überstehen zu können.

Norman räusperte sich und unterbrach so die unangenehme Stille, die nur von dem knisternden Feuer gestört wurde, ehe er fortfuhr: „Adlerauge"
Dina schoss wie ein Blitz nach oben. Vor langer Zeit war sie selbst auf die Idee gekommen, jedem Dieb einen Decknamen zu geben, der mehr oder weniger etwas mit Vögeln zu tun hatte, da diese bei den Ningjuni ein heiliges Symbol für Freiheit waren. Anfangs hatte Norman diesen Vorschlag gelangweilt abgelehnt, doch immer mehr Diebe hatten sich selbständig ihre Vogelnamen gegeben und so hatte sich Norman irgendwann gefügt, obwohl er sich selbst geweigert hatte, auch nur daran zu denken einen Decknamen auszusuchen. Dina ging um das Feuer herum und stellte sich mit etwas Abstand neben ihren Anführer.

„Pechvogel"
Jetzt erhob sich ein stämmiger Zwerg von seinem Baumstamm. Er hatte keine Zähne mehr im Mund, vermutlich wurden sie ihm ausgeschlagen oder gezogen. Er sprach kein Wort und niemand wusste, wer Pechvogel war oder wie er wirklich hieß. Da er aber ständig über seine eigenen Füße stolperte, und auch sonst immer das Pech anzog, hatte man ihn irgendwann Pechvogel genannt. Der kleine, bärtige Dieb hatte nicht einmal dagegen protestiert und den Namen einfach, wie immer schweigend, angenommen.

„Buntspecht"
Der schlaksige Kerl stand etwas weiter abseits im Schatten zwischen den Zelten. Jedesmal, wenn Elpis ihn betrachtete, fragte sie sich, wie er es jedesmal aufs Neue schaffte so gut auf dem Schlachtfeld zu sein, wo doch seine Arme und Beine viel zu lang und sein schwankender Gang fast schon unbeholfen war. Buntspecht war der größte in ihrer Gruppe und sie wusste mittlerweile, dass er für mehrfachen Mord in unterschiedlichen Städten und Dörfern gesucht wurde. Angeblich hatte er eine ganze Patrouille einer Stadtwacht abgemetzelt, bevor er gefangen genommen wurde. Man wollte ihn eigentlich einem Gericht überführen und dann umbringen lassen, doch als die Karawane rastete, hatte er sich befreien können und war irgendwie auf Norman und seine Diebesbande gestoßen. Seitdem gehörte er dazu, und obwohl er wie ein riesiger Trottel aussah konnte er weit mehr als er selbst je zugeben würde.

„Habicht und weiße Taube", seufzte Norman.
Aurelis und sie erhoben sich langsam und während Elpis nach wenigen Herzschlägen bei den anderen ausgewählten Dieben stand, schwankte Aurelis noch immer mit großem Bogen an den züngelnden Flammen des Lagerfeuers vorbei.

„Wir brechen morgen bei Sonnenaufgang auf. Wen ich wecken muss, wird nicht bezahlt", warnte Norman und wandte sich zu dem größten Zelt auf der Lichtung um. Er schlug die Planen beiseite und verschloss den Eingang hinter sich. Kurz darauf verließen auch die anderen Diebe das Lagerfeuer. Sie klopften ihren auserwählten Kameraden auf die Schultern und sprachen ihnen Ermutigungen oder Lob zu. Obwohl Elpis vollkommen stumm blieb und versuchte irgendwie positiv zu denken, konnte sie das Gefühl nicht loswerden, dass etwas schief gehen würde. Angespannt betrachtete sie das halbkreisförmige Sklavenbrandmal auf ihrem rechten Handrücken. Dina und sie hatten zu viel überstanden, sodass Scheitern keine echte Option mehr war.

Sie mussten den Überfall schaffen - egal, was es den anderen kosten würde.

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